Die Schuldenkrise in den südlichen Ländern des Euro-Raumes sowie in Irland hat einer wesentlichen Triebkraft des europäischen Einigungswerkes einen schweren Schlag versetzt. Es ist der bis dahin ungebrochene Glaube, dass die wirtschaftliche Integration Europas Frieden und Prosperität für alle in gleicher Weise garantiere. Der europäische Binnenmarkt und darüber hinaus das noch ehrgeizigere Projekt der Währungsunion sollten der Garant für diese segensreiche Entwicklung sein. Reiche und arme Länder, reiche und arme Menschen innerhalb der Länder sollten allesamt davon profitieren. Die ökonomische Lehre der komparativen Kostenvorteile weist nach, dass es sich dabei um keine Wunschvorstellung handelt, sondern um eine wissenschaftlich gut abgesicherte Voraussage. Allerdings sagen die Ökonomen auch, dass eine Währungsunion ohne eine Wirtschaftsunion nicht funktionieren kann, weil sonst diejenigen Verwerfungen auftreten, die nun tatsächlich zum Problem geworden sind.
Dass die bessergestellten Länder mit geringeren Schulden den hochverschuldeten Ländern helfen müssen, weil sonst die Union auseinanderbricht, wird zwar allseits eingesehen, wie und in welchem Umfang das geschehen soll, ist allerdings höchst umstritten. Während sich die Schuldner in zunehmendem Maße ihrer Souveränität beraubt und einem unzumutbaren Spardiktat der reicheren Länder unter Führung Deutschlands unterworfen sehen, fürchten die reicheren Länder und wiederum insbesondere Deutschland, auf unabsehbare Zeit für die mangelnde Haushaltsdisziplin der Südeuropäer und der Iren aufkommen zu müssen. Das überschreitet das vorhandene Maß an europäischer Solidarität bei weitem. Angela Merkel hat sich nun in zähen Verhandlungen in Rom auf ein Konjunkturprogramm und Hilfeleistungen eingelassen, von denen sie nur hoffen kann, dass sie nicht in dem Umfang den eigenen Haushalt belasten, der ihr den Unmut des deutschen Steuerzahlers beschert.
Der Umverteilung von Einkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sind engere Grenzen gesetzt, als dies innerhalb der Staaten bislang der Fall war, wobei ja auch hier die Bereitschaft zu solchen Maßnahmen deutlich abgenommen hat. Das zeigt in Deutschland der zunehmende Unwillen der reicheren Bundesländer, über den Länderfinanzausgleich den ärmeren Ländern unter die Arme zu greifen. Wurde das früher als ein Ausgleich für geringere Chancen zur Teilhabe am Wirtschaftsaufschwung betrachtet, so gilt es heute als eine unangebrachte Unterstützung von undiszipliniertem Haushaltsgebaren. Es ist demnach (noch) keine ausreichende Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der EU da, um Nachteile der ärmeren Länder im wirtschaftlichen Wettbewerb auszugleichen, während die Solidarität zwischen Regionen bzw. Bundesländern innerhalb der Mitgliedstaaten ganz offensichtlich abgenommen hat. Können wir damit rechnen, dass es sich dabei nur um ein vorübergehendes Problem der Anpassung von Solidaritäten an die wirtschaftliche Integration Europas handelt, oder müssen wir uns darauf einstellen, dass es sich um ein auf längere Sicht nicht aufzulösendes Dilemma handelt? Die Frage ist, ob mit der transnationalen Wirtschaftsintegration zwangsläufig eine Abnahme der nationalen Sozialintegration einhergeht, ohne dass es gleichzeitig zu einem Ausgleich dieses Verlustes durch europäische Solidarität kommt. Anders ausgedrückt: Bringt die europäische Integration paradoxerweise Effekte der Entsolidarisierung mit sich?
Nach der ökonomischen Lehre der komparativen Kostenvorteile müsste sich auf lange Sicht innerhalb eines Binnenmarktes eine Arbeitsteilung derart einstellen, dass die Produkte dort hergestellt werden, wo das am kostengünstigsten geht. Zwischen den Ländern müsste das zu einer jeweils vorteilhaften Spezialisierung führen. So würde zum Beispiel Griechenland günstigen Wein und schöne Strände gegen deutsche Maschinen und Automobile tauschen. Wenn die Griechen dabei auch nicht zu demselben Einkommen wie die Deutschen gelangen, so stellen sie sich nach der Theorie trotzdem besser als in einem Zustand ohne internationale Arbeitsteilung. Im europäischen Binnenmarkt können sie ja auch auf preisgünstigere italienische Automobile ausweichen und gleichzeitig Touristen aus Deutschland an ihre Strände locken. Jetzt hat allerdings die gemeinsame Währung den Urlaub in Griechenland verteuert und damit weniger attraktiv für deutsche Urlauber gemacht. Mangelnde Steuereinnahmen konnten durch zinsgünstige Euro-Kredite ausgeglichen werden, was die Staatsschulden in schwindelnde Höhen getrieben hat. In der Realität kommen eben Störfaktoren hinzu, die verhindern, dass sich die durch das Modell vorhergesagten Ergebnisse einstellen.
Es wird außerdem ausgeklammert, wie das im internationalen Austausch erzielte Volkseinkommen verteilt wird. Zunächst war es in der Tat eine Erfolgsgeschichte der europäischen Wirtschaftsintegration, dass die ärmeren Länder ihr Bruttoinlandsprodukt gesteigert haben und auch durch höhere Wachstumsraten die Abstände zu den reicheren Ländern verringert wurden. Dabei wurde aber weniger beachtet, dass in fast allen Ländern – reicheren und ärmeren – die Einkommensungleichheit zugenommen hat. Das ist ein Zeichen für schrumpfende innere Solidarität und entsprechend gesunkene Kapazitäten des Staates, für einen Ausgleich der durch den Marktwettbewerb produzierten Ungleichheit der Einkommen zu sorgen (Münch 2008). Eine Studie von Jason Beckfield (2006) weist in der Tat nach, dass die europäische Wirtschaftsintegration nahezu die Hälfte der gewachsenen Einkommensungleichheit innerhalb der Länder erklärt. Das heißt, abnehmende Ungleichheit zwischen den Ländern ist von zunehmender Ungleichheit innerhalb der Länder begleitet worden. Auch das wird durch eine weitere Studie von Beckfield (2009) bestätigt. Eine extreme Erscheinungsform der inneren Entsolidarisierung der Länder sehen wir in der Steuer- und Kapitalflucht ihrer reichsten Bürger, die ihrem Staat nichts geben wollen, weil er offensichtlich nicht gut wirtschaftet. Sie investieren lieber im Ausland, weil sie sich dort höhere Renditen versprechen.
Auch in den reicheren Ländern zeigt sich eine wachsende Kluft zwischen den Eliten, die von der europäischen und globalen Wirtschaftsintegration profitieren und sich nicht mehr ausschließlich der eigenen Nation verpflichtet fühlen, und der Masse der Bürger, die sich an den Rand gespült sehen oder zumindest befürchten, dorthin gedrängt zu werden (Haller 2008). Infolgedessen ist die Identifikation mit Europa und die Unterstützung der europäischen Integration höchst ungleich in der Bevölkerung verteilt. Sie sind eine Sache der Eliten, während die breite Masse viel zurückhaltender ist, die nationale Identität auf jeden Fall nicht aufgeben will und weiterhin als einen Anker der Sicherheit gerade in einer unsicherer gewordenen Welt betrachtet (Europäische Kommission 2010: 113).
Hinter der europäischen Schuldenkrise verbergen sich tiefgreifende Verwerfungen. Die Aufholbewegung der ärmeren Länder wurde mit einer Verschuldung bezahlt, die sie nicht mehr ohne äußere Hilfe abtragen können und die nachfolgenden Generationen immens belastet. Zugleich ist die innere Ungleichheit in fast allen Ländern gewachsen und hat Effekte der Entsolidarisierung und Desintegration zwischen den Ländern und innerhalb der Länder mit sich gebracht. Für den Ausbau einer handlungsfähigen Wirtschaftsunion oder gar politischen Union fehlen deshalb die Grundlagen der zwischen- und innerstaatlichen Solidarität (Bach 2008). Deshalb bleibt den Regierungen des Euroraumes nichts anderes übrig, als kooperative Formen der Krisenbewältigung zu entwickeln, die weniger effektiv als eine echte Wirtschaftsunion sind. Weitere Krisen werden nicht ausbleiben, und ihre Bewältigung wird weiterhin immer wieder neu verhandelt werden müssen. Mehr ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
Mit diesen Überlegungen ist längst nicht alles gesagt, was die Soziologie zum Projekt der europäischen Integration zu sagen hat. Es ist eine Aufgabe von größter Kulturbedeutung. Die Soziologie sollte ihre Bearbeitung nicht der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft allein überlassen. Die Soziologie in Deutschland für diese Aufgabe zu gewinnen, ist Ziel der Sektion Europasoziologie, die von Maurizio Bach geleitet wird (http://www.soziologie.de/index.php?id=107). Sie wird in diesem Bemühen neuerdings von einer überregionalen Forschergruppe unterstützt, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird (http://www.horizontal-europeanization.eu/). Hoffen wir also auf mehr soziologische Aufklärung über einen gesellschaftlichen Wandel, der tief in unser Leben hineinwirkt (Eigmüller und Mau 2010).
Literatur
Bach, Maurizio. 2008. Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der europäischen Integration. Wiesbaden: VS Verlag.
Beckfield, Jason. 2006. „European Integration and Income Inequality.“ American Sociological Review 71 (6), S. 964-985.
Beckfield, Jason. 2009. „Remapping Inequality in Europe. The Net Effect of Regional Integration on Total Income Inequality in the European Union.“ International Journal of Comparative Sociology 50 (5-6), S. 486-509.
Eigmüller, Monika und Steffen Mau (Hg.). 2010. Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Wiesbaden: VS Verlag.
Europäische Kommission. 2010. Eurobarometer 73, Frühjahr 2010. Brüssel.
Haller, Max. 2008. European Integration as an Elite Process. The Failure of a Dream. London und New York: Routledge.
Münch, Richard. 2008. Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Zur Dialektik von transnationaler Integration und nationaler Desintegration. Frankfurt/New York: Campus.
Sehr geehrter Kollege Münch,
Ihre Thesen sind äußerst spannend. Hätten Sie nicht Lust, einen Beitrag für „meine“ Zeitschrift zu verfassen?
Freundliche Grüße
Prof. Dr. Bernhard Blanke
dms – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management
Sehr geehrter Herr Kollege Blanke,
vielen Dank für Ihr Interesse an meinem Essay und für Ihre Einladung, einen Beitrag für Ihre Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management zu schreiben. In der absehbaren Zeit bin ich ziemlich eingedeckt mit dem Abarbeiten von Projekten. Bei etwas mehr Freiraum komme ich gerne darauf zurück.
Viele Grüße
Richard Münch
Schön, dann behaelten wir das im Auge, Sie könnten ja mit Ihren „Team“ eine größere Sache machen, d.h. einen Teilschwerpunkt (ca. 100 – 120 Seiten) für das Heft 2/2013. Ich halte das Thema „Solodarität“ in der mainstream Debatte für völlig unterbelichtet!! Wenn Sie mein Editorial zum akutellen Heft lesen, sehen Sie, dass ich ganz kurz diese Problematik angeschnitten haben, Ich sende Ihnen das Heft zu.
Beste Grüße
Bernhard Blanke
Ich bespreche das mit meinen Kollegen in der Forschergruppe zu europäischen Vergesellschaftungsprozessen bei unserem nächsten Treffen Ende September und melde mich dann.
Viele Grüße, Richard Münch