In einem Kommentar zu einem der vorausgegangenen Blog-Einträge hat der geschätzte Kollege Albert Scherr folgende Fragen aufgeworfen, die ich hiermit aufgreifen möchte:
„Die „Flüchtlingskrise“ kann als Bewährungsprobe für die Soziologie verstanden werden, als Herausforderung an ihre Begriffsbildung, ihr analytisches Instrumentarium und ihr Selbstverständnis. Was wäre kritische Soziologie im Kontext der Flüchtlingsdiskurse? Beim Kongress entstand bei mir der Eindruck, dass sie jedoch schlicht als ein Feld unter anderen, ggf. als eine neue spezielle Soziologie kleingearbeitet und eingegrenzt wird. Verweigert die Soziologie die Auseinandersetzung mit der Herausforderung, die in der „Flüchtlingskrise“ deutlich wird, weil sie sich erfolgreich als nationale Sozialwissenschaft etabliert hat? Diese Frage bedarf m.E. der Diskussion.“
Diese Fragen erfordern auch aus meiner Sicht eine intensive Auseinandersetzung. Auf dem Soziologiekongress in Bamberg war zu beobachten, dass es den Vertreter/inne/n des Fachs durchaus gelungen ist, relativ flexibel und solide auf das aktuelle Thema zu reagieren. Die akute Bewährungsprobe – nach dem Versäumnis, sich des Themas Flucht bereits vor der „Krise“ deutlich umfassender und systematischer anzunehmen – führte keineswegs zu einem Totalausfall. Das Thema scheint also in die soziologische Forschung zugewandert zu sein, es ist aber noch lange nicht voll inkludiert. Denn in der aktuellen Situation werden Problemstellungen deutlich, die im Prinzip jeden Soziologen und jede Soziologin auffordern, sich zu überdenken. An dem Thema Flucht stellen sich u.a. auch grundlegendere Fragen der Soziologie neu oder zumindest anders.
Welche Funktion kann der Nationalstaat überhaupt noch erfüllen, welche muss er erfüllen, was sind die Grenzen des Nationalstaats? Welche Rolle spielen Staatsgrenzen überhaupt noch? Nachdem die Durchlässigkeit für Geld, Güterproduktion und -transport sowie Kommunikation enorm ist, stellt sich die Frage: Sind es lediglich Grenzen für (bestimmte) Menschen? Oder sind es Verwaltungsgrenzen und damit auch Grenzen des öffentlichen Dienstes (dessen Teil ja auch die soziologischen Forscher/innen beheimatet sind). Der Organisation der Weltgesellschaft führt derzeit dazu, dass sich die in einem Staat Entrechteten – wenn sie denn können – auf einen Weg durch andere Staaten machen müssen, wobei sie auf diesem Weg zum Teil größten Gefahren ausgesetzt sind und meist weiter entrechtet werden. Wenn sie dann in einem aufnehmenden Staat ankommen, werden ihre Rechte (gar ihre Rechtmäßigkeit) geprüft, wobei in jedem Fall weiterhin eine prekäre Rechtslage (meist auf Dauer) erhalten bleibt. Wir haben also ein globales System, in dem gerade die Rechte eingegrenzt werden, die wir mit dem größten Adjektiv bezeichnen: universal. Dies ist nicht lediglich ein Abstraktum, es bedeutet, dass Menschen sterben. Nicht nur am Mittelmeer. Diese Grenzen erzeugen selbst ein weiteres Elend. Und das Desinteresse für dieses Elend erzeugt wiederum ein drittes Elend.
Ernst gemeinte Frage: Wie kann es eigentlich sein, dass sich die Soziologie kaum für Flucht und Grenzen interessiert (hat)? Wir beschäftigen uns so sehr mit den feinen Unterschieden, dass uns offenbar die Sensorik für die dramatischen und existentiellen Unterschieden fehlt. Dieser methodologische Nationalismus, mit dem der verstorbene Ulrich Beck die als selbstverständlich vorgegebene nationalstaatlich begrenzte Forschungsperspektive begrifflich erfasste, ist offenbar ein strukturelles Problem.
Und dadurch entsteht aus meiner Perspektive eine Sprachlosigkeit der (deutschen) Soziologie, der es nicht mehr gelingt, zu den Themen des öffentlichen Diskurses Gehaltvolles beizusteuern (zumindest beobachte ich dies sowohl auf Kongressen als auch bei der Sichtung der Publikationen, insbesondere in Fachzeitschriften). Etwa zum vielschichtigen Verhältnis zwischen reichen und zugleich alternden Bevölkerungen auf der einen und armen und zugleich jungen Bevölkerungen auf der anderen Seite innerhalb dessen, was wir Weltgesellschaft nennen; dadurch haben wir es (zumindest) in Europa mit einem zunehmenden durchschnittlichen Altersunterschied zwischen Migranten und einheimischer Bevölkerung zu tun (mit welchen Problemen geht diese Diskrepanz einher?); zum Verhältnis zwischen sozialen Ungleichheiten auf globaler und nationaler Ebene (muss es so sein, dass die soziale Ungleichheit innerhalb der Staaten zunimmt, wenn sie zwischen den Staaten abnimmt – wenn der Befund denn überhaupt stimmt?); zum Verhältnis zwischen (notwendiger) Islamkritik und Islamfeindlichkeit (ist die Unterscheidung vielleicht gerade deshalb so schwer, weil es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt?)…
Selbst zu einer so naheliegenden Frage, wie der Entstehung salafistisch orientierter (Jugend-)Milieus in Westeuropa gibt es kaum soziologische Analysen. Wie überhaupt zu den vielfältigen global beobachtbaren Radikalisierungsprozessen. Entsprechend sprachlos stehen wir da, wenn dann der Hass auch gegen Soziologinnen und Soziologen gerichtet wird. Sicher ist es richtig, wenn die Freiheit der Forschung dazu führt, dass Fragestellungen unabhängig davon bearbeitet werde, ob sie (derzeit) von öffentlichem Interesse sind oder nicht. Wenn aber gesellschaftlich zentrale Themen in der Soziologie kaum eine Rolle spielen, dann darf man doch mal naiv fragen: Warum ist das so?
Ein Gedanke zu „Wie kann es eigentlich sein, dass sich die Soziologie kaum für Flucht und Grenzen interessiert (hat)?“
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