Aufgrund gesundheitlicher Probleme setze ich erst heute die Berichterstattung zum Soziologie-Kongress fort. Etwas spät, aber vielleicht lassen sich mit dem zeitlichen Abstand von etwa einer Woche die vielen Eindrücke übersichtlicher darstellen. Die Vielzahl parallel laufender Veranstaltungen erlaubte es lediglich einen Bruchteil der Vorträge zu hören. Daher sei vorab gesagt, dass es deutlich mehr Auseinandersetzungen mit dem Thema Flucht gab, als ich selbst beobachten konnte.
Spannend war etwa der Vortrag von Albert Scherr, der zunächst darauf aufmerksam machte, dass ihm auf dem Kongress 2014 in Trier vorgeworfen wurde, er würde das Flüchtlingsthema zu stark dramatisieren. Hierzu bedarf es keiner weiteren Kommentierung. Als einer der ganz wenigen Vertreter des Fachs, die sich dauerhaft mit Flucht beschäftigt haben, kann Scherr die aktuellen Entwicklungen – und hier insbesondere die Gesetzesänderungen – in einen Gesamtzusammenhang einordnen: Zum einen werde auf verschiedenen Ebenen Distanz hergestellt, zum anderen sei eine Tendenz zur Passivierung feststellbar.
U.a. durch die Nicht-Bekanntgabe von Abschiebeterminen und die Segregation von Flüchtlingen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern werde zivilgesellschaftlicher Protest zunehmend erschwert oder gänzlich vermieden. Insbesondere durch die entstehende Distanz zwischen Einheimischen und den Flüchtlingen, die in Gemeinschaftsunterkünften nun bis zu 6 Monaten verweilen, werde eine Solidarisierung zwischen „Menschen“ kaum noch möglich. Diese und eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen, die seit Herbst 2016 in Gesetztestext gegossen wurden, sind unter dem Titel „Vollzugsdefizite“ von der AG Rück (Arbeitsgemeinschaft Rückführung) bereits vor mehr als 5 Jahren gefordert worden. Es ist doch recht naheliegend, dass die „Krisensituation“ (aus)genutzt wurde, um diese AG Rück-Forderungen nahezu vollständig umzusetzen.
Darüber hinaus beschreibt Scherr die Ent-Verselbstständigung von Flüchtlingen, etwa durch die lange Zeit in der Erstaufnahme und die Wohnsitzauflage. Die zunächst äußerst aktiven Flüchtlinge würden so zunehmend passiviert, wodurch Eigeninitiative und proaktives Bewältigen der vielen Herausforderungen ausgehebelt werde.
Ohne auf alle Details näher eingehen zu können, wurde eine Strategie zur Abkühlung und Kanalisierung (öffentlicher) moralischer Empörung rekonstruiert. Zugleich entwickelt Scherr grundsätzliche Spannungsfelder und Fragestellungen, die nach soziologischen Analysen schreien. Etwa die Frage, um welche Krise es sich denn überhaupt handele: Ist es denn eine Krise staatlicher Kontrolle von Migrationsdynamiken oder aber eine Krise des Flüchtlingsschutzes mit fatalen Konsequenzen – entlang dieser Spannungslinie bewegen sich entsprechend auch die parallelen Diskurse. Oder auch, inwieweit die Soziologie derzeit in der Lage ist, umfassende Analysen vorzulegen, die über eine gute journalistische Arbeit hinausgehen. Das ihm wohl wichtigste Anliegen ist die Frage, ob – und wenn ja: wie – sich Sozialwissenschaftler/innen positionieren sollten und inwieweit sie Verantwortung für ihre öffentliche Wirkung tragen.
In Bezug auf die öffentliche Wirksamkeit und die Positionierung von Vertreter/inne/n des Fachs wurde – ähnlich wie schon beim Kongress 2014 – viel diskutiert. Etwa der Preisträger des DGS-Preises für öffentliche Soziologie, Heinz Bude, der dafür hinwies, dass Öffentliche Soziologie nur dann funktioniere, wenn man Position bezieht und damit den Diskurs nicht mehr nur beobachtet, sondern aktiv an ihm teilnimmt. Das bedeutet dann aber immer auch, dass man sich öffentlich angreifbar macht – und auch angegriffen wird.
Mit der gleichen Intention plädierte Ludger Pries in seinem Vortrag zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen für ein engagierteres Wirken von Wissenschaftler/inne/n. Dabei ginge es nicht darum normativ zu argumentieren, sondern viel stärker die normative Kraft des Faktischen in Analyse und Schlussfolgerungen zu berücksichtigen. Hierfür wäre eine umfassende Betrachtung notwendig, bei der nicht nur nationale und europäische Interessen und Herausforderungen relevant sind, sondern darüber hinaus auch globale Zusammenhänge, humanitäre Aspekte sowie Erkenntnisse der Migrationsforschung. Das Mittelmeer und das dortige Sterben, das „Rosinenpicken“ (also die selektive Immigration von Hochqualifizierten), rein demographische Argumentationen in Bezug auf Migration uvm. müssten demnach einer kritischen Analyse unterzogen und in den öffentlichen Diskurs gebracht werden. Aus einer solchen Perspektive käme man auf Schlussfolgerungen, die weitreichende Veränderungen heute und in Zukunft notwendig machen – nicht zuletzt müsse Fluchtmigration zu einem zentralen Thema der Soziologie werden und deutlich über dem nationalstaatlichen Horizont hinaus systematisch integriert werden.
Auf konkrete Schwierigkeiten und negative Folgen einer öffentlichen Positionierung hat auch Annette Treibel hingewiesen, die sich in ihrem aktuellen Buch „Integriert Euch!“ mit dem Diskurs über Deutschland als Einwanderungsland auseinandersetzte. Aber auch darüber hinaus habe ich mehrfach gehört, dass Anfeindungen mittlerweile an der Tagesordnung stehen – interessanterweise haben überwiegend Migrationsforscherinnen von Hassmails und Drohungen (z.T. mit Vergewaltigungsphantasien) berichtet. Ein Phänomen, das wir aus der Genderforschung schon länger kennen und das womöglich zeigt, dass hier nicht nur das Thema Migration verhandelt wird…