Mikroblogging: kurz, schnell und unberechenbar (3/3)

Der Versuch einer soziologischen Interpretation des Phänomens Mikroblogging im letzten Post hatte zu drei Thesen geführt, die mit den Schlagworten „Häppchenkommunikation“, „Subjektivierter Stil“ und „Ultrabeschleunigung“ überschrieben wurden. Mit vier weiteren Thesen soll das Bild komplettiert werden. Dies kann und will insgesamt nicht mehr sein als eine erste Annäherung an dieses eigenwillige Medium auf Basis persönlicher Erfahrungen (als ein „Selbstversuch“ begleitend zu einem Forschungsprojekt). Ein Medium, das sich derzeit mit großer Dynamik verbreitet, deren Konsequenzen noch kaum abschätzbar sind. Wenn man regelmäßig ‚twittert‘, kann man regelrecht zuschauen, wie sich die Formen entwickeln und der Kreis der Nutzer sprunghaft erweitert und dabei verändert.

Information Overload und neue kommunikative Kompetenzen

Wenn es irgendwo so etwas wie einen „Information Overload“ in der spätmodernen Welt gibt, dann ist Twitter auch dafür ein perfektes Beispiel. Bei Facebook und den anderen Social Media Plattformen werden die User nicht selten ebenfalls mit den Nachrichten der „Freunde“ überflutet, oder sie klagen über zu viele Emails (was manchmal zugleich mit unterschwelligem Stolz kundgetan wird), und insgesamt ist das WWW ein Feld für ununterbrochene und von niemandem auch nur annähernd zu überschauende Masseninformation, für die der alte Begriff der „Massenmedien“ nicht mehr ist als ein Witz (Wie viele Abonnenten hat die FAZ? Wie hoch ist die Einschaltquote der Tagesschau? Wer hört die Wissenschaftsendung des DLF? Lächerlich im Vergleich mit Facebook und Twitter). Bei Twitter hat man es möglicherweise aber täglich mit mehreren hundert Tweets zu tun, Tendenz steigend. Folge ist unausweichlich, dass die Flut der Tweets in rasender Schnelligkeit (und unvermeidlicher Oberflächlichkeit) durchgescrollt wird und man nur Einzelnes herauspickt. Um in der Vogel-Metaphorik von Twitter zu bleiben: zum „Tweeten“ gehört das absolut schnelle und hoch selektive „Picking“. Das kann man als lebendig und anregend empfinden, wird es aber meist eher als höchst anstrengend und hektisch erleben. Es gibt es inzwischen zwar vielfältige Sekundärdienste, die Selektionsmöglichkeiten für Empfang und Versand von Tweets anbieten, aber zumindest bei mir nützt das wenig …
Folge ist, dass man zu einer drastischen Selektivität gezwungen ist, die, soll es nicht völlig beliebig werden, begleitet sein muss von einem sehr konzentrierten und schnellen Blick dafür, was vor dem Hintergrund der eigenen Interessen auffällt und wichtig erscheint. Dem gönnt man in der Regel einen nur unwesentlich intensiveren ‚zweiten‘ Blick, und nur was dann noch als irgendwie relevant erscheint, wird ‚angeschaut‘, aber immer noch nicht, dass es ‚gelesen‘, sondern auch hier wird (so meine Erfahrung) mit schnellem Suchblick das Material nur angelesen, überflogen (noch eine Vogelmetapher … ) oder mit distanziertem Blick (aus der „Vogelperspektive“ …) angesehen, um dann zu entscheiden, was man wirklich einer Lektüre unterziehen möchte (wie der kreisende Raubvogel, der plötzlich von oben zuschlägt  .. ). Bei mir heißt das oft, dass ich einen Text ausdrucke, um ihn offline zu ‚lesen‘ (selbst New Yorker Cartoons werden ausgedruckt, um sie in Ruhe anzuschauen, anderen zu zeigen und aufzuheben). Das darf man aber in Online-Kreisen nicht laut aussprechen, denn es kursieren viele Witze über inkompetente, meist als älter beschriebene User (z.B. Professoren … ), die angeblich tatsächlich Online-Material (z.B. Emails) ausdrucken. Absolut lachhaft  … wie jemand in einer Session auf dem Kongress in Innsbruck unter beifälligem Nicken und verstehendem Grinsen der Anwesenden erklärt, worauf hin ich tunlichst den Mund hielt (um Missverständnisse zu vermeiden: ich drucke keine Emails aus !).
Wer bei dieser Beschreibung Parallelen zu anderen aktuellen Verkehrs- und Kommunikationsformen entdeckt, der versteht vielleicht, was gemeint ist: Twitter ist in mehr als nur einer Hinsicht ein höchst charakteristisches Beispiel für das, was sich derzeit in modernen Gesellschaften verändert, hier also für die Überflutung mit Kommunikationen, die zu äußerst schnellen und komplexen Bewertungen zwingt, die nur auf Basis hoch entwickelter komplexitätsreduzierender Kommunikationskompetenzen möglich sind. Eine weiteres drastisches Beispiel sind Wertpapierhändler, die in Sekundenschnelle und unter Nutzung von minimalsten Zeit- und Wertunterschieden versuchen auf den globalen Finanzmärkten Gewinne zu machen. Der dafür gelegentlich verwendete Begriff Day-Trading ist angesichts der tatsächlichen Zeiträume in denen die Geschäfte abgewickelt werde, ein hochgradiger Euphemismus. Was  solche ultraschnellen und massenhaften ‚Mikrokommunikationen‘ (der An- und Verkauf von Börsenprodukten ist Kommunikation) in unserer Welt anrichten, das lässt sich zur Zeit täglich in den Wirtschaftsteilen der Presse (und minutengenau auf Twitter …) studieren.

Machtstrukturen und Statuskämpfe

Spannend ist, dass es gerade auch bei dem so vermeintlich offenen und pluralen Medium Twitter hochgradig um Status und Anerkennung und nicht zuletzt um soziale Stratifikation und Vermachtung geht. Das wird inzwischen von fast allen Neuen Medien bzw. vom WWW insgesamt berichtet, nicht zuletzt auch bei der Open-Source-Bewegung (etwa bei der wikipedia s. u.a. hier und hier). Zumindest indirektes Ziel vieler Tweeter (allen voran natürlich derjenigen, die mit Twitter Geschäftsinteressen oder politische Anliegen verbinden) ist die Erzielung einer möglichst hohen und kontinuierlichen Aufmerksamkeit. War dazu lange Zeit die Zahl der Follower das wichtigste Maß, so hat sich dies inzwischen verschoben, u.a. weil es jetzt Softwaretools gibt, mit denen man die Zahl der Follower automatisiert zu erhöhen versucht. Viel wichtiger wird in letzter Zeit genommen, wie stark Nachrichten weitergegeben („retweetet“) und Twitterdebatten beeinflusst werden, teilweise auch, wie stark man in die Twitterlisten anderer Tweeter (v.a. der berühmten) aufgenommen wird. Folge ist, dass es inzwischen regelrechte „Twitter-Stars“ (und dafür entsprechende Twitter-Rankings) gibt, die in der Szene, und weit darüber hinaus große Beachtung finden, so etwa in Deutschland der unvermeidliche Sascha Lobo (ca. 80.0000 Follower), was aber lächerlich ist angesichts der über 13 Mio. Follower von Lady Gaga und der nur unwesentlich weniger beliebten Stars Justin Bieber und Barack Obama. Wie auch bei den anderen Socialmedia bieten viele Plattformen (oder Zusatzdienste) Möglichkeiten, sich für Accounts „Stats“( Statistiken) erstellen zu lassen, mit denen man kontinuierlich (tagesgenau, oft sogar noch detaillierter !!) verfolgen kann, wie man in der Webwelt wahrgenommen wird: wie oft man angeclickt und/oder retweetet wird, von wievielen Usern und wer das ist (so zumindest teilweise bei Twitter), aus welcher Region der Welt die Follower oder Clicks kommen (mit Kartenmaterial) und manches mehr. Man will ja schließlich seinen Status im Netz kennen und den Erfolg der eigenen Aktivitäten im Vergleich mit anderen Usern messen …

Individualisierte und subjektivierte Massenkommunikation

Die eben formulierte Feststellung geht einher mit der nur auf den ersten Blick kontrastierenden Beobachtung, dass Twitter auf drastische Weise ein neues mediales Rezeptions- und Beteiligungsverhalten repräsentiert, dass alle Dimensionen der klassischen auf Massenbedienung ausgerichteten öffentlichen Kommunikation sprengt. Auch wenn es jene Stars und modischen Trends bei Twitter gibt, legt jeder User ganz spezifisch für sich fest, was ihn erreicht – trotz aller Bemühungen auch von Twitter selbst, die User auf populäre Seiten zu locken (weil man damit potenziell Geld verdienen möchte). Man entscheidet als Twitternutzer über die Auswahl der Abonnements ganz für sich und damit immer hoch selektiv nicht nur was man anschauen möchte (davon war schon die Rede), sondern auch von wem man Informationen erhalten will. Individualisierter geht es nicht. Dies ist ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Thema angesichts der Bemühungen etwa von Suchmaschinen, auf die individuellen Nutzer zugeschnittene Suchergebnisse zu produzieren. Glaube vor diesem Hintergrund niemand mehr, dass er/sie dieselben halbwegs objektivierten Suchergebnisse bei Google bekäme wie ein anderer User. Wie inzwischen zunehmend kritisch festgestellt, kann das nicht nur zu einer einseitigen Wahrnehmung von einzelnen Sachverhalten nicht nur im Netz, sondern zu einer hoch selektiven Weltwahrnehmung überhaupt führen, sogar (oder vielleicht gerade) bei sich üblicherweise für gut informiert haltenden Zeitgenossen (siehe dazu einen Essay von Miriam Meckel).
Was auf den ersten Blick als perfekter individualisierter und selbstbestimmter Service erscheinen mag (und manchmal auch ist), kippt, nicht selten von Anbietern intendiert, um in eine subtile und in ihrer Komplexität kaum zu durchschauende neuartige Manipulation, die man generell für die langfristige Entwicklung der „Individualisierung“ von Gesellschaft behaupten kann: Was anfangs wie ein Stück Befreiung aus sozialen Zwängen erschien, wird nach und nach zu einer paradoxen Selbstentfremdung und Selbstausbeutung als Teil einer neuen gesellschaftlichen Gouvernementalität im Vollzug mehr oder weniger deutlich identifizierbarer ökonomischer und/oder allgemein gesellschaftlicher Machtinteressen („Subjektivierung“).
Nur angedeutet werden soll, dass auch die Produktions- und Konsumwelt im engeren Sinne solche Erscheinungen inzwischen gut kennt. Das sog. „Mass Customization“ (= individualisierte Massenproduktion) von Produkten und Dienstleistungen (etwa beim persönlichen Stylen von Turnschuhen, Müslis, Schokoladen, Parfums oder T-Shirts ) verspricht nur mit einem unkritischen Blick gesehen eine konsumentenfreundliche Individualisierung. Bei näherer Betrachtung erweist sie sich als subtile neue Stufe der industriellen Produktion und Vermarktung von nach wie vor standardisierten Waren und der Steuerung von Konsumenten. Auch hier: eine neue Qualität gesellschaftlicher Ausbeutung und Entfremdung im Modus „individualisierter“ (genauer: „subjektivierter“) Selbsterledigung, etwa durch den Einsatz von (man verzeihe die Eigenwerbung) „Arbeitskraftunternehmern“ und den dazu komplementären „Arbeitenden Kunden“. Das sind Figuren, die nur markante Erscheinungsformen einer wesentlich weiter-und tiefergehenden neuen Dynamik des sozialen Wandels sind und letztlich auf den Übergang zu einem neuartigen Modus der Vergesellschaftung verweisen (dazu vielleicht später mehr).

Ausdifferenzierung und unkalkulierbare Halbwertszeiten der Kommunikationsmedien

Twitter ist nicht zuletzt extremes Beispiel für eine sich insgesamt umstrukturierende Medienlandschaft und gesellschaftliche Öffentlichkeit. Gemeint ist hier die starke Ausdifferenzierung und vor allem die unglaubliche Dynamik der „Verfalls-“ oder „Halbwertszeiten“ der Angebote. Was heute Top ist kann in kürzester Zeit wieder untergegangen sein oder wird anders genutzt, als intendiert. Dafür gibt es viele Beispiele aus der ersten Webwelt (kennen Sie noch Yahoo mit seinen festen Linklisten?), aber auch schon aus dem Web2.0 (wer spricht noch von StudiVZ?). Was längerfristig Bestand haben wird, ist kaum vorauszusagen. Man kann die Entwicklung als perfekten evolutionären Prozess betrachten: Überraschende Innovationen und auf den ersten Blick oft marginale Variationen von Bestehendem (nicht selten über fehlerhafte und sogar sanktionierte Abweichungen) erleben eine rasend schnelle Verbreitung. Deren Stabilität hängt davon ab, ob sie sich in einem spezifischen Milieu als vorteilhaft erweisen, dadurch positiv (anderenfalls negativ) selektiert werden und sich im positiven Falle institutionalisieren, für wie lange auch immer. Im Unterschied zur natürlichen Evolution ist es ein Wandel im Eiltempo und mit starken kurzfristigen Effektausschlägen, z.B. ökonomisch (daher auch die zum Teil extremen kurzfristigen Wertzuwächse und -verluste in den Börsenbewertungen). Es kann durchaus sein, dass wir in zwei, drei Jahren über Twitter und Blogs nur noch müde lächeln oder uns kaum noch daran erinnern. Es gibt inzwischen erste Anzeichen, dass, zur großen Irritation mancher Betreiber, die aktive Beteiligung an vielen Social Media Angeboten stagniert und teilweise sogar zurückgeht. Von manchen Jugendmilieus wird berichtet, dass dort Emails für völlig uncool gehalten werden und direkte Kontakte nur noch über die Social Media (z.B. Twitter) abgewickelt werden. Vielleicht muss sich die DGS dann wieder etwas Neues einfallen lassen.

Nächste Woche wird es um ein anderes Thema geben. Was es sein kann, wird sich zeigen, es ist ja viel los in der Welt, auch offline …

PS
(1) Zum Thema Twitter soll den Lesern erneut ein aktueller New Yorker Cartoon nicht vorenthalten werden.
(2) Interessieren könnte der Verweis auf ein soziologisches Paper aus SCIENCE dazu, wie Sozialwissenschaftler beginnen, Twitter für empirische Untersuchungen zu nutzen (leider mit Bezahlschranke). Siehe zu einem ähnlichen Thema auch diesen Hinweis (ebenfalls mit link zu einem SCIENCE-Paper).
(3) Die in einem früheren Post schon erwähnte Initiative “Impact of Social Science” der London School of Economics thematisiert zunehmend auch die Nutzung von Twitter für ihr Ziel einer “Maximizing the impact of academic research”. Hier eine Liste von “favourite academic tweeters” (geordnet nach Disziplinen), und hier praktische Hinweise für das “Academic tweeting“: „Finding the appropriate tweeting style for your project”. Ähnliche Empfehlungen gibt ALISS (Association of Librarians and Information Professionals in the Social Sciences) mit ihrem aktuellen „Twitter guide for academics„.

(Korrekturen 15.10.11 – 21.30)

Ein Gedanke zu „Mikroblogging: kurz, schnell und unberechenbar (3/3)“

  1. Zunächst einmal ein großes Lob an die DGS für die Einrichtung dieses Blogs, der hoffentlich bestehen bleibt. Auch die Idee, verschiedene Gastblogger, aber diese über einen (in Anbetracht von ertwitterter Beschleunigung) längeren Zeitraum, zu engagieren, halte ich für sehr gelungen.
    Als ich die Neuigkeit las, dass die DGS nun einen Blog hat, war mein erster Gedanke: „Endlich!“. Immer wieder stelle ich fest, wie groß das Interesse, das Informations- und Diskussionsbedürfnis an soziologischen Themen und Perspektiven ist und immer wieder bleibt das bedauernde Gefühl, dass die Soziologie in der Wahl ihrer Themen doch recht behäbig ist. Wird eine Auseinandersetzung mit tagesaktuellen Themen als unwissenschaftlich angesehen? Ist verstrichene Zeit ein so wichtiger Faktor für die Seriösität einer Aussage? Ich denke, hier sollte klarer zwischen der Seriösität einer wissenschaftlichen Forschung und der Seriösität einer Stellungnahme, eines Kommentars unterschieden werden. Gute wissenschaftliche Forschung benötigt natürlich Zeit, aber ein guter Kommentar zu aktuellen, schnelllebigen Entwicklungen erfüllt einen anderen Zweck und kann darum ebenso seriös sein, besonders wenn er in der Lage ist, bewährte soziologische Kategorien fruchtbar zu machen. Es wäre doch schade, wenn die Soziologie zurückgezogen lebt – denn sie sollte beides können: zurückgezogen (in Ruhe!) forschen und gleichzeitig nah am Geschehen bleiben.

    Vielen Dank Herr Voß für diesen Auftakt, den ich mit großem Interesse verfolgt habe. Besonders gefällt mir, dass Sie den Gegenstand Twitter über mehrere Einträge von der Gegenstandsbeschreibung hin zur soziologischen Interpretation aufgespannt haben. Sehr interessant sind neben den eigentlichen Einträgen die Verlinkungen zu Artikeln und Cartoons. Auch dass erklärungsbedürftige Begrifflichkeiten verlinkt wurden, finde ich nicht nur gut, sondern auch wichtig, um auch für ein soziologisch interessiertes, aber nicht soziologisch gebildetetes Publikum zugänglich und interessant zu bleiben.
    Interessant fand ich Ihre Interpretation der immer individueller zugeschnittenen Informationen, die den falschen Anschein von Objektivität erwecken. Ich denke, dies greift auch gut mit den Thesen von Alain Ehrenberg, den Sie in dem kurzen Abschnitt zu psychischen Erkrankungen erwähnt haben. Die von Ihnen beschriebene Entwicklung einer Beschleunigung schafft eine immer größer werdende Diskrepanz zwischen jenen, die mit dem Tempo Schritt halten können, die immer auf dem neusten, scheinbar objektivsten Stand sindund jenen, die zu langsam, zu überfordert sind und nicht mithalten können. Damit wird auch das Scheitern, eben nicht mithalten zu können, in die (Selbst-)Verantwortung des Einzelnen gestellt und es liegt in der Verantwortung des Einzelnen mit seiner eigenen Unzulänglichkeit zurecht zu kommen. Eine sehr bedenkliche Entwicklung!

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