Geschichtswissenschaft und Soziologie

Das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft will ich jetzt knapp aus der Fachgeschichte meines Faches heraus beleuchten, in Form einer kleinen Genealogie. Im „Dritten Reich“ gab es in der „Ostforschung“ einen großen interdisziplinären Verbund von Historikern, Geografen, Soziologen, Volkskundlern, Kunsthistorikern, Sprachwissenschaftlern usw. Deren Ziel war es zu beweisen, dass der deutsche „Volksboden“ kulturell und rassisch bis weit in den Osten der damaligen Sowjetunion reichte. Ein junger Historiker, Werner Conze, ging bei zwei — cum grano salis — Soziologen in die Schule, Hans Freyer und Gunther Ipsen. Ipsen habilitierte Conze, Freyer übte mit seiner „Weltgeschichte Europas“ und der „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ erheblichen intellektuellen Einfluss auf ihn aus.

Nach dem Krieg stieg Conze, wenn auch mit Mühen, zu einem Großordinarius in Heidelberg auf, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die deutsche Geschichtswissenschaft, durch Politikhistoriker dominiert, sozialhistorisch zu renovieren. Conze hatte Kontakte zur Dortmunder Sozialforschungsstelle, an der Freyer, Ipsen und Conzes Freund Carl Jantke untergekommen waren, Freyer wiederum war zweimal auf Historikertage eingeladen worden, auf denen er seine etwas melancholische, verhalten optimistische Interpretation der modernen Industriegesellschaft vortrug. Unter dem Druck der ostdeutschen, der sowjetischen und der französischen Geschichtsschreibung setzten sich auch einige Historiker mit der Frage auseinander, wie man die moderne Welt interpretativ in den Griff bekommen könnte; einer von ihnen war Theodor Schieder. Es gab also bereits früh Historiker, die sich von Soziologen anregen ließen.

Aus dem Schülerkreis von Conze und Schieder stammte eine Reihe von Historikern, die sich in den frühen 1970er Jahren mehrheitlich an der Universität Bielefeld zusammenfanden und als „Bielefelder Schule“ bezeichnet wurden. Sie begründeten die „Historische Sozialwissenschaft“, orientierten sich an Marx, vor allem an Weber und einigen emigrierten Sozialhistorikern wie Hans Rosenberg, um eine dezidiert kritische Interpretation der deutschen Geschichte empirisch zu untermauern. Die führenden Protagonisten, Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler, loteten in Aufsätzen, Sammelbänden und Büchern das Verhältnis zu einigen Nachbarwissenschaften aus, besonders zur Soziologie. Ihnen dürfte es wohl zu verdanken sein, dass seit den 1980er Jahren in Teilen der Geschichtswissenschaft die soziologische Theoriebildung endgültig angekommen war — obwohl Wehler bösartig alles verbiss, was nicht Weber (und später Bourdieu) hieß. Ebenfalls aus dem Umfeld Conzes und Schieders kamen die Vertreter der Alltagsgeschichte, die die anglo-amerikanische Sozialanthropologie ins Spiel brachten, heftig angefeindet von Wehler, der auch Foucault und die jüngere Kulturgeschichte mit wüster Polemik überzog.

Doch Dank der gesellschaftspolitischen und institutionellen Pluralisierung und Expansion in der Bundesrepublik wuchs die Zahl der Professuren und des wissenschaftlichen Personals. Davon hatten die ältere Sozialgeschichte und die Historische Sozialwissenschaft profitiert, aber eben auch jüngere kulturwissenschaftlich orientierte Historiker, die sich, anders als Wehler, nicht vor einem schwulen Foucault gruseln, der sich in der Sado-Maso-Szene Kaliforniens tummelte. Die Geschichtswissenschaft ist viel, viel offener geworden. Historiker, die sich selbst als konservativ bezeichnen, akzeptieren Syndikalisten unter ihren Doktoranden und Dissertationen über Punks. Das gesellschaftspolitische Programm und der (zweifelhafte) wissenschaftliche Habitus der „Bielefelder“ wiederum sind nun selbst Gegenstand der Geschichtsschreibung geworden; im Sammelband „Was war Bielefeld?“ (Bielefeld 2009) wird durch die Erinnerungen Beteiligter „Bielefeld“ zu einem Erinnerungsort der alten Bundesrepublik stilisiert.

Historiker lassen sich mittlerweile von den Sozial- und Kulturwissenschaften inspirieren. Aber sie nehmen grundsätzlich die Haltung der „Untersuchungsrichter“ ein (das ist die Metapher des französischen Historikers Marc Bloch gewesen), die einer sauber abwägenden Beweisführung verpflichtet sind — einige wenige auch die der „Staatsanwälte“, die eine Anklage führen (etwa gegen Kollegen im „Dritten Reich“), ganz selten finden wir die „Strafverteidiger“ (vor allem unter den Schülern politisch belasteter Historiker). Ausgewogen und detailliert zeigen, was und wie es war, das ist ihre Aufgabe. Das Themenspektrum und die methodischen Zugriffe haben sich multipliziert, viel müheloser als früher kommen Historiker und Kulturwissenschaftler ins Gespräch, und Respekt zolle ich denjenigen traditionell verfahrenden Sozialhistorikern, die voller Interesse für neue Ansätze sind, obwohl sie sie nicht verwenden. Wir sind toleranter und neugieriger (und enthusiastischer?) geworden.

Aber die Grenze bleibt. Es gibt kein regelrechtes cross over, also das Eintreten verschiedener Disziplinen in dieselbe Geschichte. Die soziologische Frage, wie etwas funktioniert, das Aufzeigen von Mechanismen, wie Evidenz hergestellt und wirkmächtig wird usw., das erfordert eine andere Perspektive, und auch einen anderen Umgang mit Begriffen. Wenn man soziologische Begrifflichkeiten verwendet, um das empirische Material aufzuschlüsseln, zugleich aber in diesem Material eine Vielschichtigkeit beobachtet, die die Begriffe als recht unterkomplex erscheinen lässt, dann muss man die Begriffe unscharf machen, um Theorie und Empirie anzunähern. Da kommt dann glatt der Vorwurf, einem „Kult der Unschärfe“ zu frönen, und die Forderung, die Kategorien zu präzisieren. Und es ist ja auch so: Begriffe müssen etwas taugen, kann man den einen mühelos durch einen anderen ersetzen, war er wohl überflüssig. Man muss Begriffe sogar rein metaphorisch verwenden, etwa Hans-Jörg Rheinbergers „Experimentalsystem“ (dazu später), um Daten aufzuschlüsseln. Man muss, wie im Film oder einem Roman, offen sein für untergründige Geschichten, die sich einschmiegen, und die den Begriffen, nicht aber der Ästhetik entgehen. Die notwendige und hinreichende Präzision muss durch die Empirie eingeführt werden, hintenherum. Durch den hermeneutischen Zirkel versteht man mehr. Durch den empirisch-theoretischen Zirkel präzisiert man. Modellbildung? Folgt danach. Aber davor haben Historiker, auch ich, ohnehin eine Scheu.

Literaturhinweise:

Mergel, Thomas/Welskopp, Thomas (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997

Etzemüller, Thomas: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001

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