Im letzten Blogbeitrag habe ich einige Missverständnisse des sozialen Konstruktivismus angesprochen. Dabei habe auch darauf hingewiesen, dass es daneben einige berechtigte Kritiken an diesem sozialtheoretischen Ansatz gibt. Diese Kritik ist der Grund für die Versuche zur Fortentwicklung dieses Ansatzes in Richtung auf das, was als „kommunikativer Konstruktivismus“ bezeichnet wird. Damit ist eine mittlerweile durchaus ansehnliche Bewegung gemeint, die unter anderem von Jo Reichertz (2010) mit seinem prägnanten Konzept der Kommunikationsmacht und, in einer „diskursiven“ Fassung, auch von Reiner Keller getragen wird (Keller, Knoblauch und Reichertz 2013). Ich möchte diesenen Ansatz hier etwas skizzieren, indem ich auch auf weitere Kritik des sozialen Konstruktivismus eingehe.
Wie kam es zum kommunikativen Konstruktivismus?
Das Wort kommunikativer Konstruktivismus hatte ich erstmals in meiner Habilitation verwendet, die im Frühjahr 1994 abgeschlossen wurde[i]; im Herbst desselben Jahres erschien auch ein Band zum 65-jährigen Geburtstag von Thomas Luckmann, den Sprondel (1994) den Untertitel „Die Objektivität kommunikative Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion“ gab.
Während dieser Band bezeichnenderweise keinen einzigen Beitrag enthält, der den Begriff der Kommunikation überhaupt auch nur verwendet, hatten sich die Forschergruppen um Thomas Luckmann ausgiebig mit Kommunikation beschäftigt. In der Tat war es eine Besonderheit der „Konstanzer Schule“ (Reichertz 2013), sich auf eine empirische Weise mit Prozessen der Kommunikation zu beschäftigen. Das begann mit dem (ab etwa 1980 laufenden) DFG-Projekt über Face-to-Face-Kommunikation, in dem vermutlich erstmals so etwas wie eine multimodale Analyse der Kommunikation durchgeführt wurde (Luckmann, Gross 1977), über das DFG-Projekt zu „rekonstruktiven Gattungen“ (in dem zum Beispiel Konversionsgeschichten analysiert wurden) bis hin zu den Videoanalysen, die heute in Berlin, Bayreuth oder Essen betrieben werden (Tuma, Schnettler, Knoblauch 2013).
Während sich Luckmann in der Linie der „Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ seit den 1970er Jahren sehr intensiv mit der Sprache als zentraler Form der gesellschaftlichen Formung von Sinn beschäftigt hatte, bedeutete diese Forschung eine klare Ausweitung: . Die Forschung beschränkte sich nun nicht mehr auf „Sprechen als Handeln“, sondern ging – auch durch den Einbezug audiovisueller Medien seit Ende der 1970er Jahre – weit über die Sprache hinaus. Seit der Ausbreitung der Sprechakttheorie, der damaligen Rezeption Wittgensteins (etwa durch Peter Winch) und der modischen Rezeption des Strukturalismus in den 1960er Jahren hatte es in den Sozialwissenschaften eine breite „linguistische Wende“ gegeben. Deren Ende wurde mit der besagten Abwendung von der Sprache eingeläutet (Knoblauch 2000) – bedauerlicherweise mit einer fast vollständigen Einstellung der Sprachsoziologie nicht nur in Deutschland.
Diese Wende wurde u.a. von der „Konstanzer Schule“ allerdings nur empirisch vollzogen – auch weil Luckmanns Interesse an der Grundlagentheorie immer geringer wurde. Es ist also zunächst die mangelnde theoretische Fortentwicklung des Sozialkonstruktivismus mit Blick auf die eigene empirische Forschung, die einen Ausgangspunkt für die theoretischen Überlegungen zum kommunikativen Konstruktivismus bilden.
Deswegen bot es sich an, bei jenen Theorien nach Anschlüssen zu suchen, die selber schon theoretische Verbindungen zum Sozialkonstruktivismus aufwiesen. Trotz seiner theoretischen Nähe schied Giddens leider aus, hatte er doch den Sozialkonstruktivismus in seinem theoretischen Grundlagenwerk weitgehend ignoriert (vielleicht auch um die Originalität des Anspruchs auf Überwindung der Spannung zwischen „subjektivistischen“ und „objektivistischen“ Ansätzen hervorheben zu können). Spätestens seit seiner Theorie des kommunikativen Handelns aber hatte Habermas einen engen Bezug vor allem zu Schütz und Luckmann (1984) hergestellt. Deswegen erschien mir auch Habermas‘ Begriff des kommunikativen Handelns durchaus hilfreich, zumal er sowohl bei Schütz und Luckmann wie auch bei Schütz selbst (allerdings in sehr rudimentärer Form) auftritt (Knoblauch 2013). Allerdings hatte Habermas den Begriff des kommunikativen Handelns ebenso stark an die Sprache gebunden. Für Habermas ist ja die Sprache, die drei verschiedene Referenzen herstellt (auf Objekte, Subjekte und Andere) und damit auch Quelle und Medium der verschiedenen Geltungsansprüche ist Das Problem der einseitigen Hervorhebung der Sprache lässt sich auf eine ähnliche Weise lösen wie bei Berger und Luckmann: Der Sprache liegt eine Objektivation zugrunde. Es ist dieser Begriff der Objektivationen, der eine Umdefinition des „kommunikativen Handelns“ zum wechselseitigen sozialen Wirkhandeln erlaubt und damit eine der wesentlichen Quellen für die Weiterentwicklungen darstellt.
Einige Unterschiede zwischen sozialem und kommunikativem Konstruktivismus
Die Objektivation, die im letzten Blogbeitrag schon behandelt wurde, kann ein körperlicher Vorgang sein (Fingerzeig), sie kann aber auch material vergegenständlicht werden (Zeigestab). In der Tat kann man sich selbst soziale Institutionen auch gar nicht ohne ihre Materialität vorstellen (schon etwa den Tausch!). In den Objektivationen schwingt deswegen nicht nur die „Externalisierung“ von Marx mit, auf den sich ja Berger und Luckmann (in seinerzeit häufig missverstandener Absicht) beriefen; auch die Rolle des menschlichen Körpers wird bei ihnen durch den Einbezug breit gewürdigt, der als Bezugsgröße von Dinglichkeit und (als Sinnlichkeit) von Materialität dient. Selbst wenn Berger und Luckmann den Begriff der Dialektik nicht wirklich klären und ihn auch später nicht mehr benutzen, ist aus der Anlage ihres Buches sehr klar, dass er nicht im bekannten Schema einer Subjekt-Objekt-Beziehung gelesen werden kann. Wie schon bei Schütz kreist die Konstruktion um das Verhältnis von Ich zu Anderen. Allerdings wurde mit Verweis auf Luckmanns „universale Intentionalität“ schon deutlich gemacht, dass „Andere“ keineswegs substantialistisch zu fassen sind als menschliche Andere, sondern auch Dinge sein können (Tiere, Bäume, Steine). Die Objektwelt und die „Natur“ ist Teil des kommunikativen Handelns; auch ihre Ausgliederung ist eine Leistung, die durch besondere Formen des kommunikativen Handelns erbracht wird.[ii]
Wegen seiner Wechselseitigkeit enthält kommunikatives Handeln viele Aspekte, die im Dialog auftreten, doch muss dieser „Dialog“ eben keineswegs sprachlicher Natur sein: Als „Objektivierung“ kann eine Geste dienen, vielleicht sogar der „Fingerzeig“. Wie etwa Tomasello (2009) im Vergleich zu Affen und Kleinstkindern herausgestellte zeigt, setzt etwa das menschliche Zeigen mit dem Finger jene von Schütz beschriebenen Bewusstseins-Leistungen der Intersubjektivität voraus, die kommunikatives Handeln auszeichnen. Übrigens unterscheidet sich diese Leistung seiner Meinung nach signifikant von den Formen der Kommunikation in Primaten-Gesellschaften. Es ist also nicht die „Interobjektivität“ (wie Latour meint), sondern die Objektivierung in der Intersubjektivität, die menschlichen Gesellschaften eine so breite Stabilisierung erlaubt.
Der Begriff des kommunikativen Handelns versucht mehrere Missverständnisse des Sozialkonstruktivismus zu vermeiden. Ich möchte hier lediglich drei ansprechen, die relativ kurz behandelt werden können und die mit dem dem von Weber übernommenen Begriff des sozialen Handelns verbunden sind. Zum einen ist das Handeln nicht nur dann als sozial anzusehen, wenn es sich „in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen“ an anderen orientiert; Handeln ist zudem sozial, weil Handelnde immer schon sozialisiert sind. Das, was sozial an den Akteuren ist, fasst sie durch den Begriff des „Wissens“ (der immer an Handeln gebunden ist – selbst wo er zur „reinen“ Erkenntnis gemacht wird). Dabei sollte Wissen nicht als vom einzelnen Subjekt geschaffen angesehen werden. Wissen ist das, was als Sinn sozial vermittelt wird.
Das zweite Mißverständnis macht sich an der Differenz zwischen Handeln und sozialem Handeln fest. Schon bei Weber muss Handeln praktisch gar nicht stattfinden, und auch bei Schütz und Luckmann (1984) kann es völlig subjektiv bleiben: Man kann handeln, indem man nur denkt (etwa beim Rechnen). Allerdings sollte man einwenden, dass ein Handeln, das völlig subjektiv bleibt, kategorisch auch keine sozialen Folgen hat (wenn es, wie etwa das Rechenergebnis, soziale Folgen hat (das Auto wird verkauft), ist es nicht mehr subjektiv).[iii] Weil soziales Handeln in irgendeiner Weise für andere (u.a. auch mein Selbst) als (objektivierter) Sinn erfahrbar sein muss, muss es empirisch immer kommunikatives Handeln sein. (Dabei bezieht sich das Wort „empirisch“ gar nicht zuerst auf die „empirische Wissenschaft“, sondern auf das, was wir im sozialen Handeln erfahren können – und das schließt die Wissenschaft ein.
Ein drittes Missverständnis fasst das soziale Handeln als wesentlich eine Form des „Entscheidungsprozesses“: etwa als eine Art des logischen Schlusses (wie in der Theorie der Rationalen Wahl) oder als „Selektion“ (wenn man die „Kommunikation“ der Systemtheorie mit dem „sozialen Handeln vergleichen möchte). In der empirischen Erfahrung wie auch in der Forschung ist Handeln indes ein Prozess in der Zeit; dieser Prozess ist keineswegs nur (ja nicht einmal vorgängig) in der subjektiven Zeit; vielmehr wird er für die Beteiligten wie auch für die Beobachter (die immer auch Beteiligte sind) als verkörperter (objektivierter) Prozess in Zeit und Raum wahrgenommen. Luckmann (1994) behalf sich mit dem Begriff des „Vollzugs“, um diesen Aspekt anzudeuten, doch scheint mir der Begriff der Performanz hilfreicher, um hervorzuheben, dass kommunikatives Handeln eine eigene Ordnung hat – ja benötigt, um verstanden werden zu können. Darin inbegriffen ist auch der schon von Schütz so betonte „Wirk“-Aspekt des leibhaften kommunikativen Handelns, der unter dem Titel der „Performativität“ auch in anderen Theorien auftaucht. Die Bedeutungshaftigkeit von Objektivierungen (natürlich in starker Anlehnung an Mead) darf deswegen nicht statisch als „Zeichensystem“ oder Struktur zu verstehen, sondern ist im körperlichen Vollzug zu verstehen.
Die Weiterentwicklung des „kommunikativen Konstruktivismus“ und seine Radikalisierung (Keller, Reichertz, Knoblauch 2012) hat auch mit einem Versäumnis der ersten Ausarbeitung zu tun (Knoblauch 1995). Obwohl damals schon die massive gesellschaftliche Bedeutungszunahme der Kommunikation bis hin zu einer „geschwätzigen Gesellschaft“ (Knoblauch 1996) deutlich wurde, fanden die sich damals andeutenden tiefgreifenden Veränderungen der neuen Kommunikationstechnologien viel zu wenig Beachtung. Weil diese Veränderungen auch zugleich gesellschaftliche Veränderungen sind, sollte die Soziologie ihre empirische Analyse nicht anderen Wissenschaften überlassen. Dafür ist jedoch ein angemessener Begriff erforderlich: das kommunikative Handeln (im Sinne des kommunikativen Konstruktivismus) scheint mir dafür sehr geeignet.
Literatur
Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main.
Keller, Reiner, Hubert Knoblauch, Jo Reichertz (Hg.), Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Wiesbaden
Knoblauch, Hubert (1995): Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin und New York.
Knoblauch, Hubert (Hg.) (1996): Kommunikative Lebenswelten. Ethnographie einer ‚geschwätzigen ‚ Gesellschaft. Konstanz.
Knoblauch, Hubert (2000): Das Ende der linguistischen Wende. Sprache und empirische Wissenssoziologie, in: Soziologie 2 (2000), 16-28.
Knoblauch, Hubert (2012): Grundbegriffe und Aufgaben des kommunikativen Konstruktivismus, in: Reiner Keller, Hubert Knoblauch, Jo Reichertz (Hg.), Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Wiesbaden: VS, 25-48
Knoblauch, Hubert (2013): Alfred Schutz‘ Theory of Communicative Action, in: Human Studies, June 2013 (Online First), 1-15.
Latour, Bruno (2001): Eine Soziologie ohne Objekt. Anmerkungen zur Interobjektivität. Berliner Zeitschrift für Soziologie 1, 237-252.
Luckmann, Thomas and Gross, Peter (1977): Analyse unmittelbarer Kommunikation und Interaktion als Zugang zum Problem der Entstehung sozialwissenschaftlicher Daten‘. in: Hans-Ulrich Bielefeld, Ernest W. B. Hess-Lüttich and André Lundt (ed.): Soziolinguistik und Empirie. Beiträge zu Problemen der Corpusgewinnung und -auswertung. Wiesbaden, 198-207.
Luckmann, Thomas (1994): Theorie sozialen Handelns. Berlin und New York.
Reichertz, Jo (2010): Kommunikationsmacht. Wiesbaden.
Reichertz, Jo (2013): Gemeinsam Interpretieren. Über den Alltag der Gruppeninterpretation. Wiesbaden: Springer.
Schütz, Alfred und Thomas Luckmann (1984): Strukturen der Lebenswelt II. Frankfurt am Main.
Sprondel, Walter M. (1994): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann. Frankfurt am Main.
Tomasello, Michael (2009): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation . Frankfurt am Main.
Tuma, René, Bernt Schnettler, Hubert Knoblauch (2013): Videographie. Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Wiesbaden.
Viveiros de Castro, Eduardo (2012): Perspektiventausch: Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien, in: Irene Albers und Anselm Franke (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne. Zürich, 73-96.
[i] Der Titel meiner Habilitation hieß noch „Communio. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte“; sie wurde im Februar 1994 abgegeben und ein Jahr später veröffentlicht (Knoblauch 1995).
[ii] Ein sehr anschauliches empirisches Beispiel für diese Anschauung bietet Viveros de Castro (2012).
[iii] Dabei sollte man beachten, dass die Beispiele von Weber, aber auch anderen Theoretikern für Nicht-Handeln in der Regel Teilhandlungen bzw. Züge interaktiver Handlungssequenzen, häufig sogar institutionalisierter Art verwenden.