Mikroblogging: kurz, schnell und unberechenbar (2/3)

Nachdem im ersten Teil des Posts der Mikrobloggingdienst Twitter mit einigen seiner Besonderheiten und etlichen Beispielen vorgestellt wurde, soll es im Folgenden um den Versuch einer soziologischen Interpretation gehen. Leitende Annahme dabei ist, dass Twitter als paradigmatisches Beispiel für zentrale Momente des Wandels gesellschaftlicher Kommunikation im Übergang zur spätmodernen Gesellschaft verstanden werden kann, an dem sich zugleich wichtige Aspekte des allgemeinen sozialen Strukturwandels studieren lassen. Dazu einige Andeutungen. Da die Thesen relativ ausführlich geraten sind, werden sie auf die Einträge dieser und nächster Woche verteilt – ich hoffe, das ist im Sinne der Leser:

Häppchenkommunikation

Twitter ist eine extrem kurze Kommunikationsform, aus der sich paradoxerweise zugleich eine große und fast schon übersteigerte Bedeutung der meist nur schlagwort- oder  überschriftartigen (oft sogar nur dezidiert kürzelhaften, vor allem im englischsprachigen Raum, siehe ein aktuelles New Yorker Cartoon) Sprache ergibt. Die im Deutschen dafür gelegentlich verwendete Bezeichnung „Telegrammstil“ mutet angesichts dessen regelrecht romantisch an, nicht nur weil die Zeiten des Telegramms mit seinen Papierstreifen und dem Telegrammboten so unendlich lange vorbei sind. Auch beim Telegramm musste jedes Wort stimmen („Komme Freitag +STOP+ 9 Uhr Gleis 1 +STOP+ Mathilde“), aber bei Twitter hat diese Verkürzung noch einmal eine ganz andere Qualität. Jedes Wort muss in seiner krassen Reduzierung trotzdem sitzen (gelegentliche Tippfehler werden nachgesehen … nicht aber eine falsche Verwendung webbezogener Begriffe und Usancen) und jeder sprachliche Missgriff erzeugt potenziell weitreichende Irritationen. Ist ein Tweet einmal in der Welt, kann er nicht mehr zurückgeholt werden (beim großen Blog kann man manchmal noch nachkorrigieren) und überraschende Wirkungen haben, weit über den intendierten Rezeptionsbereich hinaus.
Twitter ist damit ein nahezu idealtypisches Beispiel für die unglaublich forcierte Dynamik, Kleinteiligkeit und Ausdifferenziertheit moderner (nicht nur virtueller) Medien, ja der (spät-) modernen Kommunikation und Kultur überhaupt. Und entgegen allen vorschnellen Kritiken wird Sprache und Schrift keineswegs irrelevant, im Gegenteil – es wird nur völlig anders damit umgegangen. Man denke (um eine nur zufällige Liste von Beispielen aufzustellen) an populäre Musikstile (Hip Hop), an SMS, Poetryslams und Graffitikunst, an die harte Schnitttechnik und die krassen Dialoge moderner Filme, an die oft extrem verkürzte Berichterstattung in Presse, Radio und TV (mit ihren nichtssagenden Soundbites, Statements von Promis und Zufallsbefragten oder Verlautbarungen der Öffentlichkeitsabteilungen), an die formelhaft reduzierte Sprache in manchen Jugendmilieus, an die Floskeln der Werbung, an die ultraschicken (und sauteuren) Espressopads und den dazugehörige Sprachzirkus, und an die Modularisierung der neuen Studiengänge und ihren bürokratischen Begriffsschrott. Fällt einem schließlich noch der allgemeine Trend zu Fast- und Convenience-Food ein (dem inzwischen sogar die ehemals so kunstvolle japanische Sushi-Küchenkunst auf breiter Front unterworfen wird) ist der Gedanke nicht weit, dass wir es hier in wichtigen (wenn auch nicht allen) Aspekten mit Entwicklungen zu tun haben, die George Ritzer als „McDonaldisierung“ bezeichnet hat. Tweets sind zwar dem Inhalt nach nicht unbedingt hoch standardisiert (wie es Ritzers These vorsieht), aber ihre Form ist es um so mehr: Häppchenkommunikation mit einer seltsam aufgeladenen Bedeutung der verwendeten Sprachfetzen.

Subjektivierter Stil

Noch stärker als in den großen Blogs sind eher persönliche Elemente (Meinungen, Wertungen, biographische Andeutungen, ja sogar explizite Emotionen usw.) Teil des Stils von vielen Tweetern – was immer das jeweils im Einzelnen bedeuten mag. Festhalten kann man auf alle Fälle, dass es zumindest an vielen Stellen möglich ist und akzeptiert (oft aber auch erwartet) wird, sich mit persönlichen Anteilen zu äußern. Und das gilt, obwohl inzwischen jeder weiß, wie problematisch persönliche Informationen im Web sind, da das Web bekannterweise „nichts vergisst“. Selbst die zunehmend bei Twitter aktiven professionellen Mikroblogger setzen nicht selten gezielt solche sich zumindest „subjektiv“ oder „persönlich“ gebenden Elemente ein – in klarer Verbindung mit (aber eben nicht in entschiedener Abgrenzung von) einem objektivistischen Sachinformationsstil. Diese Kommunikationsweise gilt zunehmend als der für das Web typische („webaffine“) Umgangsstil, der etwa für die im professionellen Kontext immer häufiger anzutreffenden „Communitymanager“ als fast schon verbindliche Kompetenz gefordert und regelrecht propagiert wird (beispielsweise ein oft schon obligatorisches Duzen und die Ansprache mit einem informellen „hi“ oder „hallo“). Regelrecht peinlich war es da, dass sich die Grünen in Berlin angesichts des Erfolgs der „Piraten“ sehr beeilten, öffentlich mitzuteilen, sie seien doch auch „webaffin“.
Es mag sein, dass solche stilistischen Besonderheiten nur historische ‚Reste‘ aus der Entstehungszeit von Twitter sind, die (zumindest in nicht direkt persönlichen Kontexten) bald verschwunden sein könnten. Im Moment kann man aber doch eher den Eindruck bekommen, dass dieser eigenartig gemischte Stil erhalten bleibt und eben „dazugehört“. Ich persönlich habe mich entschieden, hier eher zurückhaltend zu sein, experimentiere aber gelegentlich mit meinungstärkeren Tweets, Andeutungen wertender Kommentare und persönlichen Anspielungen und suche dafür nach wie vor eine zu meiner Profession (und zu meinem Alter …) passende Form.
Ein nicht selten genutzter Weg für eher kommentierende und/oder persönlich gefärbte Tweets ist es, einen weiteren, dann evtl. anonymisierten, Account anzulegen. Mehrfachnutzungen von Twitter mit verschiedenen Namen und Themen und durchaus auch unterschiedlichen Stilen findet sich nicht selten bei sehr aktiven Nutzern (es gibt inzwischen eigene Tools für die Verwaltung der Accounts). Auch das ist eine allgemeine Tendenz im Web: man ist häufig in unterschiedlicher Weise und vielleicht mit verschiedenen und/oder verschleierten Identitäten präsent (auf den Punkt gebracht in einem berühmten Cartoon, auch aus dem New Yorker, inzwischen sogar mit eigenen Wikipediaeintrag).

Festhalten kann man die generelle Tendenz, dass in der Web2.0-Welt ein streng objektivistisch neutraler Stil eher selten ist und neutrale Informationen oft irgendwie auch von (echten oder gespielten) persönlichen Elementen überlagert werden. Diese hybride Form der Kommunikation färbt inzwischen auf weitere gesellschaftliche Felder ab, etwa auf die Werbung, aber auch auf innerbetriebliche Beziehungen, die in sich modern gebenden Organisationen nicht selten von diesem neuen Stil geprägt werden (wie z.B. bei Google, dessen Mitarbeiter und Betriebsstrukturen seit Neustem „googley“ sein müssen). Im Hochschulbereich Tätige haben das auch schon über die gelegentlich irritierend informellen Emails von Studierenden unmittelbar zu spüren bekommen.

Ultrabeschleunigung

Twitter ist, zumindest für diejeinigen, die an die im Nachhinein gesehen eher gemächlichen Rhythmen der Kommunikation des 20. Jahrhunderts gewöhnt sind, ein unglaublich schnelles, ja regelrecht atemlos hektisches Medium – nicht nur durch die absurde Kürze der Botschaften, sondern auch dadurch, dass Tweets überaus schnell veralten. Man liest sie (wenn man sie überhaupt liest …), reagiert an einzelnen Punkten sofort darauf (oder lässt es bleiben …), sendet eigene schnelle Tweets in die virtuelle Welt und nach wenigen Stunden (oft schon wenigen Minuten) ist meist schon wieder alles vorbei und vergessen – außer man hat eine Lawine losgetreten. Statt: „Nichts ist so alt, wie die Tageszeitung von gestern“ müsste es heute heißen: „Nichts ist so schnell vergessen, wie der Tweet von eben“. Lies es gleich (vielleicht auch nur kurz reinschauen …) und reagiere sofort, oder scroll weiter! Und selbst wenn Du reagierst: am besten gleich wieder vergessen, außer es passiert etwas! Das ist mediale Kommunikation wirklich nahezu in Echtzeit (auch wenn es zeitversetzte Reaktionen geben kann ..) und der Raum dieser Zeit geht tendenziell gegen Null. Hartmut Rosas viel beachtete gesellschaftsdiagnostische These der „Beschleunigung“ passt auf kaum etwas so gut, wie auf Twitter. Spannend dazu ist eine Sendung des DRadio Wissen vor wenigen Tagen: „Die Fieberthermometer des Fortschritts“ (kam natürlich über Twitter).
So viel für heute. Nächste Woche folgen weitere Thesen zu einer soziologischen Interpretation des Phänomens Mikroblog (Information Overload, Macht und Status, Individualisierung, Differenzierung und Halbwertszeit) … wenn nicht ein aktuelles Thema erneut Anlass gibt zu einem eingeschobenen kommentierenden Post (da liegt was in der Luft … ).

Bis dann.

PS
Siehe zur sich im Moment etablierenden Twitter-Forschung u.a. hier (Blogeintrag auf digicom/Wien), hier  (Post auf einem Blog von Axel Maireder), hier (Blogeintrag auf alltagsforschung.de) oder hier
(„video-online.Konferenz“ zu Twitter) und auch hier (umfangreiche Bibliographie).
Zum Thema passt auch die soeben angekündigte Veröffentlichung von Oliver Leistert, Theo Röhle (Hrsg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net.
Bielefeld: transcript 2011 (mehr hier).