Sozialwissenschaftliche Forschung braucht Kontakt und Austausch: sowohl mit denen, zu denen Forschung betrieben wird, als auch mit denen, mit denen Forschung betrieben wird. Die Coronapandemie hat dazu geführt, dass die Politik menschlichen Kontakt sehr stark eingeschränkt hat. Das Besondere an Corona ist, dass der Virus (vornehmlich) von Menschen übertragen wird, die selbst noch keine Symptome aufweisen – weshalb nicht nur hustende Menschen eine potentielle Ansteckungsquelle darstellen, sondern prinzipiell jeder und jede. Alle meine Mitmenschen werden damit generell zu Gefahrenquellen für meine Gesundheit. Wenn man selbst zu einer besonders gefährdeten Gruppe gehört, dann kann jede Begegnung mit anderen potentiell lebensgefährlich sein. Da man keinen Anhaltspunkt dafür hat, wer ein gefährlicher Mitmensch sein könnte, entwickelt sich schnell ein Generalverdacht.
Zudem gilt: Man weiß auch von sich selbst nicht, ob man gerade eine Virenschleuder ist, somit seine Mitmenschen ungewußt und ungewollt gefährdet und vielleicht auch (massiv) schädigt. Grund genug, den Generalverdacht auch auf sich selbst zu lenken. Dagegen hilft nur (so hoffen viele) ein räumlicher Mindestabstand, der schnell zum sozialen Abstand führt – und so auch zu einer schleichenden Entfremdung. Corona demonstriert somit die soziologisch wichtige Tatsache, dass auch soziale Nähe jeden Tag (kommunikativ) neu hergestellt werden muss. Bleibt man körperlich auf Abstand, dann wächst (ungewollt und ungewußt) eine soziale Distanz, eine Kluft.
Diese durch den Generalverdacht, dass jede/r eine potentielle Gefahr für andere darstellt, entstandene Distanz erschwert auch die sozialwissenschaftliche Forschung. Das gilt allgemein, aber besonders, (a) wenn Gruppen untersucht werden, die besonders gefährdet sind, oder (b) wenn im Forscherteam Personen sind, die besonders gefährdet sind. Mit einem Beispiel aus meiner eigenen Forschung möchte ich das Besondere der aktuellen Lage deutlich machen, - und zwar den Fall, wenn die Untersuchteneiner gefährdeten Gruppe angehören.
Wir untersuchen in einem DFG-Projekt mittels beobachtender Teilnahme, wie sich das Kommunikationsverhalten von Familien, in denen ein Mitglied mit der Diagnose Demenz leben muss, verändert. Zu diesem Zweck begleiten wir die Familien über mehrere Jahre in drei Untersuchungswellen. Der Beginn der dritten und abschließenden Welle stand März/April an. Und dann kam Corona. Natürlich stellten wir sofort alle Beobachtungen ein. Stattdessen widmeten wir uns der gemeinsamen Video-Interpretation der bereits erhobenen Daten (Memos, Videos, Gespräche etc.) und der Erstellung erster Papiere.
Um die noch ausstehende dritte Beobachtungswelle irgendwann durchführen zu können, fragten wir beim Gesundheitsministerium und dem Landeszentrum Gesundheit NRW an, ob es vertretbar ist, dass wir die Familien zu einem späteren Zeitpunkt erneut besuchen und dass wir im Vorfeld dieser Besuche uns auf Corona testen lassen könnten. Der Bescheid des Landeszentrums Gesundheit NRW war eindeutig: Man teilte uns mit, dass der Besuch von „vulnerablen Personengruppen“ sowohl im Pflegeheim als auch in Privatwohnungen vorerst untersagt sei. Zum zweiten beschied man uns, dass diese Art der Forschung nicht systemrelevant ist - somit wir also nicht mit einer Testung rechnen dürften.
Einen solchen Bescheid kann man sicherlich nachvollziehen, aber ohne Zweifel macht er die weitere Forschung, so wie sie geplant war, unmöglich. Das bringt nicht nur die Forschung ins Stocken, sondern auch die mit der Forschung verbundenen Qualifikationsarbeiten und Lebens- und Karriereplanungen. Da Klagen in der Regel nicht wirklich weiterhilft, suchten und suchen wir nach Lösungen bzw. alternativen Wegen der Feldforschung (siehe auch den Blogbeitrag DOING FIELDWORK IN A PANDEMIC).
So planen wir, unsere Feldbeobachtungen teilweise (und vorerst) durch lange Videokonferenzen zu ersetzen: Mittels geeigneter Plattformen wollen wir bei Kaffee und Kuchen über längere Zeit mit den untersuchten Familien virtuell zusammensitzen und uns unterhalten, jedoch real zusammen essen und trinken (wenn auch an getrennten Orten), um dann das zu tun, was sich in einem solchen Setting so tun lässt. Was das sein wird, und wie weit das für die Forschung hilfreich ist, das müssen wir erproben.
Alternativ planen wir, uns in Videokonferenzen zu treffen, um uns dort (mit Hilfe einer besonderen Software – nämlich watch2gether) gemeinsam und abwechselnd die jeweilige Lieblingsmusik vorzuspielen und so über die mit der Musik verbundenen zurückliegenden Erlebnisse, aber auch über aktuelle Veränderungen ins Gespräch zu kommen. Erste Versuche mit dem Forschungsteam haben gezeigt, dass ein solches Setting sehr erzählgenerierend ist. Natürlich ist das keine beobachtende Teilnahme mehr und natürlich ist das Medium hier mehr als nur der Vermittlungs- und Transportkanal (siehe mein Blogbeitrag zu den Besonderheiten der kommunikativen Handlungsabstimmung via Videokonferenzen in Unterforum Auswertungsmethoden). Was wir dort erheben können, und wie weit das für die Forschung hilfreich ist, das müssen wir erproben.
Ganz allgemein fragt sich: Wie wirken sich solche Settings, oder allgemeiner: wie wirkt sich die Digitalisierung der Datenerhebung auf den Erkenntnisgewinn aus? Wie verändern Abstand und Distanz die Beziehung zwischen Forscher*innen und Untersuchten? Von welcher Qualität sind die Daten?
Wir haben noch eine weitere Idee: Von einer ‚unserer‘ Familien kam der Vorschlag, man könne sich doch auch im nahegelegenen Park treffen und dort unter Wahrung der Abstandsregeln miteinander den Tag verbringen. Vielleicht können man auch etwas zu trinken und essen mitbringen und bei Speis und Trank miteinander sprechen und schweigen. Vielleicht könne man auch gemeinsam durch das Stadtviertel spazieren gehen, sich die täglichen Wege und Orte zeigen lassen, vielleicht gemeinsam dieGeräusche der Umwelt erfassen – vielleicht auch deren Geruch (alles aktuelle und alternative Formen der Feldforschung)? Auch hier gilt: Was wir dort erheben können, und wie weit das für die eigene Forschung hilfreich ist, das müssen wir erproben.
So einfach und überzeugend der Vorschlag für ein Treffen im Freien ist, ergeben sich doch, wenn man institutionelle Perspektiven in Rechnung stellt, viele Fragen – so die Frage, ob wir uns ohne gesundheitsamtliche Erlaubnis im Freien treffen dürfen. Und wenn es möglich wäre, dürften wir den Familien das zumuten (Generalverdacht)? Müssten wir angesichts der Tatsache, dass wir es mit einer sehr vulnerablen Personengruppe zu tun haben, uns nicht vorher testen lassen? Und welche Hygienemaßnahme müssten wir vor Ort ergreifen? Reichen Maske, Abstand und Desinfektion? Und was ist, wenn z.B. der Mensch mit der Diagnose ‚Demenz‘ keine Maske tragen will? Können wir uns selbst die Erlaubnis erteilen – immer vorausgesetzt, die betroffenen Familien laden uns zu einem solchen Treffen ein? Oder muss eine Ethikkommission ihr Placet geben??
Und was ist, wenn eine/r der Forschenden zu einer der gefährdeten Gruppe gehört? Muss die Forschungsleitung dem/der Forschenden in diesem Fall die Teilnahme untersagen – auch wenn der/die Forschende es explizit will? Muss dann die Erlaubnis des Betriebsrats einholt werden? Darf man jemanden verpflichten, Feldforschung zu betreiben, wenn unklar ist, ob jemand im Feld eine potentielle Gefahrenquelle ist? Darf man jemanden anweisen, eine Maske zu tragen, auch wenn er/sie allergisch auf Masken reagiert?
Auf alle diese (und noch viele andere) Fragen habe ich keine Antwort. Dennoch muss auch die Forschung weitergehen. Nicht nur wegen der Karriereambitionen der Forschenden. Auch weil das, was sozialwissenschaftliche Forschung an Wissen und Theorien zutage bringt, auch denen nützt, die beobachtet und untersucht werden. Würde in den nächsten Jahren keine Forschung zu Themen möglich sein, die Feldkontakte zu Menschen aus besonders vulnerablen Gruppen zur Voraussetzung haben, dann würde es dort auch keine Fortschritte geben. Kann sich eine Gesellschaft leisten, die zu übersehen, die besonders der Aufmerksamkeit bedürfen? Können auf nicht absehbare Zeit nur noch die Gesunden und Jungen von Jungen und Gesunden beforscht werden?
hier ein Beitrag von Gary Alan Fine und Corey M Abramson zu dem Thema: https://www.asanet.org/news-events/footnotes/may-jun-2020/professional-challenges-facing-sociologists/ethnography-time-covid-19
Auch das WZB hat sich mit der Forschung zu Zeiten von Corona gewidmet. Hier ein erstes Ergebnis: