Kriege, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende
Beitrag 12: Zivilgesellschaft im Krieg (II) – Theoretische Überlegungen
Theoretischer Ausgangspunkt unserer Überlegungen war Herbert Spencers Lehre vom „Industrial Type of Society“ und „Militant Type of Society“ aus dem späten 19. Jahrhundert. Spencer, der Sozialdarwinist, hatte die Frage aufgeworfen, wie sich eine (Staats-)Gesellschaft aufstellen müsse, um für den „Kampf ums Dasein“ optimal gewappnet zu sein. Seine Antwort: Wir müssen zwischen Frieden und Krieg als äußeren Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklungen unterscheiden. Unter (absolut) friedlichen Bedingungen ist die Gesellschaft am leistungsfähigsten, welche den Individuen weitreichende Freiheit lasse und den Staat darauf beschränke, Regeln für das Zusammenleben der Individuen zu setzen und ihre Durchführung zu garantieren. So sei z. B. Fürsorge für die Armen nicht Sache des Staates, sondern des karitativen Engagements freier Bürger. Ganz anders hingegen in (großen) Kriegen. Um das Überleben einer Gesellschaft unter Kriegsbedingungen zu gewährleisten, sei ihre Transformation in Richtung starker Staat, zentrale Steuerung insbesondere der Wirtschaft und eine diktatorische Herrschaft notwendig. Denn nur diese Bedingungen ermöglichten eine optimale Allokation der personellen und materiellen Ressourcen (insbesondere Soldaten, Waffen, Munition) für den Krieg (vgl. Beitrag 4).
In diesem Sinne können wir zwei polar entgegengesetzte Idealtypen unterscheiden: eine (reine) Zivilgesellschaft unter absolut friedlichen Bedingungen, und eine Kriegsgesellschaft, die sich unter den Bedingungen eines großen, langdauernden, tendenziell totalen Krieges herausbildet. Als Prototypen einer solchen Transformation wurden die Gesellschaften des Ersten Weltkriegs beschrieben (vgl. Beiträge 7-10).
Die Bundesrepublik der 1990er Jahre und danach, damals „von Freunden umzingelt“ (so der damalige Verteidigungsminister Rühe), entsprach weitgehend dem Typus einer reinen Zivilgesellschaft, ohne (ernsthafte) Verwicklung in Kriege, ohne äußere Bedrohung. Doch spätestens mit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 sieht sich Deutschland wieder mit Krieg konfrontiert. Nicht in dem Sinne, dass es unmittelbar militärisch angegriffen wird und mit eigenen Streitkräften kämpft. Sondern es unterstützt die angegriffene Ukraine mit Waffenlieferungen, Sanktionen gegen den Aggressor und finanziellen Zuwendungen. Deutschland ist nun keine reine Zivilgesellschaft mehr, aber auch keine Kriegsgesellschaft nach Art des Ersten Weltkriegs. Man kann diese Konstellation als eigenen Typus begreifen. Ich nenne ihn „Zivilgesellschaft im Krieg“. Als einen historischen Fall dieses Typus haben wir die USA 1940/41 vorgestellt (vgl. Beitrag 11).
Man kann nun analog zu Spencer fragen: Wie muss eine Zivilgesellschaft institutionell beschaffen sein, welche Politik muss sie betreiben, um sich in einer kriegerischen Welt zu behaupten, ohne an ihr mit eigenen Streitkräften teilzunehmen? Wir bedienen uns dabei zu heuristischen Zwecken der Kategorien, die wir für die Analyse der Kriegsgesellschaften verwendet haben: Mobilisierung(swettlauf), Zentrale Steuerung/Kriegswirtschaft, Tendenziell diktatorische Spitze, Patriotische Vergemeinschaftung und Kriegsgesellschaftliches Dilemma (vgl. die Beiträge 6-10), und beziehen sie auf die Zivilgesellschaft im Krieg.
- Mobilisierung – Eine Zivilgesellschaft im Krieg muss aufrüsten
- Zentrale Steuerung/ Kriegswirtschaft – Keine Planwirtschaft, aber mehr Staat
- Keine diktatorische Spitze – Führung durch Kommunikation
- Keine patriotische Vergemeinschaftung – aber gesellschaftlicher Konsens zur Unterstützung der angegriffenen Kriegsgesellschaft
- Kein Kriegsgesellschaftliches Dilemma – aber prekärer Unterstützungs-Konsens
- Fazit
1. Mobilisierung – Eine Zivilgesellschaft im Krieg muss aufrüsten
Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege führen zu einem Mobilisierungswettlauf. Die Kriegspartei, die ceteris paribus die meisten Soldaten, Arbeitskräfte, Waffen und motivationellen Ressourcen mobilisiert, gewinnt den Krieg. Der Mobilisierungswettlauf wiederum führt zu einer gesellschaftlichen Transformation. Deren Ergebnis ist eine Kriegsgesellschaft.
Die Zivilgesellschaft im Krieg steht mit der verbündeten Kriegsgesellschaft in einer symbiotischen Beziehung. Indem sie die verbündete Kriegsgesellschaft mit Waffen beliefert und mit anderen Leistungen unterstützt (z. B. Sanktionen gegen den Angreifer, Aufklärung, Geheimdienstinformationen, humanitäre Hilfe, finanzielle Hilfe), wird sie mit den Imperativen, denen eine Kriegsgesellschaft unterliegt (vor allem zentrale Steuerung, patriotische Vergemeinschaftung), quasi funktional verzahnt. Diese Verzahnung vollzieht sich über den Mobilisierungswettlauf. Die Zivilgesellschaft im Krieg erhöht die Chancen der verbündeten Kriegsgesellschaft, den Krieg militärisch zu führen, dem Aggressor standzuhalten und den Krieg erfolgreich zu beenden. „Erfolgreich“ heißt in diesem Fall, den Aggressor vom eigenen rechtmäßigen Territorium abzuhalten oder zu vertreiben oder bei ungünstigen Kräfteverhältnissen zumindest die eigene staatliche Existenz/Souveränität zu behaupten, wie z. B. Finnland gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg 1939/40 und 1944/45. Umgekehrt schützt die angegriffene Kriegsgesellschaft die unterstützende Zivilgesellschaft gegen einen potentiellen Aggressor, indem sie im Krieg gegen ihn steht.
Liefert die unterstützende Zivilgesellschaft sachgerecht, steigt die Chance der angegriffenen Kriegsgesellschaft auf eine erfolgreiche Verteidigung. Liefert die unterstützende Zivilgesellschaft nicht sachgerecht, so drohen militärische Krisen und letztendlich die Niederlage. Eine sachgerechte Unterstützung betrifft erstens die Qualität der Waffen. Es sind die Waffen zu liefern, die am nötigsten gebraucht werden. So waren z. B. die 5.000 Helme, welche die Bundesrepublik zu Anfang von Russlands Krieg an die Ukraine lieferte, eher keine bedarfsgerechte Unterstützung. Zweitens die Quantität der Waffen. Dabei ist zu bedenken, dass aufgrund des Mobilisierungswettlaufs in der Regel im Zeitverlauf immer mehr benötigt werden. Drittens die Zeitdimension der Lieferungen: Es ist zum „richtigen“ Zeitpunkt zu liefern. So verzögerte sich die angekündigte Frühjahrsoffensive der Ukraine 2023 um Monate, weil versprochene Lieferungen nicht oder verspätet eintrafen. Dies ermöglichte der russischen Seite, ein kaum zu durchdringendes Minenfeld anzulegen. Viertens die Kontinuität der Unterstützung. Es war z. B. nicht sachgerecht, dass die USA als wichtigster Unterstützungsstaat der Ukraine seine Waffenlieferung aufgrund innenpolitischer Grabenkämpfe für sechs Monate aussetzte.
Die Wahrnehmung des Kriegsgeschehens erfolgt in der angegriffenen Kriegsgesellschaft unmittelbar, in der unterstützenden Zivilgesellschaft mittelbar. Die angegriffene Kriegsgesellschaft ist unmittelbar bedroht; eine Niederlage im Krieg kann den Verlust ihrer staatlichen Existenz bedeuten. Die unterstützende Zivilgesellschaft ist von Kriegshandlungen nicht unmittelbar betroffen. Wohl aber kann langfristig die Niederlage einer unterstützten Kriegsgesellschaft einen Angriff des Aggressors auf die unterstützende Zivilgesellschaft erleichtern/ wahrscheinlicher machen oder deren Souveränität gegenüber dem Aggressor einschränken. Da die Bedrohung der unterstützenden Zivilgesellschaft nur indirekt ist, kann sie leichter übersehen, verdrängt oder in Abrede gestellt werden.
Eine Zivilgesellschaft im Krieg muss aufrüsten. Indem z. B. die Bundesrepublik sich entscheidet, die angegriffene Ukraine zu unterstützen, wird sie von einer reinen Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg. Indem sie versucht, in einem Krieg die Balance zugunsten einer Kriegspartei (Ukraine) zu verändern, ist sie nicht mehr neutral. Entsprechend wird sie von der anderen Kriegspartei als Feind wahrgenommen. Es besteht dann ein doppelter Zwang zur Aufrüstung. Zum einen muss die Kriegsgesellschaft der Ukraine effektiv unterstützt werden, andernfalls wäre die Unterstützung sinnlos. (Im Fall einer Niederlage wäre das Ergebnis mit Unterstützung das gleiche wie ohne Unterstützung, nur mit vermutlich höheren Verlusten). Zum anderen muss die Zivilgesellschaft im Krieg sich selbst gegen einen möglichen Angriff wappnen.
In einer reinen Zivilgesellschaft wird das Militär leicht vernachlässigt. Das ist durchaus adäquat und rational, denn warum sollte eine Gesellschaft in das Militär investieren, wenn sie frei von äußerer Bedrohung ist? So schrumpft bei einer reinen Zivilgesellschaft, wie im Fall der Bundesrepublik Deutschland seit den 1990er Jahren, typischerweise der Anteil der Militärausgaben am BIP. Es werden (zu) wenig neue Waffen und Munition angeschafft. Ein Teil der vorhandenen Waffen verrottet und ist nicht mehr einsatzfähig. Schutzbunker für die Zivilbevölkerung werden vernachlässigt oder aufgegeben. Kurz: Die „Kriegstauglichkeit“ ist nicht mehr gegeben. So wurde wiederholt beklagt, dass die Bundeswehr nur für zwei Tage Krieg führen könnte. Wenn eine äußere Bedrohung besteht, dann muss auch eine Zivilgesellschaft kriegstauglich sein oder werden. Und um kriegstauglich zu werden, muss sie aufrüsten.
Die Zivilgesellschaft im Krieg muss also aufrüsten, um der zu unterstützenden Kriegsgesellschaft effektiv zu helfen, und um die eigene Sicherheit angesichts äußerer Bedrohung zu gewährleisten („Abschreckung“). Denn eine Zivilgesellschaft im Krieg ist, indem sie einer (angegriffenen) Kriegspartei Unterstützung leistet, immer (latenter) äußerer Bedrohung ausgesetzt.
2. Zentrale Steuerung/ Kriegswirtschaft – Keine Planwirtschaft, aber mehr Staat
In der Kriegsgesellschaft ist eine zentrale Steuerung insbesondere in der Wirtschaft notwendig, um die vorhandenen Ressourcen weitestmöglich in den Dienst der Kriegsführung zu stellen. Die Märkte sind ungeeignet für eine totale Mobilisierung. Vielmehr entwickelt sich in beiden Weltkriegen in den großen kriegführenden Staaten eine zentrale Steuerung insbesondere der Wirtschaft. Die Geschichts- und Sozialwissenschaften sprechen von Kriegswirtschaft. Voraussetzung einer zentralen Steuerung ist die Machtkonzentration an der Spitze der Gesellschaft.
Eine Zivilgesellschaft im Krieg, die eine kriegführende Gesellschaft unterstützt, ohne sich mit eigenen Streitkräften zu beteiligen, ist von einem totalen Krieg wie z. B. das nationalsozialistische Deutsche Reich im Herbst 1944 („Volkssturm“) weit entfernt. Die Unterstützung kann dennoch mit gravierenden Kosten verbunden sein. Die Mittel zu ihrer Deckung können durch Steuererhöhungen und/oder Verschuldung aufgebracht werden (nicht aber mit Sparmaßnahmen auf Kosten einkommensschwacher Schichten, s.u.). Die Funktionsfähigkeit des Marktes bleibt bestehen, (anders als in der Kriegsgesellschaft). Man mag hier an die Aufrüstung zur Zeit des „Kalten Krieges“ denken, als die Bundesrepublik 3-4% und mehr des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investierte.
Die Unterstützung der verbündeten Kriegsgesellschaft führt somit nicht zu einer gesellschaftlichen Transformation. Ungeachtet der Kriegsbeteiligung durch Lieferung von Waffen und Munition, durch Sanktionen oder finanzielle Zuwendungen bleibt die Zivilgesellschaft im Krieg Zivilgesellschaft, mit den zentralen Strukturen Markt und Demokratie. Die Märkte unterliegen allerdings, anders als typischerweise in der reinen Zivilgesellschaft, staatlichen Interventionen.
Der Staat muss die Unterstützung der verbündeten Kriegsgesellschaft und die Sicherheit der eigenen Gesellschaft organisieren. Er wird zum Interventionsstaat. Er muss die Rüstungsproduktion organisieren, sei es privat oder staatlich. (Letzteres würde noch einmal zusätzlich das funktionelle Gewicht des Staates verstärken). Er muss aber auch eine Antwort auf feindliche Aktivitäten wie hybride Kriegsführung finden. Er muss beabsichtigte und unbeabsichtigte externe ökonomische Schocks des Krieges abfedern, z. B. die Energieversorgung sichern oder Preissprünge eindämmen. Außerdem muss der Staat darauf hinwirken, dass keine Polarisierung der Gesellschaft eintritt. Er muss interne Konflikte moderieren und auf eine patriotische Einheit hinwirken. Und er muss Sorge tragen, dass die patriotische Einheit nicht zerbricht. Das wird im Zeitverlauf schwieriger (s.u.). Zivilgesellschaft im Krieg bedeutet also im Vergleich zur reinen Zivilgesellschaft mehr Staat und weniger Markt, nicht umgekehrt.
3. Keine diktatorische Spitze – Führung durch Kommunikation
Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege führen zu einer gesellschaftlichen Transformation. Die Mobilisierung für derartige Kriege kann nur zentral gesteuert werden. Zentrale Steuerung setzt wiederum Machtkonzentration an der Spitze voraus. In den Kriegsgesellschaften des Ersten und Zweiten Weltkriegs finden wir daher eine Struktur vor, die wir (tendenziell) diktatorische Spitze genannt haben. Beispiele dafür sind Diktatoren wie Hitler, Stalin, Mussolini oder Staatschefs demokratischer Staaten mit Sondervollmachten für die Kriegszeit, z. B. Lloyd George, Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt. Eine derartige Spitze ist funktional notwendig, um eine adäquate Konzentration der gesellschaftlichen Ressourcen für die Kriegsführung zu gewährleisten.
Eine solche funktionale Notwendigkeit besteht für die Zivilgesellschaft im Krieg nicht. Sie mobilisiert nicht für den totalen Krieg, sondern lediglich zur Unterstützung der verbündeten Kriegsgesellschaft und für den eigenen Schutz. Dennoch benötigt auch eine Zivilgesellschaft im Krieg eine Spitze. Schließlich ist dieser Typus von Zivilgesellschaft in einen Krieg verwickelt und damit zumindest latent einer äußeren Bedrohung ausgesetzt, mit der politisch umzugehen ist. Es ist eine Spitze, die nach innen und nach außen die Einheit der Gesellschaft repräsentiert. Aber es ist eine Spitze ohne diktatorische Vollmachten. Was dieser gegenüber einer diktatorischen Spitze an institutionalisierter Macht fehlt, muss sie durch Kommunikation ersetzen.
Eine Zivilgesellschaft im Krieg (bzw. ihre Führung) muss sich im Klaren sein, dass die Unterstützung einer verbündeten Kriegsgesellschaft für sie selbst mit Belastungen verbunden ist. Aufrüstung bedeutet höhere Staatsausgaben, weniger Konsum und mehr wirtschaftliche und politische Risiken. Die Führung der Zivilgesellschaft muss diese Belastungen ehrlich kommunizieren.
Was muss politische Kommunikation in der Zivilgesellschaft im Krieg leisten?
- Sie muss Vertrauen zur Spitze generieren, vor allem durch sachgerechte Analyse, durch transparente, verständliche Sprache, durch Ehrlichkeit, durch Verzicht auf „Wording“, welches unbequeme Tatsachen beschönigt.
- Sie muss Akzeptanz für die Unterstützung der verbündeten Kriegsgesellschaft schaffen.
- Sie muss den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und innergesellschaftliche Konflikte minimieren.
- Sie muss interne (partei-)politische und gesellschaftliche Konflikte moderieren.
Als klassische Beispiele erfolgreicher politischer Kommunikation durch die Führung, welche die Gesellschaft im Krieg zusammenhält, können Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill im Zweiten Weltkrieg gelten. Dass ehrliche Kommunikation, so schwierig sie in Zeiten sozialer Medien sein mag, in kriegsbetroffenen Gesellschaften durchaus goutiert werden kann, zeigt das Beispiel von Verteidigungsminister Pistorius, der trotz unpopulärer Ansagen („Kriegstüchtigkeit“) als mit Abstand beliebtester Politiker im Land gilt.
4. Keine Patriotische Vergemeinschaftung – aber gesellschaftlicher Konsens zur Unterstützung der angegriffenen Kriegsgesellschaft
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschwinden (scheinbar) Klassenkonflikte, Geschlechterkonflikte, Nationalitätenkonflikte, partiell auch koloniale Konflikte. Diskriminierte Gruppen wie Proletarier, Frauen, ethnische Minderheiten, partiell auch kolonial Beherrschte ordnen sich freiwillig staatlicher Autorität unter, die sie zuvor bekämpft hatten. Im politischen System wird die Differenz zwischen Regierung und Opposition aufgehoben. Kriegskabinette werden gebildet, denen auch Vertreter der (bisherigen) Opposition angehören. Wir haben diese Phänomene unter den Begriff patriotische Vergemeinschaftung gefasst (vgl. Beitrag 9). Eine solche ist funktional notwendig, denn interne Konflikte gefährden den Kriegserfolg, mit möglicherweise katastrophalen Konsequenzen.
Je weniger interne Konflikte in einer Kriegsgesellschaft, desto größer die Chancen auf den Kriegserfolg. Dieser Satz gilt grundsätzlich auch für die Zivilgesellschaft im Krieg. Auch sie sollte interne Konflikte tendenziell minimieren. Aber der Imperativ dazu ist nicht so stark wie in der Kriegsgesellschaft. Eine Zivilgesellschaft im Krieg hält unter bestimmten Voraussetzungen (s.u.) Konflikte aus. Zur historischen Veranschaulichung kann die Bundesrepublik Deutschland im „Kalten Krieg“ dienen. Denn auch sie kannte eine äußere Bedrohung, wenn auch keine kriegerische Verstrickung.
Seit 1955, dem Jahr der Wiederherstellung der vollen inneren und äußeren Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, bildete sich eine weitgehende Einheit zwischen Regierung und Opposition in den zentralen außenpolitischen Fragen heraus. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten galten als potentieller Feind, vor dem man sich in Acht nehmen und schützen musste. Und die Schutzmächte waren die ehemaligen westlichen Gegner des Zweiten Weltkriegs, allen voran die USA. Das änderte sich nicht grundsätzlich durch die „neue Ostpolitik“ Willy Brandts, die wenige Jahre umstritten war, aber bald von der damaligen Opposition mitgetragen bzw. später in der Regierung fortgesetzt wurde. Es gab in Grundfragen der Außenpolitik also eine „patriotische Einheit“, die von allen im Parlament vertretenen Parteien getragen wurde.
Im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konnte von einer „patriotischen Einheit“ weniger die Rede sein, wenn überhaupt. Aber die Konflikte fanden in einem gemeinsam geteilten konsensuellen Rahmen statt. Die Arbeiterschaft nahm nun von einer sozialistisch-kommunistische Utopie im Sinne von Karl Mannheim Abstand (Schwund der KPD, „Bad Godesberg“ 1959 der SPD), was Herbert Marcuse als „eindimensionales Denken“ brandmarkte. Die Unternehmerschaft verzichtete auf das „Herr im Haus-Prinzip“ und erkannte die Gewerkschaften als Tarifpartner an. Die Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit spielten sich in einem geregelten Rahmen ab. Es kam z. B. kaum zu „wilden“ Streiks. Das kann man auf eine Zivilgesellschaft im Krieg übertragen.
Also: Konflikte in der Zivilgesellschaft im Krieg ja, jedenfalls wenn sie folgende Voraussetzungen erfüllen:
- Es muss in der Gesellschaft einen gemeinsam geteilten normativen Grundkonsensus geben (z. B. Grundgesetz).
- Über partikularen Interessen müssen in einer Zivilgesellschaft im Krieg stets die gemeinsamen Sicherheitsinteressen stehen.
- Es muss Regeln der Konfliktaustragung geben, damit Konflikte nicht „aus dem Ruder laufen“.
- Die Konflikte sollten in einer Form ausgetragen werden, welche Kooperation auf lange Sicht nicht beeinträchtigt und Kompromisse nicht ausschließt.
5. Kein Kriegsgesellschaftliches Dilemma – aber prekärer Unterstützungs-Konsens
In großen, langdauernden, tendenziell totalen Kriegen wie im Ersten Weltkrieg mündet der Mobilisierungswettlauf in das kriegsgesellschaftliche Dilemma. Entweder die äußere Front wird gestärkt und die Heimatfront geschwächt oder umgekehrt. Im ersten Fall ist die Konsequenz die militärische Niederlage, im zweiten Fall die Revolution. Das kriegsgesellschaftliche Dilemma kann man historisch beobachten anhand des Ersten Weltkriegs 1917/1918 (vgl. Beitrag 10).
Unterliegt auch eine Zivilgesellschaft im Krieg dem kriegsgesellschaftlichen Dilemma? Immerhin sind ja die Zivilgesellschaft im Krieg und die unterstützte Kriegsgesellschaft funktional miteinander verzahnt. Ob und wie die angegriffene Kriegsgesellschaft ihre Verteidigung gegen eine Aggression organisieren kann, kann maßgeblich von der quantitativ angemessenen, qualitativ passenden Unterstützung mit Waffen und Munition seitens der Zivilgesellschaft im Krieg abhängen.
Dennoch stellt sich der Zivilgesellschaft im Krieg das kriegsgesellschaftliche Dilemma nicht, denn die Belastungen des Krieges sind im Vergleich zur Kriegsgesellschaft eher gering. Allerdings hat die Zivilgesellschaft im Krieg eine dem kriegsgesellschaftlichen Dilemma vergleichbare Schwachstelle.
Die patriotische Vergemeinschaftung der Kriegsgesellschaft funktioniert oft über Jahre. In der Wahrnehmung ihrer Akteure werden Kriegsgesellschaften angegriffen und erscheinen in ihrer Existenz bedroht. Ein Ausstieg einer Kriegsgesellschaft aus dem Krieg ist schwer möglich; wenn doch, dann nur, wenn man ein entsprechendes Arrangement mit dem Feind treffen kann. Erst nach jahrelangen Entbehrungen, unter akuter Erschöpfung wird die patriotische Einheit quasi aufgekündigt, typischerweise seitens der unterprivilegierten Schichten.
Die Zivilgesellschaft im Krieg unterscheidet sich davon in mehrfacher Hinsicht. Es gibt erstens keine patriotische Vergemeinschaftung, sondern eher einen gesellschaftlichen Konsens, dass man der angegriffenen Kriegsgesellschaft beistehen soll, auch mit Waffen und Munition. Dieser Konsens besteht vor allem am Anfang unter dem Eindruck einer Aggression (Beispiel: Russlands Angriff auf die Ukraine). Zweitens kann dieser gesellschaftliche Konsens leicht bröckeln. Der Zivilgesellschaft im Krieg steht es jederzeit frei, ihr Engagement zu beenden. Eine Beendigung des Engagements bringt ihr zumindest auf kürzere Sicht eindeutige Vorteile. Im aktuellen Fall könnte z. B. Deutschland wieder billiges russisches Gas beziehen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft würde gestärkt. Drittens gibt es, anders als in der Kriegsgesellschaft, in der Zivilgesellschaft im Krieg weiterhin das Wechselspiel von Regierung und Opposition und weitgehend unbeschränkte mediale Freiheiten. Eine Opposition hat (zumindest vordergründig) gute Argumente, wenn sie für ein Ende des Krieges und für die Normalisierung der Beziehungen zu Russland agitiert. Sollte allerdings die unterstützte Kriegsgesellschaft dem Aggressor unterliegen, verschlechtert sich die Sicherheitslage der (bisher) unterstützenden Zivilgesellschaft.
Die Sollbruchstelle der Zivilgesellschaft im Krieg liegt also in der Aufkündigung des Konsenses über dies Unterstützung der angegriffenen Kriegsgesellschaft. Von den wirtschaftlichen Konsequenzen der Kriegsunterstützung, z. B. höherer Inflation insbesondere bei Lebensmitteln oder steigenden Energiekosten, sind einkommensschwache Schichten besonders betroffen. Die politische Führung muss, wie in Kriegsgesellschaften, versuchen, den Lebensstandard der einkommensschwachen Schichten zu erhalten. Das ist neben der Aufrüstung der zweite große Ausgabenposten. Die Kosten einer Zivilgesellschaft im Krieg für die Aufrüstung müssen von den einkommens- und vermögensstarken Schichten getragen werden. In den Weltkriegen werden die Kriegskosten vor allem durch höhere Besteuerung der einkommens- und vermögensstarken Schichten sowie mit Kriegsanleihen (Verschuldung) finanziert. Eine (restriktive) Schuldenbremse mag für eine reine Zivilgesellschaft ein geeigneter oder gangbarer Weg sein, für eine Zivilgesellschaft im Krieg ist sie kontraproduktiv. Sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die notwendige Unterstützung der verbündeten Kriegsgesellschaft. Eine marktwirtschaftliche Gesinnungsethik ist nicht nur in Kriegsgesellschaften, sondern auch in Zivilgesellschaften im Krieg fehl am Platz.
6. Fazit
- Eine Zivilgesellschaft im Krieg muss aufrüsten, erstens, um die angegriffene verbündete Kriegsgesellschaft adäquat unterstützen zu können, zweitens, um sich selbst zu schützen. Denn die unterstützende Zivilgesellschaft wird vom Aggressor als Feind betrachtet. „Adäquat unterstützen“ heißt: Der Bedarf der angegriffenen Kriegsgesellschaft muss Maßstab von Qualität und Quantität der Unterstützung sein. Nicht adäquat wäre eine Unterstützungspolitik, die sich an innenpolitischen, z. B. wahltaktischen Gesichtspunkten orientiert, also eine Unterstützung bzw. Nicht-Unterstützung innenpolitisch instrumentalisiert.
- Der Übergang von einer reinen Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg führt nicht zu einer der Kriegsgesellschaft vergleichbaren gesellschaftlichen Transformation. Markt und parlamentarische Demokratie bleiben erhalten. Wohl aber steigt das funktionale Gewicht des Staates in der Gesellschaft. Denn der Staat muss die Aufrüstung organisieren und den Lebensstandard der unteren Einkommensschichten sichern, um den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten. Eine politische Strategie unter dem Motto „Mehr Markt“ ist für eine Zivilgesellschaft im Krieg kontraproduktiv.
- Auch die Zivilgesellschaft im Krieg benötigt eine politische Spitze, welche die Einheit nach innen und außen repräsentiert, weil sie in einen Krieg verwickelt ist und sich mit einer äußeren Bedrohung konfrontiert sieht. Allerdings kann sich die Spitze der Zivilgesellschaft im Krieg nicht auf diktatorische Vollmachten stützen. Die institutionelle Basis verändert sich im Vergleich zur reinen Zivilgesellschaft nicht erheblich. Dieses institutionelle Defizit muss die nichtdiktatorische Spitze durch eine Kommunikation kompensieren, die Vertrauen generiert, Transparenz schafft, Akzeptanz zur Unterstützung der angegriffenen Kriegsgesellschaft fördert und interne Konflikte moderiert.
- Während es für eine Kriegsgesellschaft von existenzieller Bedeutung ist, Konflikte zu minimieren, hält eine Zivilgesellschaft im Krieg Konflikte aus, soweit sie in einem gemeinsam geteilten normativen Rahmen stattfinden (Grundgesetz) und reguliert werden (z. B. Tarifrecht). Dabei ist es wichtig, dass sie sich auf der Ebene eines Sachkonflikts abspielen. Hinsichtlich der Unterstützung der angegriffenen Kriegsgesellschaft ist hingegen ein Konsens zwischen (demokratischen Parteien) notwendig. Grundsätzlich gilt: Je stärker die Bedrohung von außen, desto wichtiger der innere Zusammenhalt.
- Das kriegsgesellschaftliche Dilemma stellt sich einer Zivilgesellschaft im Krieg nicht, wohl aber die Gefahr, dass der Konsens der demokratischen Parteien zur Unterstützung der angegriffenen Kriegsgesellschaft zerbricht. Denn die Unterstützung aufzugeben und sich mit dem Aggressor zu arrangieren ist eine attraktive Option. Aus diesem Hintergrund hat die Dimension von Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit eine deutlich größere Sprengkraft als für eine reine Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft im Krieg muss daher dafür sorgen, dass der Lebensstandard einkommensschwacher Schichten gesichert bleibt. Andernfalls muss sie damit rechnen, dass die Akzeptanz zur Unterstützung der angegriffenen Kriegsgesellschaft schwindet und sich die Kräfte durchsetzen, die sich gegen Unterstützung und für ein Arrangement mit dem Aggressor aussprechen.
Bei alledem geht es nicht um begrifflich-theoretische Spielereien, sondern um die Frage, wie eine Zivilgesellschaft mit kriegerischer Verwicklung und Bedrohung umgeht. Wir leben in einer Welt, in der drei imperiale Mächte erklärtermaßen Krieg als Mittel der Politik begreifen. In einer solchen Welt Politik zu machen, als lebe man noch in einer reinen Zivilgesellschaft, frei von Krieg und äußerer Bedrohung (Beispiel Schuldenbremse), ist fahrlässig. Deutschland und andere europäische Länder müssen im Modus einer Zivilgesellschaft im Krieg agieren.
Der folgende, diesen Blog abschließende Beitrag „Zivilgesellschaft im Krieg III – Die Bundesrepublik Deutschland in der Zeitenwende“ wird u. a. zeigen, dass die „Ampel“-Regierung aus kriegsgesellschaftstheoretischer Sicht besser war als ihr Ruf – jedenfalls im ersten Jahr.