Dass die Sicherheit Israels zu unserer Staatsräson gehört, ist ein Satz, der sich seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 durch die politischen und medialen Debatten in Deutschland zieht. Die im Begriff der Staatsräson zusammengezogene Interpretation der historischen Verantwortung Deutschlands zeichnet sich aktuell dadurch aus, dass sie eher an Sicherheitsfragen als an ein gründliches Durcharbeiten der Vergangenheit gebunden ist. Indem komplexe politische, rechtliche und moralische Erwägungen auf diesen Generalnenner gebracht werden, wird Widerspruch tabuisiert. So kommentierte Nikolaus Busse die jüngst angekündigte Beschränkung von Waffenlieferungen an Israel mit dem Verweis darauf, dass man dann von Staatsräson auch nicht mehr reden solle (FAZ, 8.8.2025). https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/weniger-waffen-fuer-israel-von-staatsraeson-sollte-man-nicht-mehr-reden-110629359.html
Als Soziologin, die sich seit Jahrzehnten mit Transitional Justice, Versöhnung, kollektiver Erinnerung und Prozessen der Aufarbeitung von Massengewalt beschäftigt, treibt mich – wie viele andere – die Schräglage und Verengung der öffentlichen Debatte um. Es ist vielleicht hilfreich, die Bedeutungsschichten der Staatsräson freizulegen und mit dem Holocaust in seiner historischen Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit in Zusammenhang zu bringen.
Was Bundeskanzlerin Merkel und Botschafter Dreßler über die Staatsräson sagten
Die meisten aktuellen Debatten über die Staatsräson verweisen auf die Rede, die die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18.März 2008 in Jerusalem vor der Knesset gehalten hat. https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796170 Am Ende der Rede diskutierte sie sowohl die Terrorstrategie der Hamas als auch die Bedrohung durch das Atomprogramm des Iran. Dazu betonte sie: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar“. Diese historische Verantwortung wird daraus abgeleitet, dass Deutschland und Israel für immer „auf besondere Weise durch die Erinnerung an die Shoah verbunden“ seien. Es geht hier also um die Verantwortung für den Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, aber auch – und dies wird in den aktuellen Debatten zumeist übersehen – um eine spezifische Lehre, die sich daraus für das ›Land der Täter‹ ableitet: „Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen in Deutschland und in Europa nie wieder Fuß fassen, und zwar weil alles andere uns insgesamt – die deutsche Gesellschaft, das europäische Gemeinwesen, die demokratische Grundordnung unserer Länder – gefährden würde“. Sie verweist ferner auf die von Deutschland und Israel geteilten Werte der „Freiheit, Demokratie und der Achtung der Menschenwürde. Sie ist das kostbarste Gut, das wir haben: die unveräußerliche und unteilbare Würde jedes einzelnen Menschen – ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seines Glaubens, seiner Heimat und Herkunft“.
Ein paar Jahre vor der Rede der Bundeskanzlerin hatte bereits Rudolf Dreßler (SPD), der von 2000 bis 2005 Botschafter in Israel war, die gesicherte Existenz Israels als deutsche Staatsräson benannt. In einem Beitrag in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ beschrieb er 2005 die Opferzahlen der zweiten Intifada auf palästinensischer und israelischer Seite sowie die tägliche Bedrohung und Aberkennung der Existenzberechtigung, der Israelis permanent ausgesetzt seien https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29118/gesicherte-existenz-israels-teil-der-deutschen-staatsraeson-essay/ . Die gesicherte Existenz Israels sei Teil der deutschen Staatsräson (Dreßler 2005:8) und wirtschaftliche Beziehungen, Jugendaustausch, Kultur und Sport wichtige Instrumente, um die deutsch-israelischen Beziehungen zu stärken. Auch hier wird ein grundlegendes Argument vorgebracht: „Wenn die Lehre aus den Verbrechen Deutschlands ab 1933 eindeutig ist und sie im Imperativ unserer Verfassung, in Artikel 1, ihren Niederschlag gefunden hat, ist sie Auftrag zugleich: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.‘“ (Dreßler 2005: 3)
Erinnerungspolitik und Geschichtsbewusstsein in der Berliner Republik
Die Äußerungen Dreßlers und Merkels verweisen auf einen Deutungskonsens, der sich nach der deutschen Wiedervereinigung allmählich herausbildete und seinen materiellen Ausdruck in der Erinnerungslandschaft in Berlin fand. In dem Jahr, in dem Dreßler seinen Text veröffentlichte, war im politischen Zentrum der Berliner Republik das Denkmal für die ermordeten Juden Europas feierlich eingeweiht worden. Und im Jahr der Merkelschen Rede vor der Knesset folgte auf der anderen Straßenseite die Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen (2008). Die Errichtung der Berliner Denkmäler markierte eine Wende in der staatlichen Erinnerungspolitik, die sich nun auf das ritualisierte Gedenken an den Holocaust auszurichten begann. In Berlin-Mitte entstand eine Erinnerungslandschaft um verschiedene Opfergruppen herum. Es folgten das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas (2012), der Gedenkort für die Opfer der NS-›Euthanasie‹-Morde (2014) und schließlich das (noch provisorische) Denkmal für die polnischen Opfer der deutschen Besatzung (2025). Es ist im Kontext der aktuellen Verweise auf die historische Verantwortung Deutschlands vielleicht hilfreich, noch einmal daran zu erinnern, dass die Entstehungsgeschichte dieser Denkmäler von harten Deutungskämpfen und Auseinandersetzungen um die Interpretation der NS-Geschichte begleitet war. Der Bundestag hatte 1999 einen Beschluss zur Errichtung des Stelenfeldes nach dem Entwurf von Peter Eisenman gefällt, dem eine langjährige Debatte vorangegangen war, ausgelöst durch eine Initiative der Publizistin Lea Rosh im Jahr 1988.
Debatten und Bruchlinien
Durch die erinnerungspolitischen und geschichtswissenschaftlichen Debatten zogen sich zwei wesentliche Diskursstränge. Zum einen geriet immer mehr das „miteinander verflochtene, sich wechselseitig radikalisierende Gewaltgeschehen“ (Wildt 2022: 138) der ›Lebensraum‹- und Vernichtungspolitik in seiner ganzen Komplexität in den Blick. Es wurde deutlich, dass die Ermordung der als jüdisch kategorisierten Menschen den Kern ausmachte, aber auch die Vernichtung anderer als ›minderwertig‹ oder ›gefährlich‹ eingestuften Gruppen zum Neuordnungsprojekt des Projekts des ›Tausendjährigen Reiches‹ gehörte. Neben der mit der nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik verbundenen Entgrenzung der Gewalt wurde nun – und dies ist der zweite zentrale Diskursstrang in den ersten Jahren der Berliner Republik – die Rolle der konkret Beteiligten sowie das alltägliche Handeln, Unterstützen und Wegsehen verstärkt diskutiert. Der Film „Schindlers Liste“ (1993), das Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ des US-amerikanischen Sozialwissenschaftlers Daniel Goldhagen und die Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung (1995-1999) waren zentrale Bezugspunkte einer Debatte um die Rolle von ›ganz gewöhnlichen‹ Deutschen im Nationalsozialismus. Wenige Jahre später veröffentlichten Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall den Band „Opa war kein Nazi“ (2002), der auf Mehrgenerationeninterviews beruht und danach fragt, ob und wie Geschichtsbewusstsein innerhalb von Familien tradiert wird. Die Ergebnisse waren ernüchternd. Zwei Drittel der Mehrgenerationeninterviews beinhalteten vor allem Opfererzählungen oder Anekdoten über Heldentaten und persönlichen Mut. Diese Studie ist auch aus heutiger Sicht noch wichtig, weil sie zeigte, dass die ritualisierte Erinnerung an den Holocaust zu einem Zeitpunkt zur Grundlage der Staatsräson wurde, als die Enkelgeneration ein Geschichtswissen erlernte, das von der tradierten und kommunikativen Erinnerung abgekoppelt war. Und es ist dieses Auseinanderdriften von Geschichtsbewusstsein und offiziellem Erinnerungsdiskurs, das auch den Verweis auf die Staatsräson so schal macht.
Die Singularität des Holocaust
Im Kontext dieser erinnerungspolitischen und geschichtswissenschaftlichen Debatten habe ich die Formel von der Singularität des Holocaust immer auf die Monstrosität des gesamten Gewaltgeschehens bezogen, sowohl auf den fabrikmäßigen Massenmord in den Konzentrationslagern als auch auf die systematische und entgrenzte Gewalt im Zuge der ›Lebensraum‹-, Besatzungs- und Vernichtungspolitik, in dessen Kern die antisemitisch motivierte Vernichtung der als jüdisch klassifizierten Menschen stand und der weitere als ›minderwertig‹ oder ›gefährlich‹ charakterisierte soziale Gruppen zum Opfer fielen. Es geht dabei sowohl um die professionelle Organisation der Vernichtung als auch um die Haltungen und Handlungen von Millionen von Mitläufer:innen, Denunziant:innen und Wegseher:innen, die die Dehumanisierung, Entrechtlichung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden, Homosexuellen, ›Asozialen‹, Menschen mit Behinderung, Sinti und Roma und anderen ›minderwertigen‹ oder ›gefährlichen‹ Menschen mitgetragen haben. Der Holocaust „symbolisiert den Höhepunkt der von Menschen über Menschen in Gang gesetzten Repression, er verkörpert die permanente Möglichkeit totaler Zertretung des menschlichen Antlitzes und der menschlichen Würde, die Entmenschlichung durch den Menschen“ (Zuckermann 1998, 34). Aus dieser Monstrosität erwächst die historische Verantwortung.
Wie die Menschenwürde in die Verfassung kam
Wie Dreßler und Merkel in ihren Beträgen betonten, leitet sich die Staatsräson aus dieser historischen Erfahrung ab und ist unmittelbar mit der Anerkennung der Würde des Menschen verbunden. Der Parlamentarische Rat, der eine vorläufige Verfassung für die von den Westalliierten kontrollierten Gebiete ausarbeiten sollte, hat in seinen Debatten keine detaillierte Aufarbeitung der deutschen Schuld – und insbesondere des Holocaust – vorgenommen, aber doch ein neues Gerüst entworfen, an dem sich die spätere Politik ausrichten sollte. In der vierten Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates vom 23. September 1948 wurde ein erster Entwurf des ersten Artikels des Grundgesetzes diskutiert. Ludwig Bergsträsser (SPD) erklärte zu Beginn der Sitzung knapp, man habe „absichtlich erklärt, daß das deutsche Volk sich nach den bitteren Erfahrungen in der Nazi-Zeit erneut zu ihnen [den vorstaatlichen Grundrechten] als der Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft bekennt. Wir wollen damit den Gegensatz gegen die zwölf Jahre Willkürherrschaft deutlich herausstellen“ (Deutscher Bundestag und Bundesarchiv 1993: 63). In den Diskussionen um die Formulierung des Art. 1 ging es in der Folge u.a. um die Frage, ob die Menschenwürde naturrechtlich oder „von Gott gegeben sei“. Letzteres war noch Thema auf der zweiten Lesung des Abschnitts auf der 42. Sitzung des Hauptausschusses am 18.1.1949 (Deutscher Bundestag und Bundesarchiv 2009: 1289), bei der dritten Lesung des Hauptausschusses am 8.2.1949 wurde der finale Text ohne Diskussion angenommen (Deutscher Bundestag und Bundesarchiv 2009: 1485) In Art.1(1) ist nun der Grundsatz verankert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Dass eine „in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ von fundamentaler Bedeutung ist, machte auch Habermas im berühmten Historikerstreit (S.77) der 1980er Jahre deutlich. Im revisionistischen geschichtswissenschaftlichen Klima der Ära Kohl betonte er: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus“ (ebda). Die Gegenwart scheint jedoch eher von der Gewöhnung an moralische Indifferenz, neue Konstruktionen des inneren Feindes und unterschiedliche Standards der Betrauerbarkeit geprägt zu sein. Es täte uns gut, eine neue Bindung an die Verfassung Art 1 Abs. 2 herzustellen: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.
Literatur
Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.) (1993). Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle. Bd. 5 Ausschuss für Grundsatzfragen. Boppard am Rhein: Boldt
Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.) (2009). Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle. Bd. 14/I Hauptausschuss. München: Oldenbourg.
Habermas, Jürgen (1987). Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München: Piper, 62-76
Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline (2002). „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer.
Wildt, Michael (2022). Was heißt: Singularität des Holocaust?, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 19 (1), 128-147.
Über die Autorin
Prof. Dr. Anika Oettler ist Professorin für Soziologie (gesellschaftliche Entwicklung und vergleichende Sozialstrukturanalyse) an der Philipps-Universität Marburg.