Corona und der Stillstand der sozialwissenschaftlichen Forschung – Einrichtung eines Forums auf dem SozBlog der DGS
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
der mit dem Coronavirus begründete lockdown des gesellschaftlichen Lebens hat auch zu einem Stillstand fast jeder Art von ‚kontaktgebundener‘ Sozialforschung geführt – unabhängig davon, ob sie qualitativ/interpretativ oder quantitativ vorgeht.
Der Vorstand der DGS hat sich deshalb einstimmig daür ausgesprochen, auf der Homepage der DGS ein Forum zu diesem Thema einzurichten. Dort sollen Interessierte alle dringenden praktischen, methodischen, methodologischen, ökonomischen und rechtlichen Probleme von Sozialforschung, die mit der neuen Situation einhergehen, ansprechen und diskutieren können. Zeit zu warten haben alle, die gerade in Forschungsarbeiten stecken, nämlich nicht.
Ein Beispiel aus meiner eigenen Forschung zeigt das Besondere der aktuellen Lage sehr deutlich: Wir untersuchen in einem DFG-Projekt mittels beobachtender Teilnahme, wie sich das Kommunikationsverhalten von Familien, in denen ein Mitglied mit der Diagnose Demenz leben muss, verändert. Zu diesem Zweck begleiten wir die Familien über mehrere Jahre in drei Untersuchungswellen. Der Beginn der dritten und abschließenden Welle stand März/April an. Und dann kam Corona. Natürlich stellten wir sofort alle Beobachtungen ein. Statt dessen widmeten wir uns der gemeinsamen Video-Interpretation der bereits erhobenen Daten (Memos, Videos, Gespräche etc.).
Um die noch ausstehende dritte Beobachtungswelle irgendwann durchführen zu können, fragten wir beim Gesundheitsministerium und dem Landeszentrum Gesundheit NRW an, ob es vertretbar ist, dass wir die Familien zu einem späteren Zeitpunkt erneut besuchen und dass wir im Vorfeld dieser Besuche uns auf Corona testen lassen könnten. Der Bescheid des Landeszentrums Gesundheit NRW war eindeutig: Man teilte uns mit, dass der Besuch von vulnerablen Personengruppen sowohl im Pflegeheim als auch in Privatwohnungen vorerst untersagt sei. Zum zweiten beschied man uns, dass diese Art der Forschung nicht systemrelevant ist - somit wir also nicht mit einer Testung rechnen dürften.
Ein solcher Bescheid ist angesichts der aktuellen Situation sicher nachvollziehbar. Was schon schwieriger zu verstehen ist, ist die Tatsache, dass auf Amtsebene entschieden wird, welche Forschung systemrelevant ist und welche nicht. Der Bescheid hätte sicherlich ein anderes Ergebnis gehabt, hätten wir untersuchen wollen, wie hoch die Infektionsrate in Familien mit älteren Familienmitgliedern bereits ist. Aber das ist nicht wirklich der Punkt, um den es mir geht.
Der Punkt, um den es mir hier geht, ist, dass alle Forschungsarbeiten - seien es Examensarbeiten, seien es Promotionen und Habilitationen, seien es drittmittelgeförderte Projekte aller Art oder private Vorhaben - in den nächsten Wochen und Monaten, möglicherweise in den nächsten Jahren keine Untersuchungsmethoden anwenden dürfen, die einen Kontakt zu den Untersuchten zur Voraussetzung haben. Damit wäre jede Art von Interviews, von Fokusgruppen, von teilnehmender Beobachtung und beobachtenden Teilnahme in nächster Zeit ausgeschlossen. Auch wenn sich manches auf Online-Betrieb umstellen lässt, verändert das die Praxis der Sozialforschung massiv.
Dies auch, weil nicht nur Formen der Datenerhebung, sondern auch der Datenauswertung betroffen sind: so müssen alle Formen der gemeinsamen Datenauswertung ausfallen oder sie müssen aber auf mindergute Formen der gemeinsamen Auswertung per Videokonferenz umstellen.
Daraus ergeben sich eine Fülle von Fragen. Vordringlich sind sicher Fragen nach der finanziellen oder rechtlichen Weiterführung der Projekte. Was passiert mit Projekten, die gerade angefangen haben und ihre Forschung nicht durchführen können? Was passiert mit Projekten, die mitten in der Arbeit sind? Wie sieht es mit Projektverlängerungen aus, wie mit der Finanzierung der Mitarbeiterinnen? Was wird aus den Magisterarbeiten, Dissertationen und Habilitationen? Hier sind sicherlich die jeweiligen Drittmittelgeber, die Universitäten aber auch die jeweiligen Fachverbände gefragt. Die DFG hat schon sehr früh reagiert und aufwandsarme (kurze) Verlängerungen in Aussicht gestellt. Doch wie wird das aussehen?
Der nächste Fragenkomplex adressiert erkenntnistheoretische Fragen: Wie verändert sich kurz- bis mittelfristig die Datenerhebung (digital, online) und welche Folgen hat die Kontaktlosigkeit für die Güte von Forschung? Welche digitalen Infrastrukturen benötigt man (im Institut und bei den Untersuchten), um eine solche Forschung zu betreiben? Wer finanziert das? Wie verändert sich die Auswertung und welche Folgen hat das für den Erkenntniswert der Forschung?
Auch wir haben im unserem Demenz-Projekt bereits Pläne dafür, unsere Feldbeobachtungen teilweise durch lange Videokonferenzen zu ersetzen: Wir planen, mittels geeigneten Plattformen, bei Kaffee und Kuchen über längere Zeit mit den untersuchten Familien virtuell zusammen zu sitzen und uns zu unterhalten, virtuell zusammen zu essen und zu trinken und das zu tun, was sich in einem solchen Setting so tun lässt (was nicht viel ist). Natürlich ist das keine beobachtende Teilnahme mehr und natürlich ist das Medium hier mehr als nur der Vermittlungs- und Transportkanal. Aber wie wirkt sich solch ein Setting, oder allgemeiner: wie wirkt sich die Digitalisierung der Datenerhebung auf den Erkenntnisgewinn aus? Wie verändert das die Beziehung zwischen Forscher*innen und Untersuchten? Von welcher Qualität sind die Daten? Welche ethischen Überlegungen sind hier zu berücksichtigen?
Fraglich werden auch kontaktgebundene Formen der Auswertung dieser Daten. Da auch hier damit gerechnet werden muss, dass in nächster Zeit Gruppeninterpretationen vorerst nur unter erschwerten Verhältnissen möglich bzw. unmöglich sind. Unsere aktuell gemachten Erfahrungen mit gemeinsamen Video-Interpretation zeigen zwar, dass das im Prinzip geht. Sie zeigen aber auch, dass die gemeinsame Auswertung von Daten (z.B. Videos), sofern die Software und die jeweiligen Bandbreiten der Provider es zulassen, Besonderheiten aufweist, sehr viel zeitraubender, anstrengender und weniger effektiv ist.
Fragen genug also, deren Klärung nicht darauf warten kann, dass sie auf Tagungen oder in Zeitschriftenartikeln diskutiert werden. Deshalb habe ich hier mit grosser Unterstützung der DGS ein Forum einrichten können, in dem diese Diskussion zeitnah, kontaktlos und öffentlich geführt werden kann. Das Forum ist ein Ort, an dem alle Interessierten zentral Informationen über neue Möglichkeiten von Forschung unter Coronabedingungen austauschen können. Es lebt davon, dass möglichst viele Kolleginnen und Kollegen es nutzen – also Fragen stellen, Informationen austauschen und praktische, theoretische und methodische/methodlogische Fragen zu alten Problemem und neuen Lösungen diskutieren.
Jo Reichertz
Prof. em. Dr. Jo Reichertz
Senior Fellow
Member - Board of Directors
Institute for Advanced Study in the Humanities
Goethestraße 31
45128 Essen
Jo.Reichertz@KWI-nrw.de