Beitrag 10: Der Erste Weltkrieg als paradigmatischer Fall kriegsgesellschaftlicher Transformation (IV) – Kriegsgesellschaftliches Dilemma
- Kriegsgesellschaftliches Dilemma, theoretisch betrachtet
- Die russische Februar-Revolution ist eine Manifestation des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas
- Das Hindenburg-Programm stärkt das Deutsche Reich zeitweise militärisch, führt aber letztendlich zum Zusammenbruch der Heimatfront
- Am kriegsgesellschaftlichen Dilemma zerbricht auch das multiethnische Habsburgerreich
- Das kriegsgesellschaftliche Dilemma im Ersten Weltkrieg – Fazit
Große Kriege können eine gewaltige Inklusionsdynamik freisetzen. Das Gefühl der äußeren Bedrohung erzeugt ein affektuelles Gemeinschaftserlebnis, so dass wir von Vergemeinschaftungen im Sinne Max Webers sprechen können. Ein kriegführendes Land stellt sich als patriotische Vergemeinschaftung dar, quasi als (wahrgenommene) Schicksalsgemeinschaft gegen eine Bedrohung von außen, gegen eine „Welt von Feinden“ (Kaiser Wilhelm II). Dieses Vergemeinschaftungserlebnis führt dazu, dass sich interne politisch, soziale und ökonomische Konflikte weitgehend verflüchtigen. Vor allem in den ersten Monaten finden wir in den kriegführenden Ländern eine unvergleichliche Konfliktabstinenz vor (vgl. Beitrag 9). Aber das bleibt nicht so. Die historischen Befunde zeigen, dass in den ersten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs innere Konflikte wie Arbeitskämpfe selten sind. In der zweiten Kriegshälfte hingegen nehmen interne soziale Konflikte dramatisch zu. Für alle kriegführenden Länder beobachten wir einen Anstieg an sozialen Protesten und Rebellionen bis hin zu offenen Revolutionen gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Die Härte, mit der die Konflikte ausgetragen werden, nimmt gegen Kriegsende zu. Die für den Kriegsbeginn so prägenden patriotischen Vergemeinschaftungen zerbrechen. Warum ist das so? Kriegsgesellschaftstheoretisch betrachtet macht sich hier der Effekt einer Strukturkonstellation bemerkbar, die man als „kriegsgesellschaftliches Dilemma“ bezeichnen kann.
1. Kriegsgesellschaftliches Dilemma, theoretisch betrachtet
Als treibende Kraft kriegsgesellschaftlicher Transformation kann der Mobilisierungswettlauf gelten. Um einen Krieg zu gewinnen, müssen die Kriegsgegner, jedenfalls bei annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnissen, bestrebt sein, ein Maximum an Soldaten und Material in größtmöglicher Qualität für den Krieg zu organisieren. Doch im Imperativ der maximalen Mobilisierung für den Krieg steckt ein vertracktes Problem. Die Mobilisierung von Soldaten und Waffen für den Krieg geht zu Lasten der Versorgung vor allem der nichtkämpfenden Bevölkerung. Je mehr Soldaten, Waffen und Ausrüstung mobilisiert werden, desto weniger verbleibt für die Versorgung der nichtkämpfenden Bevölkerung. Der Mobilisierungswettlauf droht daher auf die Dauer die physische und psychische Basis der Kriegsführung zu untergraben. Je stärker an der Mobilisierungsschraube gedreht wird, desto wahrscheinlicher sind ceteris paribus Desertationen, soziale Proteste und Revolutionen. Ich bezeichne dies als kriegsgesellschaftliches Dilemma. Das Dilemma besteht darin, entweder die militärische Kraft nicht voll zu entfalten und somit eine militärische Niederlage zu begünstigen oder elementare Grundbedürfnisse zu vernachlässigen und damit Desertationen, Rebellionen und Revolutionen der erschöpften, hungernden Soldaten und Zivilisten zu riskieren.
Das kriegsgesellschaftliche Dilemma führt im Ersten Weltkrieg zum inneren Zusammenbruch Russlands, Österreich-Ungarns und Deutschlands. Die Revolutionen in Mittel- und Osteuropa gegen Ende des Ersten Weltkriegs und danach lassen sich besser als Folgen des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas verstehen denn als sozialistische Revolutionen im orthodox-marxistischen Sinn. Kriegsgesellschaften sind parasitäre Systeme, welche die physische, psychische und materielle Substanz sukzessive zerstören, deren sie zu ihrer Existenz bedürfen, und das mündet in Desertationen, soziale Proteste und soziale Revolutionen.
2. Die russische Februarrevolution ist eine Manifestation des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas
Die beiden russischen Revolutionen 1917 sind im marxistischen Kontext als „bürgerliche“ und als „proletarische Revolution“ begriffen worden. Es erscheint plausibler, sowohl die Februarrevolution wie die Oktoberrevolution als Konsequenz des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas zu verstehen.
Wie die anderen kriegführenden Länder unterliegt auch Russland dem Imperativ des Mobilisierungswettlaufs. Es ist für diesen aufgrund seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit nicht gut aufgestellt. Hinzu kommt, dass das Zarenreich – wie Großbritannien – zunächst nach dem Prinzip „business as usual“ verfährt und es versäumt, seine Strukturen den Bedingungen eines großen Krieges anzupassen (vgl. Beitrag 8). Das führt 1914 und vor allem im Sommer 1915 zu herben Niederlagen gegen die Mittelmächte. Die russischen Streitkräfte müssen sich aus Russisch-Polen und einem Großteil des Baltikums zurückziehen. Erst danach stellt Russland auf eine Kriegswirtschaft um.
Tatsächlich gelingt es dem Zarenreich, seine Kriegsproduktion rasch zu steigern, allerdings zu Lasten der Konsumgüterproduktion. Der militärische Erfolg bleibt nicht aus. Eine russische Offensive im Sommer 1916 bringt Österreich-Ungarn an den Rand des Zusammenbruchs. Nur knapp kann sich die Armee der Doppelmonarchie mit deutscher Hilfe unter großen Geländeverlusten gegen die Brussilov-Offensive (benannt nach dem kommandierenden russischen General) behaupten. Doch die Mobilisierungsanstrengungen haben ihren Preis: „1917 stellte Russland alle benötigten Haubitzen und drei Viertel der schweren Artillerie selbst her … Die Kehrseite dieser überwältigenden Erfolge war jedoch die Zerstörung der Konsumgüterproduktion und der Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung in den Städten …“.[1]
Zur Achillesferse der russischen Kriegsgesellschaft wird die Eisenbahn, deren Ausbau noch weit hinter den anderen europäischen Großmächten zurückgeblieben ist. Kriegsgesellschaftliches Dilemma bedeutet hier: Entweder liefert die Eisenbahn Soldaten, Waffen und Munition an die Front, dann wird die Versorgung der großen Städte, insbesondere St. Petersburg und Moskau vernachlässigt. In dem Fall droht eine soziale Revolution (Hungerrevolution). Oder die großen Städte werden halbwegs ausreichend versorgt, dann droht der Zusammenbruch der Front. Die russische Führung gibt dem Transport von Kriegsgütern und Soldaten den Vorrang. Russland gehört zu den größten getreideexportierenden Ländern der Erde, aber es fehlen die Transportkapazitäten, um die Front zu beliefern und zugleich die Industriezentren des Reichs zu versorgen. So kann das vorhandene Getreide nur unzureichend in die Städte geliefert werden. Von 1914 bis 1916 sinken die Getreidelieferungen nach St. Petersburg um 44%. „It was in fact shortage of food in St Petersburg which finally broke the back of the Russian Empire”.[2] Die Februar-Revolution in St. Petersburg ist also als eine Revolution der erschöpften, hungernden, kriegsmüden Bevölkerung zu verstehen.
Nach dem Sturz des Zaren versäumt es die neue Provisorische Regierung, seit Anfang Juli 1917 unter Alexander Kerenski, den Krieg zu beenden. So verliert die Regierung Kerenski den Rückhalt in der Bevölkerung. Die von Lenin geführte Partei der Bolschewiki erstarkt, weil sie konsequent eine Beendigung des Krieges ohne Annexionen und Kontributionen fordert. Sie putscht sich am 07. November (25. Oktober im damaligen russischen Kalender) an die Macht. Die neue Sowjetregierung muss im März 1918 dem Frieden von Brest-Litowsk mit extrem hohen Gebietsverlusten zustimmen, weil sie dem deutschen Vormarsch nichts entgegenzusetzen hat. Denn die zaristische Armee hat sich inzwischen aufgelöst.
3. Das Hindenburg-Programm stärkt das Deutsche Reich zeitweise militärisch, führt aber letztendlich zu einem Zusammenbruch der Heimatfront
Die berühmteste Erscheinung im Mobilisierungswettlauf des Ersten Weltkriegs ist das sogenannte Hindenburg-Programm von 1916. Unter dem Eindruck einer schweren militärischen Krise entlässt der Kaiser im August den Chef der Obersten Heeresleitung, General von Falkenhayn, und setzt stattdessen die „Helden von Tannenberg“, Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, an die Spitze. Sie stabilisieren nicht nur die militärische Lage, sie legen auch einen Plan vor, der die Mobilisierung noch weit über das bisher erreichte Maß hinaustreibt: das Hindenburg-Programm. Es enthält folgende Elemente:
- Ausdehnung der Pflichtzeit für den Militärdienst bis zum 50. Lebensjahr
- Militärische Ausbildung von männlichen Jugendlichen vom 16. Lebensjahr an.
- Allgemeine Dienstpflicht für alle Frauen
- Umleitung von Arbeitern aus kriegsunwichtigen Produktionszweigen in die Rüstungsbetriebe
- Verbot vom Wechsel des Arbeitsplatzes
- Schließung aller Universitäten und Technischer Hochschulen
- Bildung eines Obersten Kriegsamtes zur Koordination der Rüstungswirtschaft
Ziel ist es, die Rüstungsproduktion des Deutschen Reichs innerhalb eines Jahres zu verdoppeln.
Kriegsgesellschaftstheoretisch interessant ist, dass die Militärführung ganz selbstverständlich Aufgaben übernimmt, für welche eigentlich die politische Führung zuständig ist. Man hat daher auch von einer Militärdiktatur gesprochen. Es gibt jedoch Gegenkräfte, z. B. die Reichstagsparteien. Das Hindenburgprogramm – umgesetzt im Vaterländischen Hilfsdienstgesetz Dezember 1916 – wird nicht voll realisiert. So werden längst nicht alle Frauen zum Arbeitsdienst eingezogen, und die Universitäten bleiben geöffnet. Dennoch bedeutet es auch so eine gewaltige Kraftanstrengung, weit über das bereits erreichte Maß hinaus. Doch schon bald tritt der Effekt in Kraft, den ich „kriegsgesellschaftliches Dilemma“ genannt habe. Die Mobilisierungskurve steigt, und gleichzeitig sinkt das Versorgungsniveau. Im Winter 1916/17 sterben in Deutschland Hunderttausende an den Folgen von Unterernährung. Die Gründe dafür liegen in der Hungerblockade durch die britische Flotte, aber auch an den extremen Mobilisierungsanstrengungen in der Kriegswirtschaft. Die Lebensmittelrationen betragen nur noch 1.000 kcal pro Kopf gegenüber einem durchschnittlichen Tagesverbrauch von 3.400 kcal vor dem Krieg. Das kriegsgesellschaftliche Dilemma – steigende Mobilisierung für den Krieg, sinkende Versorgung der Bevölkerung in der Heimat – zeitigt bald massive politische und militärische Konsequenzen.
Im Januar/Februar 1918 brechen in den deutschen Rüstungsfabriken Streiks aus, die noch einmal unterdrückt werden können. Doch die Klassenkonflikte nehmen zu; die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit wird in den letzten beiden Kriegsjahren immer ausgeprägter.
Als die deutsche Militärführung nach dem Friedensschluss von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland am 21. März 1918 zur Großoffensive in Frankreich ansetzt, um auch an der Westfront die Kriegsentscheidung zu erzwingen, gelingt den deutschen Streitkräften nach Jahren des Stellungskrieges ein großer Durchbruch. Aber die hungrigen Soldaten plündern zunächst die erbeuteten englischen Vorratslager, anstatt dem geschlagenen Gegner nachzusetzen und auf das 60 km entfernte Paris zu marschieren. Nach und nach laufen sich die deutschen Frühjahrsoffensiven fest, die Kampfmoral sinkt rapide. Sogenannte „Drückebergerei“ nimmt zu, die bald in massenhafte Desertationen übergeht. Der Historiker Werner Deist spricht von einem „verdeckten Militärstreik“. Anfang November werden von der militärischen Führung nur noch zwölf Divisionen als kampfkräftig eingestuft. Ende Oktober soll die deutsche Hochseeflotte zu einer Schlacht gegen die überlegene britische Armada auslaufen, was einem Himmelfahrtskommando gleichkommt. Eine Meuterei der Matrosen bricht aus, die rasch zu einer Revolution eskaliert („Novemberrevolution“). Als der Kaiser an der Spitze seiner Soldaten ins revolutionäre Berlin marschieren will, um die alte Ordnung wiederherzustellen, müssen ihm seine Generäle mitteilen, dass keine loyalen Truppen mehr zur Verfügung stehen. Dem Kaiser bleibt nichts anderes übrig, als ins holländische Exil zu gehen. Ein Millionenheer hat sich innerhalb von Monaten weitgehend aufgelöst.
4. Am kriegsgesellschaftlichen Dilemma zerbricht auch das multiethnische Habsburgerreich
In Österreich-Ungarn, dessen Führung unter Kaiser Franz-Joseph nach dem Attentat auf das Thronfolger-Paar in Sarajewo mit seinem Angriff auf Serbien den Weltkrieg auslöste, war die Industrialisierung nicht so weit verbreitet wie im Deutschen Reich, aber weiter als in Russland.
Auch der Doppelmonarchie gelingt es, in den ersten Jahren des Krieges ihre Rüstungsproduktion enorm zu steigern (vgl. Daten in Beitrag 7). Doch die Arbeitsleistung in der Schwerindustrie geht 1917 und 1918 durch die Abnahme von Facharbeitern und durch Unterernährung deutlich zurück. Die Durchschnittsleistung eines Arbeiters in den Hochofenwerken fällt von 365 t 1916 auf 225 t 1917. Im letzten Kriegsjahr bringen Rohstoffknappheit und Transportprobleme viele Fabriken zum Stillstand.
Ab 1916 verschlechtert sich die Ernährungslage dramatisch. Die Vorräte sind aufgebraucht. Das zur Kampfzone geratene, zeitweise russisch besetzte Galizien, das in den Friedensjahren ein Viertel der Getreideernte des österreichischen Reichsteils beigesteuert hatte, fällt als Getreidelieferant 1915 und 1916 so gut wie aus. Die Ernte im österreichischen Reichsteil beträgt 1916 gegenüber dem letzten Friedensjahr 1913 weniger als die Hälfte. Ein Großteil der noch verfügbaren Pferde wird geschlachtet, Saatgutvorräte werden angegriffen. Die Vorräte in Armeemagazinen sinken von 14 auf zwei Tagessätze.
Bis 1916 hat es aufgrund der noch nicht katastrophalen Versorgungslage, der autoritären Kontrolle der Arbeit und einer noch verbreiteten Loyalität nur wenige Streiks gegeben. In den letzten beiden Kriegsjahren durchziehen hingegen Streikwellen das Land, vor allem im Mai 1917, im Januar 1918 und im Juni 1918. Selbst den Soldaten geht es nicht viel besser; sie erhalten durchschnittlich nur ein bis zwei normale Essenportionen am Tag. An der italienischen Front bitten Soldaten ihre Kommandanten, Stoßtruppunternehmen führen zu dürfen, um sich bei den Italienern etwas Nahrung zu beschaffen. Bezeichnenderweise versprechen die Alliierten österreich-ungarischen Fahnenflüchtigen, erst einmal ausgiebig essen zu dürfen.
Am 15. Juni 1918 tritt die kaiserlich-königliche Armee zu ihrer letzten Offensive gegen Italien an. Nie hat die Militärführung des Habsburgerreichs ein größeres Truppenaufgebot für eine Angriffsoperation mobilisiert, aber die Soldaten sind unterernährt und entkräftet. Um sie zu motivieren, wird es zur Pflicht erklärt, im Falle des Gelingens der Offensive möglichst große Kriegsbeute zu machen und nach Hause zu schicken. Doch die Offensive scheitert und führt zur restlosen Demoralisierung der Soldaten und zur Selbstauflösung des Heeres. Damit ist das Ende der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie besiegelt, die in eine Vielzahl kleiner Nationalstaaten zerfällt. In Deutschland zerbrechen unter dem Druck des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas das Heer und die politische Ordnung, in Österreich-Ungarn das komplette Staatswesen.
Besonders deutlich wird das kriegsgesellschaftliche Dilemma im Spätherbst 1917. In der Schlacht bei Caporetto erringen österreichisch-ungarische und deutsche Einheiten einen großen Sieg über die italienische Armee und bringen etwa 250.000 Gefangene ein (entspricht etwa den deutschen Verlusten im Kessel von Stalingrad 1942/43). Doch diese militärische Kraftanstrengung hat ihre Kehrseite:
„Da die Eisenbahnen der Monarchie wochen- und schließlich monatelang fast nur Truppen und Kriegsmaterial transportiert hatten, was es nicht möglich gewesen, das für den Winter wichtige Brennmaterial und kälteempfindliche Lebensmittel zu transportieren. Von daher war der Sieg über die Italiener gleichzeitig der Grund für eine Hungerkatastrophe in Österreich und den Ausbruch von Revolutionen. Die Doppelmonarchie hatte einen klassischen Pyrrhussieg errungen“.[3] Auch hier also wieder das kriegsgesellschaftliche Dilemma.
5. Das kriegsgesellschaftliche Dilemma – Fazit
- Das kriegsgesellschaftliche Dilemma besteht darin, dass in einem großen, langdauernden, tendenziell totalen Krieg die Regierungen in einem Mobilisierungswettlauf stehen, dabei aber Gefahr laufen, die Versorgung der „Heimatfront“ zu vernachlässigen, was früher oder später in soziale Proteste und Revolutionen mündet. Im umgekehrten Fall riskiert die Führung den Zusammenbruch der Front.
- Im Ersten Weltkrieg sinkt als Kehrseite der exorbitanten Mobilisierungsanstrengungen die Produktion gewerblich-industrieller Konsumgüter, vor allem aber die landwirtschaftliche Produktion. Folglich breiten sich Mangelerscheinungen und Hunger aus.
- Der Krieg beeinträchtigt die Landwirtschaft auf unterschiedliche Weise. Die Bauern im körperlich leistungsfähigsten Alter müssen in den Krieg ziehen. Pferde werden für militärische Zwecke requiriert. Dünger steht nur in bescheidenem Maß zur Verfügung, weil Stickstoff vor allem zum Zweck der Sprengstoffherstellung genutzt wird. So sinkt in Deutschland die Getreideproduktion zwischen 1913 und 1918 um etwa 30%. Dazu kommen Transportprobleme aufgrund von Überlastung der Verkehrsmittel, insbesondere der Eisenbahn. Darunter leidet vor allem die Versorgung der Großstädte mit Lebensmitteln.
- An der „Heimatfront“ der Kriegsgesellschaften mehren sich seit 1915, vor allem seit 1917 Streiks und soziale Proteste in der hungernden Bevölkerung. Es sind vor allem Frauen, welche die Protestaktionen auf die Straße tragen. Die Mobilisierungsanstrengungen für die Front gehen zu Lasten des Konsums in der Heimat. Für Frauen der Großstädte bedeutet dies Unterernährung und stundenlanges Anstehen in Warteschlangen um Brot. Sie unterliegen nicht wie Männer dem militärischen Disziplinarrecht, und die Hemmschwelle der Sicherheitskräfte, auf protestierende Frauen zu schließen, liegt höher als bei Männern. Die Proteste münden in Revolutionen, die dann verstärkt auch von Arbeitern und Soldaten getragen werden (vgl. Februarrevolution 1917 in Russland, Novemberrevolution 1918 in Deutschland).
- An der Front manifestiert sich das kriegsgesellschaftliche Dilemma in „Drückebergerei“ (so der Militärjargon) und Desertationen. „Drückebergerei“ bedeutet, dass Soldaten versuchen, sich der Gefahr an vorderster Front zu entziehen und in rückwärtige Zonen auszuweichen. Bei Desertationen entziehen sich Soldaten komplett dem Militärdienst. 1917 in Russland, in den letzten Kriegsmonaten 1918 in Deutschland, Österreich-Ungarn nehmen Desertationen rapide zu. In Italien desertieren Hunderttausende Soldaten nach der Niederlage bei Carporetto im November 1917. Man kann zuspitzend sagen, dass der Erste Krieg durch Selbstauflösung der Armeen Russlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns endet.
- Den militärischen Zusammenbruch beschleunigen großangelegte Offensiven, die mit sehnsüchtigen Hoffnungen auf den endgültigen Sieg oder wenigstens ein Ende des Krieges begleitet werden. Die Kerenski-Offensive der russischen Provisorischen Regierung im Juli 1917, die Revolution und Nation nach dem großen französischen Vorbild von 1792 verschmelzen soll, läuft sich nach Anfangserfolgen fest, und nun beginnt sich die Armee aufzulösen. Als die deutsche Michael-Offensive im März 1918 trotz bedeutender Geländegewinne nicht zum Erfolg führt, nehmen „Drückebergerei“ und Desertationen mehr und mehr zu. Nach der erfolglosen Offensive am Piave im Juli 1918 setzt der Zerfall des österreichisch-ungarischen Heeres ein.
- Auch in den kriegführenden Staaten der Entente macht sich das kriegsgesellschaftliche Dilemma bemerkbar. In Frankreich führte eine mit großen Hoffnungen begonnene Offensive im Frühjahr 1917 zu ausgedehnten Meutereien von Soldaten. In Turin, dem Zentrum der italienischen Rüstungsindustrie, bricht im August 1917 ein Aufstand aus, der unter Einsatz von Maschinengewehren und gepanzerten Fahrzeugen niedergeschlagen wird. Die gesunkene Moral macht sich auch bei der erwähnten Schlacht bei Carporetto im November 1917 bemerkbar, bei der das italienische Heer ein Drittel seiner Mannschaften verliert. Mit Unterstützung der Verbündeten, durch drakonische disziplinarische Maßnahmen und durch Verzicht auf weitere Offensiven kann die Lage stabilisiert werden.
Am Ende des Ersten Weltkriegs sind Besiegte wie Sieger physisch und psychisch total erschöpft – eine Folge des kriegsgesellschaftlichen Dilemmas. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es zu einer zivilgesellschaftlichen Re-Transformation. Demokratisch-rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Strukturen bilden sich in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich wieder heraus. Allerdings oft mit im Vergleich zur Vorkriegszeit veränderten institutionellen Arrangements. So wird z. B. das Wahlrecht verändert bzw. erweitert (Frauenwahlrecht). Aber es überdauern in der zivilgesellschaftlichen Re-Transformation auch Institutionen, die eigentlich nur provisorisch für die Zeit des Krieges gedacht waren. So wurden in Deutschland im Ersten Weltkrieg auf Initiative der Militärführung auf lokaler und regionaler Ebene Kriegsausschüsse gebildet, die paritätisch von Unternehmervertretern und Gewerkschaftern besetzt waren. Ihre Aufgabe war, Streitfragen zwischen Kapital und Arbeit einvernehmlich durch Kompromisse zu lösen, um den „Burgfrieden“ nicht zu gefährden (vgl. Beitrag 9). Daraus entsteht unter dem Eindruck der Novemberrevolution 1918 das Tarifvertragssystem der Weimarer Republik, welches nach einer Unterbrechung 1933-1945 in der Bundesrepublik erneuert wird.
In den folgenden Beiträgen geht es um die eigentliche Thematik dieses Blogs, die „Zivilgesellschaft im Krieg“. Eine solche nimmt nicht mit eigenen Streitkräften an Kriegshandlungen teil, aber unterstützt eine Kriegspartei mit Waffen, Munition und anderen kriegswichtigen Gütern. In diesem Sinne ist die Bundesrepublik Deutschland seit Februar 2022 eine „Zivilgesellschaft im Krieg“ und nicht mehr, wie zuvor, eine „reine Zivilgesellschaft“ ohne Kriegsbeteiligung und ohne äußere Bedrohung. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die politische Praxis? – Ein interessantes Vergleichsobjekt sind die USA, die 1940/41 vom Status einer „reinen Zivilgesellschaft“ zu einer „Zivilgesellschaft im Krieg“ wechselten.
Literatur
Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich/ Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Schöningh: Paderborn 2014.
Volker Kruse: Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Beobachtungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 198-2014.
Volker Kruse: Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. UVK: Konstanz 2015.
Manfred Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918. Böhlau: Wien 2013.
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949. Beck: München 2003.
[1] Oliver Janz, Der Große Krieg, Campus: Ffm 2013, S. 261.
[2] Alec Nove, An Economic History of the USSR 1917-1991, New and Final Edition, Penguin, London 1992, S. 22.
[3] Manfred Rauchensteiner: Österreich-Ungarn, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hg. von G. Hirschfeld, G. Krumeich, I. Renz, S. 79.