Die Interaktion von Mensch und Raum durch Raumproduktion, Raumwahrnehmung und Raumaneignung

Im Zeitverlauf wirken Menschen und (physischer) Raum wechselseitig aufeinander ein. So sehr der (physische) Raum für den Mensch einen Handlungsrahmen darstellt, das in der konkreten Interaktionssituation hinderlich oder förderlich wirken kann, so sehr ist der Raum selbst auch sozial konstruiert: Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen von Raum, nutzen und (re-)produzieren ihn auf unterschiedliche Weise.

Um dieses Wechselverhältnis von Mensch und Raum besser fassen zu können, habe ich zusammen mit Cornelia Thierbach ein Arbeitsmodell entwickelt, bei dem wir davon ausgehen, dass bei der Raumkonstitution in der Praxis (min.) drei Prozesse parallel verlaufen, die wechselseitig aufeinander bezogen sind (siehe Grafik oben – die Reihenfolge der Nummerierung ist willkürlich, weil jeder Prozess den jeweils vorherigen zeitlich voraussetzt):

  1. Raumproduktion: Die Vertreter der raumgestaltenden Wissenschaften (z.B. Stadt-, Regional-, Landschafts-, Verkehrsplaner, Architekten, Bauingenieure, Geodäten, Kartographen usw.) gestalten den physischen Raum. Hierzu gehört einerseits die bauliche Gestaltung des Raumes, aber auch Hilfsmaterial, um sich in diesem Raum zu orientieren (wie etwa Karten). In ihrem Gestaltungsprozess sind die Planer und Konstrukteure pfadabhängig gebunden an (a) den (in früheren Gestaltungsprozessen) konstruierten physischen Raum; (b) die Konventionen in ihrer Disziplin (Suchmann 2000; Knoblauch/Heath 2006; Dienel 2006; Betker 2005a; 2005b) und (c) an soziale Konstruktionen des Raumes. So erwarten Mitteleuropäer in öffentlichen Gebäuden nicht nur eine Toilette, sondern sie erwarten sie auch an bestimmten Orten. (So führt es etwa regelmäßig zu Irritationen, wenn nicht auf jedem Stockwerk zumindest eine Damen- und eine Herren-Toilette zu finden ist oder wenn diese nicht an einem der Orte ist, an dem sie normalerweise in anderen Gebäuden sind.) Die Raumgestalter greifen also in ihrer Gestaltungspraxis (wenn auch i.d.R. nicht bewusst) auf das gesellschaftlich verankerte implizite Wissen über Räumlichkeit zurück, über das ich gestern geschrieben habe. Am deutlichsten sind diese gesellschaftlichen Wissensbestände verdichtet in Leitbildern bzw. Leitmotiven der Stadtplanung (Carter 1983: 114-129; Rodenstein 1992; Schäfers 2006: 187-198; Löw et al. 2009: 93-122; Strom/Mollenkopf 2004), und es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass und wie sich diese Leitbilder auf die Städte- und Landschaftsplanung auswirken (Carter 1983: 114-129; Löw et al. 2008: 66-71; Kaufmann 2005; Harley 1992)
  2. Raumwahrnehmung: Alltagsmenschen finden diesen gebauten Raum (und das dazu erhältliche Orientierungsmaterial wie z.B. Karten) erst einmal als mehr oder weniger gegeben vor. Sie sehen diesen Raum, verstehen ihn (oder eben nicht) und teilen ästhetische Vorstellungen des Raumgestalters (oder eben nicht). Eine Kombination aus ihren Vorerfahrungen, der aktuellen Erfahrung des physischen Raumes und der Karten beeinflusst ihre Raumwahrnehmung. Wie sehen die Karte als Interaktionsmedium, das (neben sozialen Praktiken) das Wissen über den Raum transportiert. Sie soll dem Menschen bei der Syntheseleistung helfen, die Ansammlung von Menschen und Gütern auf bestimmten Raum-Zeit-Koordinaten anzuordnen und zu einem Ort zu verdichten, und sie hat den Vorteil, dass sie die physische Anwesenheit eines Interaktionspartners nicht notwendig voraussetzt. Anders als in der Psychologie gehen wir folglich davon aus, dass Raumwahrnehmung nicht nur auf individuellen kognitiven Prozessen basiert – Raumwahrnehmung ist unseres Erachtens auch eine Interaktionsleistung, also etwas grundsätzlich Soziales. Personen können den Raum folglich auch unterschiedliche (evtl. sozialgruppenspezifische) Weise wahrnehmen, was z.B. ein Grund für unterschiedliche Orientierungspraktiken ist.
  3. Raumaneignung und -nutzung: Den Raum auf eine bestimmte Art und Weise wahrzunehmen heißt noch lange nichts darüber aus, wie man diesen Raum nutzt. Menschen machen sich den Raum zu eigen, wobei sie das zweifach tun – sie eignen sich im Rahmen der Sozialisation durch Raumpraktiken spezifische Raumvorstellungen an (Zeiher 1983; 1990; Ahrend 2002; Schmitz/Neidhardt 2001; Gothe/Pfadenhauer 2010; Herlyn et al. 2003; Schmals 1999; 2000). Und sie eignen sich den Raum dann noch einmal in der konkreten Interaktionssituation an. Schließlich nutzen Menschen den angeeigneten Raum sehr unterschiedlich und nicht notwendig im Sinne des Gestalters (eine Praxis, die meiner Erfahrung nach Stadtplaner regelmäßig irritiert). Dazu kann man den physischen Raum z.B. auch umgestalten (etwa durch Handeln im Raum, durch Veränderungen des physischen Raumes wie beispielsweise neue Möblierung) (z.B. Lange 2007).

Raumkonstitution ist folglich ein komplexer Prozess, der methodologisch schwer zu greifen ist. Um ihn einigermaßen zu fassen, haben wir (für uns) die Karte als theoretischen und methodologischen Fokus[i] definiert, weil sie – wie gerade beschrieben – ein Interaktionsmedium ist, das das soziale Wissen über die Karten transportiert.

 

 

Literatur

Ahrend, Christine (2002): Mobilitätsstrategien zehnjähriger Jungen und Mädchen als Grundlage städtischer Verkehrsplanung. Münster/München: Waxmann. S. 34-53, 69-11, 144-158, 197-206

Betker, Frank (2005a): „Wieder Straßen und Plätze organisieren“. Institutionen und Erfahrungen in der kommunalen Stadtplanung der DDR. In: Die Alte Stadt. Vierteljahreszeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie, Denkmalpflege und Stadtentwicklung. 2/2005. S. 122-135

Betker, Frank (2005b): Einsicht in die Notwendigkeit. Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945-1994). Stuttgart: Steiner 2005

Carter, Harold (1983): An Introduction to Urban Historical Geography. London et al.: Edward Arnold

Dienel, Hans-Liudger (2006): Schreiben, Zeichnen, Erinnern: Persönliches Wissensmanagement im Ingenieurberuf seit 1850. In: Rammert, Werner/Schubert, Cornelius (Hg.) (2006): Technografie. Zur Mikrosoziologie der Technik. Frankfurt a.M./New York: Campus. S. 397-425

Gothe, Kerstin/Pfadenhauer, Michaela (2010): My Campus – Räume für die „Wissensgesellschaft“? Raumnutzungsmuster von Studierenden. Wiesbaden: VS-Verlag

Harley, J.B. (1992): Deconstructing the Map. In: Barnes, Trevor J./Duncan, James S. (Hg.) (1992): Writing World. Discourse, Text and Metaphor in the Representation of Landscape. London u.a.: Routledge. S. 231-247

Herlyn, Ulfert/Seggern, Hille von/Heinzelmann, Claudia/Karow, Daniela (2003): Jugendliche in öffentlichen Räumen der Stadt. Chancen und Restriktionen der Raumaneignung. Opladen: Leske und Budrich. S. 15-45, 112-143, 218-246

Kaufmann, Stefan (2005): Soziologie der Landschaft. Wiesbaden: VS-Verlag. Insbesondere Teil II

Knoblauch, Hubert/Heath, Christian (2006): Die Workplace Studies. In: Rammert, Werner/Schubert, Cornelius (Hg.) (2006): Technografie. Zur Mikrosoziologie der Technik. Frankfurt a.M./New York: Campus. S. 141-162

Lange, Bastian (2007): Die Räume der Kreativszenen. Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin. Bielefeld: transcript

Löw, Martina/Steets, Silke/Stoetzer, Sergeij (2008): Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie. Opladen: Farmington Hills: Barbara Budrich

Rodenstein, Marianne (1992): Städtebaukonzepte – Bilder für den baulich-räumlichen Wandel der Stadt. In: Häußermann, Harmut/Ipsen, Detlev/Krämer-Badani, Thomas/Läpple, Dieter/Rodenstein, Marianne/Siebel, Walter (1992): Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler: Centaurus. S. 31-67

Schäfers, Bernhard (2006): Stadtsoziologie. Stadtentwicklung und Theorien – Grundlagen und Praxisfelder. Wiesbaden: VS-Verlag

Schmals, Klaus M. (1999): Raumbezüge der Jugend: Jugend in der Raumsoziologie. In: Tully, Claus J. (Hg.) (1999): Erziehung zur Mobilität. Jugendliche in der automobilen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Campus. S. 67-83

Schmals, Klaus M. (2000): Entstrukturierung von Raum und Zeit im Jugendalter. In: Clemens, Wolfgang/Struebing, Joerg (Hg.) (2000): Empirische Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis: Bedingungen und Formen angewandter Forschung in den Sozialwissenschaften. Helmut Kromrey zum 60. Geburtstag. Opladen: Leske u. Budrich. S. 261-278

Schmitz, Sigrid/Neidhardt, Eva (2001): Spatial socialization of boys and girls. Review and possibilities for change. In: Sturm, Gabriele/Schachtner, Christina/Rausch, Renate/Maltry, Karola (Hg.) (2001): Zukunfts(t)räume. Geschlechterverhältnisse im Globalisierungsprozess. Koenigstein: Helmer. S. 39-56

Strom, Elizabeth/Mollenkopf, John (2004): Vom Reden und Handeln. Diskurs und Stadtentwicklung in New York und Berlin. In: Siebel, Walter (Hg.) (2004): Die europäische Stadt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 284-300

Suchman, Lucy (2000): Embodied Practices of Engineering Work. In: Mind, Culture and Activity 7 (1&2). S. 4-18

Zeiher, Helga (1983): Die vielen Räume der Kinder. Zum Wandel räumlicher Lebensbedingungen seit 1945. Preuss-Lausitz, Ulf (Hg.) (1983): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. zur Sozialisationsgeschichte seit dem 2. Weltkrieg. Weinheim et al.: Beltz. S. 176-195

Zeiher, Helga (1990): Organisation des Lebensraums bei Großstadtkindern – Einheitlichkeit oder Verinselung? In: Bertels, Lothar/ Herlyn, Ulfert (Hg.) (1990): Lebenslauf und Raumerfahrung. Opladen: Leske u. Budrich. S. 35-57

 

 

Anmerkungen

[i] Wie die Grafik unten illustriert, versuchen wir diese Frage mit einem Methoden-Mix aus standardisierter Befragung und Ethnografie zu nähern, wobei wir bislang v.a. zusammen mit Studierenden der TU Berlin sozialwissenschaftliche Experimente im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaft (LNDW) durchgeführt haben, die aber bislang mehr Fragen eröffnen als beantworten – und auf die Notwendigkeit der Triangulation der Befragungs- mit den Umfragedaten hinweisen, aber dazu morgen mehr.

Methodologische Erfassung von Raumkonstruktionsprozessen
Methodologische Erfassung von Raumkonstruktionsprozessen

 

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

Ein Gedanke zu „Die Interaktion von Mensch und Raum durch Raumproduktion, Raumwahrnehmung und Raumaneignung“

  1. Hey,
    interessanter Text aber wie kann man über Raum schreiben ohne sich auf Bourdieu, Lefebvre, Harvey etc. zu beziehen? Das führt leider dazu das ihr Begriffe wie Raumproduktion gänzlich anders verwendet als in der etablierten Literatur. Das ist leider etwas verwirrend, trotzdem ist euer Ansatz sehr spannend.

Kommentare sind geschlossen.