Wen bedrohen die webaffinen Enterhorden?

Piraten  galten lange als historisches Relikt. Sie waren nur noch ein Thema für kleine Jungs (manchmal auch Mädels), kitschige Hollywoodschinken und Spielzeughersteller – bis vor Somalia eine unerwartete Welle von neuartigen Freibeutern wieder einmal zum Ärgernis für den Welthandel wurde (mehr). Aber spätestens seit diesem Wochenende haben auch noch die letzten Ignoranten gemerkt, dass wir im eigenen Land von oft schwarzgekleideten politisch einäugigen Enterhorden bestürmt werden – und alle fragen sich, was das ist?

Die neue Partei ist selbstredend ein Thema für die unmittelbar politisch bedrohten Konkurrenten – vor allen für diejenigen, aus deren Stammklientel sich die in nun virtuellen Gewässern herumtreibenden neuen Piraten rekrutieren, allen voran die Grünen, teilweise auch die in Berlin regelrecht zerlegte FDP und die sich laut schnaufend über Wasser haltende SPD.

Sicherlich wird die Politische Wissenschaft schon in den Startlöchern sitzen (und manch kluger Wissenschaftler dort wird schon frühzeitig gemerkt haben, dass man das Phänomen Piratenpartei nicht als platte ‚Eintagsfliege‘ ignorieren kann). Ich frage mich aber, wie die Soziologie darauf reagieren wird. Ich vermute, dass der eine oder die anderen KollegIn aus der Bewegungsforschung schon hellhörig geworden ist. Aber wie reagiert der soziologische Mainstream, etwa die Sozialstrukturforschung. These: mit der Piratenpartei zeigt sich der Nukleus eines neuen sozialen Milieus, das sich in vielen Aspekten (sicher nicht in allen) den gewohnten Klassifizierungen entzieht. Vielleicht sprengt sie sogar überhaupt (endlich?) das bei vielen im Fach ausgeprägte bürokratische Bedürfnis, die soziale Welt in ordentliche Schubladen einzuteilen: zwei oben, zwei unten, ein paar links und rechts – und eine „fallenlassen“ (ok: das ist aus der Strickkunst, die aber der  Sozialstrukturanalyse nicht unähnlich ist).

Natürlich, wir wissen alle, dass Piraten Augenklappen tragen und deswegen halbblind sind (aus anderen Gründen übrigens, als mancher meint: hier). Wir wissen auch, dass die neue Partei eher noch eine schlicht gestrickte Single-Issue-Perpektive vertritt, ganz abgesehen von ihrer massiven sozialen Schieflage (z.B. als fast reine Männerpartei, die in dieser Hinsicht sogar die CSU weit hinter sich lässt). Aber man arbeitet dort hart an neuen Themen, und man wird sehen, ob es der Partei gelingt, daraus eine breitere programmatische Basis zu formen, so wie es entgegen vieler Voraussagen den Grünen gelungen ist. Der Erfolg in Berlin wird der Partei einen immensen Aufmerksamkeitsschub verleihen, der dies befördert – und es werden nun auch internetinteressierte Mädels eintreten, die es ja nämlich in nicht geringer Zahl gibt.

Was mich hier aber vor allem interessiert, ist, dass sich mit den Piraten eine bisher eher nur diffuse aber durchaus machtvolle, neue soziokulturelle Atmosphäre artikuliert (ich vermeide bewusst alle gängigen soziologischen Begriffe, auch wenn ich vorher in Ermangelung von Ausdrücken „Milieu“ sagte): eine soziale Stimmungslage, die sich vor allem in sozialstrukturell nur schwer einzuordnenden hybriden Kommunikationsstilen und Symboliken aller Art (bis hin zur Kleidung) manifestiert. Typisch, und dann für viele (Parteien, Verbände, Journalisten und eben auch SozialforscherInnen) verwirrend ,sind etwa Verbindungen von latentem Elitismus und selbstbewusster Verortung im sozialen Unten (als „kreatives Prekariat“), von Sozialromantik (unbedingtes Grundeinkommen für alle, Commons, Open Source) und zugleich High-Tech-Euphorie, von dezidiert staatskritischem Liberalismus und diffusen sozialistischen Phantasien, von kiezbezogenem Regionalismus und globalisierungsbejahendem und zugleich globalisierungskritischem Internationalismus, von Machoattitüde und neumännlichem Softigehabe, von Schmuddelklamotten-/Junkfoodimage und selbstverständlicher Verwendung edelster High-End-Gadgets, möglichst von Apple usw.

Der in der Webscience in Kontrast zu den meist abwertenden und schon reichlich populärpublizistisch abgegriffenen Schlagworten „Nerd“ oder „Hacker“ zunehmend verwendete Begriff „webafin“ ist eie erster Versuch, dies zu fassen. Und es ist auch kein Zufall, dass damit zwar in erster Linie bestimmte Sprachmuster, Kommunikationsweisen und Ähnliches angesprochen wird, aber auch eine emotionale Befindlichkeit. Meine Vermutung ist, dass der Fluchtpunkt der sich hier nun explizit zeigenden soziokulturellen Momente erst einmal (noch?) eine Stimmungslage ist, ein Lebensgefühl – das aber deswegen keineswegs eine marginale soziale Bedeutung hat, im Gegenteil. Der Begriff „Lebensgefühl“ ist im Alltagssprachgebrauch nicht unbekannt und er hat auch eine gewisse intellektuelle Tradition (z.B. in der Literaturgeschichte ), er spielt aber in der Soziologie so gut wie keine Rolle, dabei wäre er perfekt anschlussfähig an „Lebensstil“, „Lebenslage“, „Lebensführung“, „Lebensweise“, „Lebensform“ u.v.a.m. – und eine dazu passenden Emotionssoziologie hat sich ja nun inzwischen auch etabliert. Vielleicht kann der Begriff hilfreich sein, das sich mit den aktuellen deutschen Freibeutern zeigende neue soziale Phänomen in einem zumindest ersten soziologischen Zugriff zu fassen. Wir sollten das nicht anderen Disziplinen überlassen. Es gibt viel zu entdecken und der Öffentlichkeit mitzuteilen, aber man wartet dort nicht auf uns

Bis nächste Woche, dort dann (vermutlich) der zweite Teil des Posts zum Thema Twitter, den ich aus aktuellem Anlass verschoben habe. Mal sehen …

PS Wer einen der besten (und arbeitssoziologische aufschlussreichen sowie schon früh dezidiert finanzkapitalismuskritischen …) Piratenfilme sehen will, dem sei sehr Monty Pythons “The Crimson Permanent Assurance” empfohlen (hier komplett zweiteilig im download). Ton anschalten und zurücklehnen, viel Spaß. …
Ganz aktuell: ein ebenfalls nicht unpassender Piratencartoon aus dem New Yorker.

5 Gedanken zu „Wen bedrohen die webaffinen Enterhorden?“

  1. Der Hinweis auf die Relevanz der Bewegungsforschung zur Erklärung des Phänomens Piratenpartei ist sicherlich richtig – deutet aber darauf hin, dass so neu doch nicht ist, was wir hier beobachten können. Die Parallelen zur Entstehungsgeschichte der Grünen sind einfach zu stark. Vor allem aber sind die Piraten kein deutsches, sondern ein von Anfang an transnationales Phänomen. Dies zeigt sich auch bzw. gerade rund um den Erfolg der Piratenpartei in Berlin, der immerhin der New York Times eine Meldung wert ist…

      1. Gemeint war der Cartoon #6, links neben dem Piratencartoon.

        Anmerkung: Eine Funktion zur Bearbeitung eigener Kommentarbeiträge wäre an dieser Stelle ganz nützlich, um bspw. inaktive Verlinkungen korrigieren zu können.

        Beste Grüße

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