Kriege, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende

Beitrag 13: Zivilgesellschaft im Krieg (III) – Zur Politik der BR Deutschland 2022-2025

von Volker Kruse

10.04./ 21.04.2025

Zeitenwende in einem gesellschaftstheoretischen, gesamtgesellschaftlich bezogenen Verständnis bedeutet hier den Übergang von einer reinen Zivilgesellschaft („von Freunden umzingelt“) zu einer Zivilgesellschaft im Krieg. Die Lage einer solchen ist gekennzeichnet durch äußere Bedrohung und  durch Verwicklung in einen „großen“ Krieg, ohne selbst in einen solchen mit eigenen Streitkräften einzutreten. Dem Typus einer Zivilgesellschaft im Krieg sind die USA 1940/41 zuzuordnen, als sie Großbritannien und die Sowjetunion gegen den deutschen Aggressionskrieg mit Waffen und Munition und anderen kriegswichtigen Materialien unterstützten, bevor sie durch den japanischen Angriff auf den Marinestützpunkt Pearl Harbour am 07. Dezember 1941 selbst zur Kriegsgesellschaft wurden (vgl. Beitrag 11). Aktuell ist es neben anderen europäischen Staaten die Bundesrepublik Deutschland, die den Bedingungen einer Zivilgesellschaft im Krieg unterliegt, indem sie die angegriffene Ukraine gegen Russland unterstützt und folgerichtig von Russland als Feind wahrgenommen wird.

Im vorangegangenen Blogbeitrag (12) wurde thematisiert, wie sich eine Zivilgesellschaft im Krieg theoretisch gesehen bedrohungsadäquat verhält. Die Politik muss vor allem für ein kriegstüchtiges Militär und für eine resiliente Gesellschaft sorgen, welche den mit äußerer Bedrohung verbunden Stress aushält. In diesem Beitrag wollen wir die Zivilgesellschaft im Krieg historisch-empirisch betrachten. Dafür bietet Deutschland unter der „Ampel“-Regierung und danach lehrreiches Anschauungsmaterial. Wir wollen analysieren, inwieweit ihre Politik bedrohungsadäquat, also bedrohungsvermindernd, bzw. nicht bedrohungsadäquat, also bedrohungsverstärkend agiert (hat). Die Prämissen dabei sind, dass (a) eine Bedrohung durch aggressive Imperien tatsächlich besteht und (b) dass eine Unterwerfung unter diese keine akzeptable Option darstellt.

  1. Der Bundeskanzler ruft die Zeitenwende aus
  2. Die „Ampel“-Regierung meistert die Gaskrise
  3. Die „Ampel“-Regierung scheitert an ihrem eigenen Erfolg und der Obstruktion von drei Oppositionen
  4. Nach der Wahl: Lockerung der Schuldenbremse und Sondervermögen – Rückkehr der deutschen Politik in die Wirklichkeit?
  5. Was ist zu tun? – Politik für eine Zivilgesellschaft im Krieg
  6. Ausblick

1.      Der Bundeskanzler ruft die Zeitenwende aus

„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“ (zit. nach: Chr. Schweppe, Zeiten ohne Wende, München 2024, S. 21).

Das sind die Kernsätze von Bundeskanzler Olaf Scholz‘ berühmter Zeitenwende-Rede vom 27. Februar 2022, nur drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, in einer Sondersitzung des deutschen Bundestages. Sie interpretieren Russlands völkerrechtswidrigen Überfall als epochale Zäsur in der europäischen Geschichte.

Der Bundeskanzler übt sich nicht in diplomatischer Zurückhaltung: „Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, der Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer, sie geht uns allen sehr nahe“ (Schweppe 2024, S. 19). Er nennt Russland ein „Unterdrückungsregime“. Er lässt keinen Zweifel, dass Deutschland an der Seite der Ukraine steht.

Das ist, historisch betrachtet, keine Selbstverständlichkeit. Deutschland war seit dem 18. Jahrhundert wiederholt Partner russischer Imperialpolitik. So Preußen und Österreich bei den polnischen Teilungen von 1772, 1793 (ohne Österreich) und 1795, oder bei den polnischen Aufständen von 1830/31 und 1863 oder bei dem Hitler/Stalin-Pakt von 1939. Selbst die neue Ostpolitik der Bundesrepublik ab 1969 kann man als einen partiellen deutschen Sonderweg interpretieren. Wenn Putin hoffen konnte, einen Staat aus der Phalanx des Westens herauszubrechen, dann Deutschland.

Die Rede des Bundeskanzlers ist eine unzweideutige Absage an einen deutschen Sonderweg. Deutschland bleibt Teil des Westens und seiner Bündnissysteme. Der Bundeskanzler kündigt sogar ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro an, um die „kaputt gesparte“ Bundeswehr wehrfähig zu machen.

Deutschland wird über eine Mio. ukrainischer Flüchtlinge aufnehmen, und, bei allen Unzulänglichkeiten, die Ukraine militärisch effektiv unterstützen.

Der Bundeskanzler präsentiert sich in seiner Zeitenwende-Rede mustergültig als deutsche, ja europäische Führungspersönlichkeit. Er füllt an diesem Tag seine Führungsrolle perfekt aus. Auch die CDU/CSU-Opposition applaudiert. Es manifestiert sich so etwas wie eine „patriotische Einheitsfront“ der demokratischen Parteien.

Die Rede des Bundeskanzlers diagnostiziert einen epochalen Bruch, etikettiert diesen treffend („Zeitenwende“), positioniert Deutschland auf der Seite der angegriffenen Ukraine und „des Westens“, schlägt Abhilfe vor (Sondervermögen Bundeswehr) und erzeugt oder repräsentiert einen breiten demokratischen Konsens. Sie kann als voll adäquate Reaktion auf die Bedrohung durch die russische Aggression gelten.

Später wird sich allerdings herausstellen, dass der Bundeskanzler den Erwartungen, die seine fulminante Zeitenwende-Rede vom 27. 02. 2022 weckt, nicht wirklich genügen kann. Bemängelt werden seine Führungsschwäche in der deutschen Regierung und in Europa. Er habe sich bei unbequemen Entscheidungen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine hinter dem amerikanischen Präsidenten Biden versteckt und schwimme, anstatt sich an die Spitze zu setzen, nur im Konvoi der europäischen Unterstützer mit. Die deutsche Unterstützung der Ukraine sei unzureichend und zögerlich gewesen. Inzwischen haben Großbritannien und Frankreich die Führung Europas in der Krise übernommen.

Bemerkenswert gut gelingt es hingegen der Bundesregierung, auf die Einstellung der russischen Gaslieferungen im Sommer 2022 zu reagieren.

2.      Die „Ampel“-Regierung meistert die Gaskrise

Indem Deutschland beschließt, die Ukraine gegen die russische Aggression zu unterstützen, vor allem mit Waffen- und Munitionslieferungen und mit Sanktionen, wird es vom Aggressor als Feind wahrgenommen. Entsprechend wird es zum Objekt einer feindlichen Politik, die darauf abzielt, Deutschland durch Stopp der Gaslieferungen ökonomisch und politisch zu destabilisieren.

Die deutsche Regierung hatte einen Sonderweg in der wirtschaftlichen Kooperation mit Russland beschritten. Gegen den Willen der westlichen Führungsmacht und den Rat europäischer Partner setzte sie unbeirrt auf den Bau einer Pipeline durch die Ostsee, welche die deutschen Gasimporte weiter steigern sollte. Bereits vor dem Krieg lag die deutsche Versorgungsquote mit russischem Gas bei über 50%. Erst einen Tag vor Russlands Angriff auf die Ukraine stoppte die Bundesregierung Nord Stream 2.

Die Frage nach dem Beginn der russischen Voll-Invasion ist: Soll die Bundesrepublik weiterhin Erdgas aus Russland beziehen? Dann würde sie immer noch die russische Kriegskasse füllen. 2021 zahlte Deutschland für Öl und Gas fast 20 Milliarden Euro an Russland. Einige Oppositionspolitiker und Wirtschaftswissenschaftler plädieren für eine Einstellung der Lieferungen aus Solidarität mit der Ukraine. Der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister lehnen jedoch ein Sofort-Embargo ab. Der Wirtschaftsminister erklärt, er könne nur Maßnahmen verantworten, die Deutschland auch in der Lage sei durchzuhalten. Ein Gasverzicht hätte schwerste wirtschaftliche und damit auch gesellschaftliche Folgen – eine richtige Einschätzung, wie sich bald herausstellen wird.

Die Bundesregierung verfolgt die Strategie, vorerst weiterhin russisches Gas beziehen und gleichzeitig zu versuchen, sich möglichst bald aus der bisherigen Abhängigkeit zu befreien. Doch die russische Führung denkt nicht daran, dabei zuzuschauen, sondern setzt Gasentzug als Waffe gegen Deutschland ein. Zunächst nimmt sie Deutschlands größten Gasspeicher im niedersächsischen Rehden in Visier. Dieser ist von einer Vorgängerregierung an Gazprom Germania, der deutschen Tochter des bekannten russischen Gaskonzern verkauft worden. Gazprom hat ihn bis auf eine geringe Restmenge leerlaufen lassen. Der Wirtschaftsminister entzieht Gazprom Germania dem Zugriff Moskaus und stellt das Unternehmen unter die Treuhandschaft der Bundesnetzagentur.

Die russische Regierung verringert die Gasexporte nach Deutschland zunächst auf 40%, dann auf 20% und schließt am 30. August Nord Stream 1 komplett.

Die Frage ist nun: Wie kommt Deutschland durch den nächsten Winter? Modellrechnungen z. B. der Deutschen Bank sehen eine Gasmangellage im ausgehenden Winter als das wahrscheinlichste Szenario. Die Bundesregierung entwickelt eine Fünf-Säulen-Strategie, mit der ein Notstand vermieden werden soll: (1) Senkung des Verbrauchs um mindestens 20 %; (2) Mehr Einfuhren von Pipelinegas aus Norwegen; (3) Mehr Einfuhren von Flüssiggas (LNG) über Belgien und die Niederlande; (4) Bau eigener LNG-Terminals an Nord- und Ostsee, die noch im Winter in Betrieb genommen werden sollen; (5) Verringerung der Gasexporte im europäischen Gasverbund.

Es gelingt, ungewöhnlich rasch LNG-Terminals zu bauen („Deutschland-Tempo“) und Gasexporte aus anderen Ländern zu steigern. Deutschland kauft zu Höchstpreisen Gas auf dem Weltmarkt, denn noch ist unsicher, ob die Vorräte für den Winter reichen. Der Energiekonzern Uniper gerät aufgrund der extrem hohen Gaspreise auf dem Weltmarkt in eine schwere finanzielle Schieflage und wird durch staatliche Beihilfen von 13,5 Mrd. Euro gerettet. Die Gaspreise steigen rapide, und damit auch die Inflation. Beobachter befürchten einen „heißen Herbst“.

Dagegen setzt die Bundesregierung den „Doppelwumms“ (Bundeskanzler Scholz). Er beinhaltet eine Energiepreisbremse für Strom und Gas, für die 200 Mrd. Euro bereitgestellt werden, eine Energiepreispauschale von 300 Euro für Arbeitnehmer und Rentner, 200 Euro für Studierende. Wo Unternehmen und Gewerkschaften zusätzliche Zahlungen vereinbaren, bleiben bis 3.000 Euro steuerfrei. Bürgergeldempfänger werden mit einer Erhöhung um ca. 50 Euro monatlich bedacht. Eine Wohngeldreform, die auch Heizkosten berücksichtigt, hebt die Zuwendungen für sozial schwache Mieter erheblich an. Diese Maßnahmen stärken die Resilienz der deutschen Gesellschaft.

Stillgelegte Kohlekraftwerke werden reaktiviert, um Ausfälle von russischem Gas teilweise zu kompensieren. Der Gasverbrauch in der zweiten Hälfte 2022 sinkt um ein Viertel gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Die „Ampel“-Regierung ist es gelungen, Putins Kalkül, durch totalen Stopp der Gaslieferungen ein wirtschaftliches und politisches Chaos anzurichten, zu vereiteln. Sie hat die Souveränität des deutschen Staates über die Gasspeicher hergestellt. Mit einer Kombination verschiedener Maßnahmen – neue Lieferanten, neue Terminals, Energiesparmaßnahmen, Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerkend u. a. m. – schafft sie es, eine schwerwiegende Mangellage zu vermeiden. Durch massive Subventionen hat sie sichergestellt, dass Unternehmen und private Verbraucher Energie zu erschwinglichen Preisen beziehen konnten. Ein Zusammenbruch der Wirtschaft, besonders ihrer energieintensiven Wirtschaftszweige, bleibt aus. Ebenso der befürchtete „heiße Herbst“. Im Januar 2023 verkündete Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller: „Wir sind sehr optimistisch, dass wir in diesem Winter keine Gasmangellage mehr zu befürchten haben“.

Die erste Runde im Wirtschaftskrieg mit dem russischen Aggressor um die Gasversorgung ging also an die Bundesrepublik Deutschland. Dies war nur möglich, weil die Regierung sachgerechtes, pragmatisches, rasches Krisenmanagement betrieb, begleitet von einer in sicherheitsrelevanten Fragen konstruktiven Opposition. Die Politik der Bundesregierung in der Gasmangelkrise kann also als voll bedrohungsadäquat gelten.

3.      Die „Ampel“-Regierung scheitert an ihrem eigenen Erfolg und der Obstruktion von drei Oppositionen

Zum Wendepunkt in der Geschichte der „Ampel“ – Regierung gerät das geplante Gebäudeenergiegesetz („Heizungsgesetz“), von dem ein Entwurf im Februar 2023 an die Bild-Zeitung „durchgestochen“ wird.

Bereits die Vorgängerregierung hatte 2020 in ihrem „Klimaschutzprogramm 2030“ nach vier Jahren Beratung ein „Gebäudeenergiegesetz“ beschlossen. Es setzte für fossile Heizungen ein Verfallsdatum von 30 Jahren an, allerdings mit vielen Ausnahmen. Nach 2026 sollten keine neuen Ölheizungen mehr eingebaut werden. Die „Ampel“-Parteien einigen sich Ende 2021 (also noch vor der russischen Invasion) in ihrem Koalitionsvertrag darauf, dass ab 01. Januar 2025 jede neu eingebaute Heizanlage auf der Basis von 65% erneuerbarer Energie betrieben werden solle. Unter dem Eindruck einer drohenden Gasmangel-Krise beschließt die neue Regierung im März 2022, den Termin von 2025 auf 2024 vorzuziehen. Der Sinn des geplanten Gesetzes ist nun, möglichst rasch die Abhängigkeit vom russischen Gas zu beenden.

Doch im Februar 2023 ist die akute Gasmangellage vorbei. Sie entschwindet rasch der öffentlichen Aufmerksamkeit – beinahe so, als hätte sie es nie gegeben. Nachdem ein Entwurf des geplanten Gebäudeenergiegesetzes bekannt worden ist, entspinnt sich ein ganz anderer Diskurs. Es geht nicht mehr um energetische Unabhängigkeit, um Energieversorgung, um Einsparung von Gas, sondern um Freiheit im Heizungskeller, gegen die Bevormundung durch einen übergriffigen, ideologisch geleiteten Staat, der nicht entscheiden dürfe, welche Heizungen eingebaut werden und welche nicht.

Die Politik des ersten Regierungsjahres wird, bevor im Februar 2023 der Streit über das Heizungsgesetz beginnt, bei Wahlen und Umfragen durchaus goutiert, aber unterschiedlich zugemessen. Der Wirtschaftsminister erscheint als Gesicht des erfolgreichen Krisenmanagements. Seine Beliebtheitswerte in Umfragen erreichen einsame Höhen und übertreffen bei weitem die des amtierenden Kanzlers. „Die Grünen“ steigen in Umfragen auf über 20% und sind auch bei Landtagswahlen erfolgreich (z. B. NRW und Schleswig-Holstein), anders als die SPD, anders als die FDP, deren Werte um 5% dümpeln.

Die liberale Partei schließt aus diesen Ergebnissen, dass sie ihren Markenkern, Freiheit und Markt, in der Regierung mit ungeliebten Koalitionspartnern vernachlässigt habe. Jetzt sei „FDP pur“ gefragt. Sie versteht sich fortan erklärtermaßen als Opposition in der Regierung, um eine in ihrem Verständnis linksideologisch motivierte Politik zu verhindern. Auch andere Parteien beteiligen sich an einer Kampagne gegen den Wirtschaftsminister und sein Ministerium. Die Wohnungsbauministerin, für das Gebäudeenergiegesetz ebenso verantwortlich wie der Wirtschaftsminister, taucht ab. Der Bundeskanzler lässt den ungeliebten Rivalen im Regen stehen.

Nun handeln Akteure nicht mehr aus staatspolitischer Verantwortung, sondern getrieben von innenpolitischem, parteiegoistisch motiviertem Kalkül. Man kann sagen: Mit dem Beginn des Streits um das Gebäudeenergiegesetz wechselt die deutsche Politik vom Modus einer Zivilgesellschaft im Krieg in den Modus einer reinen Zivilgesellschaft. Denn der Blick für die äußere Bedrohung geht weitgehend verloren. Gewiss, da ist immer noch der Diskurs von Konfliktforschern, Politikwissenschaftlern, Fachpolitikern, Militärs und Geheimdienstlern. Das von Ihnen relativ einheitlich vertretene Narrativ besagt: Russland, Nachfolgestaat der untergegangenen Sowjetunion, sei zu einer aggressiven imperialen Macht geworden. Es habe einen Krieg vom Zaun gebrochen, um die Ukraine zu unterwerfen. Seine imperialen Ambitionen gingen über die Ukraine hinaus. Sie zielten letztendlich auf die politische Hegemonie Russlands in Europa ab. Schon gegen Ende des Jahrzehnts könne Russland NATO-Territorium angreifen. Aber dieser Diskurs wird im innenpolitischen Alltag weitgehend ignoriert. Dort betreibt man Politik, als gäbe es keinen russischen Angriff auf die Ukraine und keine Bedrohung Deutschlands und Europas.

In einer Zeit, in der gesellschaftlicher und politischer Zusammenhalt gefragt ist, leistet sich die Bundesrepublik Deutschland drei Oppositionen: eine „normale“ demokratische Opposition (CDU/CSU), eine Systemopposition (AfD) und eine Opposition in der Regierung (FDP). (Von der Partei „Die Linke“ wird hier aufgrund ihrer damaligen Marginalität abgesehen). Die CDU/CSU-Opposition erwirkt durch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht ein Verbot, die Mittel eines Sondervermögens zur Bekämpfung der Corona-Folgen für andere Zwecke umzuwidmen. 2022 hatte sie das 100-Mrd.-Sondervermögen für die Bundeswehr mitgetragen und überhaupt erst ermöglicht. Die Regierungsparteien SPD und Grüne plädieren für eine Aufhebung oder Lockerung der Schuldenbremse, um in die Aufrüstung der Bundeswehr und die Sanierung der maroden Infrastruktur investieren zu können. Die drei Oppositionen sperren sich gegen jede Reform der Schuldenbremse. Genau wie Privatpersonen müsse der Staat mit dem Geld zurechtkommen, das er einnehme. Nun, wo massive Investitionen in eine erklärtermaßen kriegsuntaugliche Bundeswehr und in eine marode Infrastruktur dringend gefordert sind, gerät die Schuldenbremse zum heiligen Gral der deutschen Politik. Von „staatspolitischer Verantwortung“ keine Spur. Stattdessen ein übles Schauspiel der Selbstzerfleischung der sog. demokratischen Mitte. Ohne Neuverschuldung in großem Stil ist die Regierung gegenüber der Bedrohung von außen nicht handlungsfähig.

Am Ende scheitert die „Ampel“-Regierung an drei Mrd. Euro zur Unterstützung der Ukraine – das sind drei Promille im Vergleich zu den gigantischen Summen, die wenige Monate später im Raum stehen werden. Zwei wertvolle Jahre, in denen man sich auf absehbare Bedrohungslagen hätte vorbereiten können, werden fahrlässig verschenkt.

Für Defizite bei der Unterstützung der Ukraine sowie bei der Aufrüstung und Ertüchtigung der Bundeswehr ist allerdings die „Ampel“-Regierung selbst verantwortlich, vornehmlich der Bundeskanzler persönlich. Beispiel: Um dem Personalmangel zu begegnen, schlägt der populäre Verteidigungsminister vor, die Wehrpflicht nach dem sogenannten „Schwedischen Modell“ einzuführen. Alle 18jährigen Frauen und Männer sollen angeschrieben werden, und aus den Wehrtauglichen wird die Zahl eingezogen, welche die Bundeswehr benötigt.  Diese Initiative blockt der Bundeskanzler im Sommer 2024 mit der Begründung ab, die Bundeswehr habe kein Personalproblem. Obwohl ihr Personal weit unter der Sollstärke liegt.

Die deutsche Politik der Jahre 2023/24 war also realitätsfern und bedrohungsinadäquat. Wie konnte es zu diesem Desaster kommen? Abgesehen von persönlichen Eigenheiten der beteiligten Akteure gab es einen strukturellen Grund: Sobald die akute Bedrohung durch Gasmangel gebannt war, fielen viele politische Akteure in die vertrauten Muster einer reinen Zivilgesellschaft zurück. Äußere Bedrohungslagen erfordern innere Geschlossenheit, die Befindlichkeiten einer Zivilgesellschaft ohne äußere Bedrohung jedoch nicht. Anders als in der Kriegsgesellschaft ist es in der Zivilgesellschaft im Krieg relativ leicht, äußere Bedrohungen zu übersehen, zu ignorieren, zu verdrängen. Denn in ihr ist der Krieg lebensweltlich kaum wahrnehmbar.

4.      Lockerung der Schuldenbremse und Sondervermögen für Infrastruktur – Rückkehr der deutschen Politik in die Wirklichkeit?

Oppositionsführer Merz ist sich der Bedrohungslage bewusst und scheint auch eher als der amtierende Bundeskanzler bereit, der Bedrohung entgegenzutreten und die Ukraine stärker zu unterstützen. Aber er hält an der Schuldenbremse fest. Die Aufrüstung und die Sanierung der Infrastruktur, so der Kanzlerkandidat im Wahlkampf, solle aus Sparmaßnahmen insbesondere beim Bürgergeld finanziert werden. Außerdem verspricht er Steuererleichterungen im hohen zweistelligen Milliardenbereich, die vornehmlich den Beziehern hoher Einkommen zugutekommen würden.

Wenige Tage nach den Wahlen folgt die Wende um 180 Grad. Nun befürwortet er eine Lockerung der Schuldenbremse und ein schuldenfinanziertes Sondervermögen zur Sanierung der maroden Infrastruktur. Insgesamt geht es um eine Verschuldung von einer Billion Euro. Merz begründet seine Kehrtwende mit der disruptiven amerikanischen Politik nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA.

Denn inzwischen hat sich die Trump-Administration die russische Sichtweise zum Krieg in der Ukraine weitgehend zu Eigen gemacht. Sie übt Druck auf die ukrainische Regierung aus, einem De-facto-Diktatfrieden zuzustimmen. Sie verhandelt mit Russland über ein Ende des Krieges, die angegriffene Ukraine und Europa bleiben außen vor. Verteidigungsminister Hegseth erklärt, die Europäer müssten in Zukunft für ihre eigene Sicherheit sorgen. Vizepräsident Vance kündigt auf der Münchener Sicherheitskonferenz die Wertegemeinschaft des Westens auf. Bei einem Treffen in Washington, das zu einer Unterzeichnung eines Vertrages zur Ausbeutung ukrainischer Rohstoffe angesetzt worden ist, wird Präsident Selensky öffentlich gedemütigt. Als wenige Tage später europäische Politiker Vorschläge zu einem Teil-Waffenstillstand in der Ukraine vorlegen, ist aus Moskau zu hören, was aus Europa komme, interessiere nicht. Der einzige relevante Gesprächspartner seien die USA.

Dies alles und anderes mehr lässt die Politik in Deutschland (und Europa) endlich aufwachen. Was die Regierungsparteien SPD und Grüne zwei Jahre lang nicht gegen die drei Oppositionen durchsetzen konnten, ein schuldenfinanziertes Aufrüstungs- und Infrastrukturprogramm, wird nun von der bisher größten Oppositionspartei in den Sondierungen für eine neue Regierung akzeptiert.

Das eine Billion schwere Finanzpaket kann als die adäquate Reaktion auf die aktuelle äußere Bedrohungslage gelten. Es verschafft der Bundesrepublik die unerlässlichen Finanzmittel für die notwendige Aufrüstung und die Unterstützung der Ukraine. Die Herstellung einer voll funktionsfähigen Infrastruktur kommt dem zivilen Leben und der Kriegstüchtigkeit gleichermaßen zugute. Es ist ein Signal nach außen, dass Deutschland und Europa willens sind, sich gegen eine mögliche Aggression zu verteidigen, und nicht bereit sind, auf Mitsprache in Europa betreffenden internationalen Entscheidungen (Krieg Russlands gegen die Ukraine) zu verzichten. Ein großer Wurf also, geeignet, der äußeren Bedrohung entgegenzuwirken – vorausgesetzt, es gelingt, durch notwendige, europäisch abgestimmte Strukturreformen im Beschaffungswesen mit den bereitgestellten Mitteln eine kriegstüchtige Bundeswehr zu formen.

Das ist die Perspektive der Außen- und Sicherheitspolitiker, der Militärs und derjenigen, die sich in staatspolitischer Verantwortung sehen. Aber es gibt auch eine andere Perspektive auf die Koalitionsverhandlungen, die der „gewöhnlichen“ Parteipolitiker, die nicht Sicherheitsexperten sind. Für sie ist es wichtig, wieviel vom eigenen Programm durchgesetzt werden kann, für das sie im Wahlkampf geworben haben. Eine gute Politik ist aus ihrer Sicht diejenige, die ein Maximum ihres Parteiprogramms durchsetzt – und umgekehrt. Parteiprogramme orientieren sich aber nicht an Imperativen äußerer Bedrohung, sondern eher an dem, was ein möglichst hohes Wahlergebnis erwarten lässt. Im Fall der CDU/CSU (und nicht nur bei ihr) gibt es eine krasse Differenz zwischen Wahlprogramm und den Imperativen äußerer Bedrohung. Entsprechend groß ist der Unmut in Reihen der CDU/CSU, nachdem die Ergebnisse zum großen Finanzpaket bekannt geworden sind. Man sei von der SPD über den Tisch gezogen worden. CDU/CSU-Politiker fordern Kompensationen im weiteren Verhandlungsverlauf. Hier wird immer noch parteitaktisch gedacht: Welche Partei setzt ihre Positionen durch? Und nicht: Welche Politik ist am ehesten der äußeren Bedrohung angemessen?

Die (designierte) neue Regierung scheint nur partiell bedrohungsadäquat zu handeln. Sie übersieht, was man in den Weltkriegen „Heimatfront“ nannte: die notwendige Resilienz des zivilen, nichtmilitärischen Teils der Gesellschaft. Es scheint bei den Koalitionsverhandlungen nicht um die Frage zu gehen: Wie machen wir die deutsche Gesellschaft resilient gegen äußere Bedrohungen? Sondern: Wie bringen wir möglichst viele Positionen der eigenen Partei durch? Entsprechende Erwartungen werden jedenfalls von unteren Parteigliederungen geäußert. Dass Koalitionäre in spe zumindest noch partiell im alten Denken der reinen Zivilgesellschaft verhaftet sind, zeigen Geschenke an die eigene Wählerklientel wie Agrardiesel, Pendlerpauschale, Mütterrente, Steuersenkung für die Gastronomie wie überhaupt der Ruf nach Steuersenkungen. Steuererhöhungen zur Finanzierung für außergewöhnliche Aufwendungen werden, anders als der Solidaritätszuschlag der Regierung Kohl für die Kosten der nationalen Einheit, nicht in Erwägung gezogen. Die Frage der gesellschaftlichen Resilienz, die ebenso wichtig ist wie die einer wehrfähigen Bundeswehr, stellt sich in den Koalitionsverhandlungen anscheinend nicht.

5.      Was ist zu tun? – Politik für eine Zivilgesellschaft im Krieg

Ein kriegstüchtiges Militär und eine resiliente (zivile) Gesellschaft bilden die beiden unverzichtbaren Fundamente einer Zivilgesellschaft im Krieg. Politik in ihr muss sich daran messen lassen, ob und wie sie beide Fundamente stärkt.

Deutschland und Europa im Schraubstock zwischen russischer und US-amerikanischer Imperialpolitik: Es zeichnet sich eine neue Weltordnung ab, in der drei expansive Imperien (also Russland, China, USA), die sich immer weniger an internationales Recht gebunden fühlen, bereit sind, Krieg und Gewalt als Mittel der Politik einzusetzen.

In dieser neuen Welt stehen Deutschland und Europa vor folgender Alternative: Entweder sie machen sich kriegstüchtig, um ihre staatliche Souveränität und Freiheit ihrer Bürger zu bewahren. Sie müssten also den Imperien militärisch einigermaßen ebenbürtig werden. Oder sie degradieren sich selbst zu deren Verfügungsmasse.

Was das bedeutet, kann man aktuell am Schicksal der Ukraine sehen. Zwei Imperien beanspruchen, über das Schicksal der Ukraine zu entscheiden – ohne die ukrainische Regierung, ohne die Europäer. Sie teilen die Ukraine in Interessensphären auf, wobei – so sieht es derzeit aus – die russische Sphäre direkt annektiert wird, die amerikanische Sphäre „nur“ ökonomisch ausgebeutet wird. Was der Ukraine widerfährt, kann man als Menetekel für Europa verstehen.

Deutschland und Europa müssen kriegstüchtig werden: Eine Zivilgesellschaft im Krieg muss kriegstüchtig werden, denn auch sie (und nicht nur die unterstützte Kriegsgesellschaft) durch den Aggressor bedroht – zumindest indirekt. Das gilt aktuell für Deutschland und Europa, die nun ohne den vertrauten Schutz der USA dastehen. Kriegstüchtig werden heißt: a) Ausbildung einer kampffähigen Truppe; b) Aufrüstung mit Waffen und Munition; c) Abstimmung und Standardisierung europäischer Waffensysteme; d) Bedrohungsadäquater Mindset. Denn die beste Ausrüstung nützt wenig, wenn in der Gesellschaft nicht genügend Bereitschaft da ist, diese auch zur eigenen Verteidigung einzusetzen. Zweck des Strebens nach Kriegstüchtigkeit ist aber auch, in einer zunehmend imperial bestimmten Welt Deutschland und Europa ein stärkeres Gewicht in der internationalen Politik zu eröffnen – zugunsten von Demokratie, Völkerrecht und Menschenrechten.

Anders als im Fall aggressiver Imperien bedeutet Kriegstüchtigkeit für die Zivilgesellschaft im Krieg nicht, Krieg als Mittel der Politik zu akzeptieren. Zweck der Ertüchtigung für den Krieg ist es vielmehr, einen Krieg zu vermeiden – durch Abschreckung potenzieller Aggressoren. Abschreckung erfolgt, indem eine Zivilgesellschaft im Krieg glaubwürdig signalisiert, dass sie sich gegen Aggressionen verteidigen kann und will. Aggressoren beobachten die Welt nach dem Schema stark/schwach. Eine Politik der Schwäche verstärkt die Bedrohung durch Aggressoren. Eine Politik, die darauf ausgerichtet ist, Kriegstüchtigkeit zu maximieren, minimiert die Bedrohung durch Aggressoren.

Der Primat der Politik muss sich auf die äußere Bedrohung beziehen: Grundsätzlich gilt für eine Zivilgesellschaft im Krieg, dass ihr primärer Fokus darauf liegen muss, die äußere Bedrohung abzuwehren. M. a. W.: Sie muss kriegstüchtig werden. Kann sich eine Gesellschaft nicht gegen äußere Bedrohung schützen, gerät sie unter die Hegemonie einer imperialen Macht. Sicherung gegen imperiale Bedrohung ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Alle anderen Belange, z. B. die Wirtschaft, müssen sich dem Primat der äußeren Sicherheit unterordnen.

So muss man die Wirtschaftspolitik von der Sicherheitspolitik her denken und nicht umgekehrt. Ein Nebeneffekt der Aufrüstung ist: Diese Investitionen stimulieren die Wirtschaft und schaffen neue Arbeitsplätze. So z. B. im nationalsozialistischen Deutschland der 1930er Jahre und den USA im Zweiten Weltkrieg, als Millionenheere von Arbeitslosen von der Bildfläche verschwanden.

Die Koalitionäre haben die Verbesserung von Deutschlands internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu einem zentralen Ziel ihrer Politik erklärt. Aber was bedeutet in einer Welt imperialer Großräume, die zu einem guten Teil politisch-militärisch bestimmt werden, internationale Wettbewerbsfähigkeit?

Primat der äußeren Bedrohung bedeutet auch, dass keinesfalls Leistungen für die zu unterstützende Kriegsgesellschaft (hier: Ukraine) nach innenpolitischen Gesichtspunkten diskutiert und entschieden werden dürfen – z. B. für eine Selbstinszenierung als „Friedenskanzler“.

Die Resilienz einer Zivilgesellschaft im Krieg muss gestärkt werden: Ebenso wichtig wie die Aufrüstung ist die Resilienz einer Zivilgesellschaft im Krieg.

Eine Kriegsgesellschaft und mit Abstrichen eine Zivilgesellschaft im Krieg sind auf die Minimierung interner Konflikte angewiesen.  Kriegsgesellschaften können an der äußeren Front scheitern, aber auch an der sogenannten „Heimatfront“. Sie scheitern an der Heimatfront, wenn die Grundbedürfnisse der einkommensschwachen Schichten (Ernährung, Wohnen) nicht gesichert sind und wenn die Verteilung der kriegsbedingten Lasten als ungerecht empfunden wird. Solidarität ist in der Zivilgesellschaft im Krieg „funktional“ und hat einen höheren Wert als in der reinen Zivilgesellschaft. In puncto individuelle Freiheit verhält es sich umgekehrt.

Kriege werden in der Regel durch Verschuldung und durch höhere Besteuerung wohlhabender Bevölkerungsschichten finanziert. Wenn die einkommensstarken Schichten nicht höher besteuert oder sogar steuerlich entlastet werden, gefährdet das den sozialen Frieden und damit die Resilienz der Gesellschaft. Je stärker die soziale Ungleichheit, desto geringer die Resilienz einer Zivilgesellschaft im Krieg.

Beachtet die Regierung das nicht, muss sie damit rechnen, dass die einkommensschwachen Schichten sich gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine, Sanktionen gegen Russland und die teure Aufrüstung wenden werden. Anders als in Kriegsgesellschaften, in denen in der Regel nicht gewählt wird, können sie in der Zivilgesellschaft im Krieg bei Wahlen ihre Stimme ins Gewicht werfen. Es ist denkbar, dass eine russische Hegemonie über Deutschland nicht unmittelbar durch Krieg, sondern durch eine demokratische Wahl zustande kommt.

Regierung und Opposition in der Zivilgesellschaft im Krieg: Die AfD ist anders als demokratische Oppositionsparteien Systemopposition, welche die Grundwerte, Traditionen und Regeln der Bundesrepublik in Frage stellt und mit den bedrohenden imperialen Mächten Russland und USA kollaboriert. Darin, und nicht eigentlich in ihrer Weltanschauung, liegt die Gefahr der AfD für ein demokratisches und souveränes Deutschland. Sie ist eine Art trojanisches Pferd der externen Bedrohung, ebenso wie das Bündnis Sarah Wagenknecht.

Was bedeutet diese Konstellation für die demokratische Opposition? Sie muss konstruktive Opposition betreiben und in Fragen, welche die äußere Bedrohung bzw. die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betreffen, die Regierung unterstützen. Die Regierung muss in sicherheitsrelevanten Fragen von Anfang an die demokratische Opposition einbeziehen.

Gefragt ist eine politische Kultur, welche Konflikte zwischen demokratischen Parteien minimiert und ein effektives und geräuscharmes Regieren ermöglicht. Also: Kein Bashing, keine „roten Linien“, Verzicht auf Verabsolutierung eigener Parteiprogramme („FDP pur“, „CDU pur“, „Grüne pur“), weil eine solche den für eine Zivilgesellschaft im Krieg leitenden Prinzipien des Konsenses und des Kompromisses widerspricht.

Ehrliche Kommunikation der Regierung:  Die Regierung muss führen und darf nicht Stimmungen und Meinungsumfragen hinterherlaufen. Sie muss ehrlich kommunizieren und den Mut haben, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und zu erklären, insbesondere zur aktuellen Bedrohungslage. Aus Ehrlichkeit erwächst Glaubwürdigkeit, aus Glaubwürdigkeit Vertrauen. Und Vertrauen ist der unentbehrliche Kitt für eine resiliente Gesellschaft.

Was geschieht, wenn Politik nicht ehrlich kommuniziert? Das lässt sich am Fall des bisherigen Oppositionsführers Friedrich Merz ersehen. Man darf aufgrund einschlägiger medialer Äußerungen annehmen, dass Merz die „objektive“ Bedrohungslage voll erkannt hat. Man darf ihm auch unterstellen, dass er erkannte, dass die Politik dieser Bedrohungslage nur mit gigantischen Investitionen begegnen kann. Als Oppositionsführer erweckte er jedoch den Eindruck, man könne die Schuldenbremse aufrechterhalten und mit Sparmaßnahmen im sozialen Bereich die notwendigen Investitionen stemmen. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung war für die Schuldenbremse. Also plädierte Merz, vermutlich aus wahltaktischen Erwägungen, vermutlich gegen besseres Wissen, im Wahlkampf für die Schuldenbremse. Dann, wenige Tage nach den Wahlen, die Wende um 180 Grad. Vertrauen in die Führung ist in Kriegsgesellschaften unverzichtbar, und wohl auch in Zivilgesellschaften im Krieg. Obwohl er nach der Wahl die richtigen, weil bedrohungsadäquaten Entscheidungen getroffen hat, erscheint das Vertrauen in der Bevölkerung jedenfalls vorerst verspielt.

Die Alternative vor der Wahl wäre gewesen, ehrlich zu kommunizieren. Das hätte ein Plädoyer für eine wahltaktisch vielleicht unvorteilhafte, aber bedrohungsadäquate Politik bedeutet. Die Alternative nach der Wahl wäre gewesen, sich an die Wahlversprechen zu halten. Das hätte aber eine nicht bedrohungsadäquate Politik bedeutet. Der Wortbruch gibt der AfD erkennbar weiteren Aufwind und schwächt die Resilienz der Gesellschaft gegen die Bedrohung durch imperiale Mächte.

6.      Ausblick

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, und die Hoffnung stirbt zuletzt. Betrachtet man die Performance der deutschen Gesellschaft, insbesondere der Politik in den letzten Jahren, erscheint folgendes Szenario nicht unrealistisch.

Deutschland wird, da die USA als verlässliche Schutzmacht ausfallen und an Europa zunehmend desinteressiert sind, unter russische Hegemonie geraten. In den Worten des Militärhistorikers Sönke Neitzel: „Wenn wir auch innenpolitisch schwach sind, werden wir in fünf Jahren unter einer von Russland dominierten Ordnung leben, in der wir Nord Stream 2 wieder eröffnen müssen, in der wir das Baltikum wehrlos machen, in der Russland sich Estland wieder einverleiben kann, wir bestimmte Medien abschalten müssten, die zu russlandkritisch sind“ (in: Stern Nr. 14, 27. 03. 2025, S. 45). Es könnte womöglich eine durch Wahl herbeigeführte Hegemonie werden, mit der AfD als „Statthalterin“. Das Joch für Deutschland wird zunächst eher leicht sein.

Doch das Joch wird mit der Zeit schwerer werden. Die Imperien, insbesondere die USA und Russland, werden bestrebt sein, politisch-militärische Potenz in wirtschaftliche Vorteile zu konvertieren (wie z. B. jetzt die USA in der Ukraine oder in Grönland). Das russische Imperium wird versuchen, seine militärische Überlegenheit in wirtschaftliche Tribute, in welcher Form auch immer, umzumünzen. Vieles ist denkbar. Z. B. dass Deutschland für den „Schutz“ durch den russischen Atomschirm bezahlt, allmählich immer etwas mehr, „Boiling the Frog“. Oder Handelsverträge nach dem Prinzip des ungleichen Tauschs, bei denen Deutschland z. B.  Öl oder Gas zu überhöhten Preisen und überhöhten Mengen abnehmen muss. Die Atombombe wird der neuen Hegemonialmacht als probates Mittel für die Erpressung zum ungleichen Tausch dienen. Denn wir haben ja „gelernt“: Mit einer Atommacht legt man sich besser nicht an. Und wenn Deutschland wider Erwarten nicht mitspielt, schlägt vielleicht irgendwann, irgendwo die eine oder andere  Überschallrakete ein. Oder es fallen politisch missliebige Menschen aus Fenstern. So etwa könnte der „Frieden“ aussehen, den wir uns durch Unterwerfung erkaufen.

Wie auch immer: Krieg ist in Europa eine unbestreitbare Realität unserer Tage. Eine soziologische Gesellschaftstheorie sollte sich dieser nicht nur moralisch, sondern auch mit analytischen Anstrengungen stellen. Eine Zivilgesellschaft im Krieg, also mit äußerer Bedrohung und Kriegsverwicklung (ohne eigene Streitkräfte) ist mit zwei existenziellen Aufgaben konfrontiert: Sie muss militärisch und ökonomisch für eine kriegstüchtige Streitmacht mobilisieren, und sie muss die Resilienz der Gesellschaft stärken. Letzteres kann wissenschaftlich als originäre Aufgabe der Soziologie gelten. Daran kann sich folgende, vage formulierte Frage anschließen: Was würde es für die deutsche und europäische Gesellschaft bedeuten, wenn aus einer Bedrohungslage ein hegemoniales Verhältnis entsteht? Soziologische Gesellschaftstheorie sollte für diesen Fall Szenarien möglicher zukünftiger Realität entwerfen.

Literatur

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten, 6. Auflage (zuerst amerik. 2024). Siedler Verlag: München 2024.

Joschka Fischer: Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2025.

Robert Habeck: Den Bach rauf. Eine Kursbestimmung. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2025.

Timo Lochocki: Deutsche Interessen. Wie wir zur stärksten Demokratie der Welt werden – und damit den liberalen Westen retten. Herder: Freiburg 2025.

Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario. C. H. Beck: München 2025.

Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhundert. Rowohlt: Hamburg 2025.

Sönke Neitzel: Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende. C.H. Beck: München 2025.

Romanus Otte: Vor 3 Jahren stürzte Russland Deutschland in eine tiefe Gaskrise. Heute will die AfD zu Putins Gas zurück – es lohnt ein Rückblick, in: Business Insider, 19. 02. 2025

Christian Schweppe, Zeiten ohne Wende. Anatomie eines Scheiterns. C.H. Beck: München 2024.

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