Public Sociology, Zeitdiagnose und eine drohende Blindstelle des Fachs

Anmerkungen zur möglichen Rolle neuer Medien in Bezug auf die Debatte über Public Sociology hatte ich schon angekündigt. Da war es sehr erfreulich, soeben auf dem spannenden Drei Länder Kongress in Innsbruck einem einschlägigen Panel folgen zu können. Vorsichtig gesagt war der Eindruck jedoch reichlich ernüchternd.

Vielleicht hatte der eine oder andere Kollege ja auch nur ein anderes Verständnis davon als der Autor, was mit dem wichtigen Anstoß von Michael Buroway zur Public Sociology (s.a. die Beiträge in der Sozialen Welt) intendiert war. Jedenfalls war in so gut wie keinem Beitrag auch nur annäherungsweise davon die Rede, dass es nicht nur um die öffentliche Sichtbarkeit und/oder um eine mögliche zusätzliche akademische Funktion des Fachs („Zeitdiagnose“) geht, sondern um eine genuine Grundaufgabe und letztlich auch soziale Verantwortung der Soziologie. Eine Verantwortung, die darin besteht, der jeweils aktuellen Gesellschaft nicht nur partiales empirisches Wissen, sondern vor allem auch Deutungsangebote anzubieten, die in den Prozess der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung und Selbstaufklärung eingehen und dazu beitragen können, Problemlagen besser zu verstehen und Lösungspotenziale aufzuspüren.

Statt dessen ging es in den (teilweise) durchaus anregenden Beiträgen um akademische Glasperlenspiele in Form szientifischer Nabelschauen und Ordnungsversuche. Das kann hilfreich sein, geht aber an der Sache vorbei: Die Soziologie ist ein per se „öffentliches“ Fach, da sie nicht nur die Aufgabe hat, ein grundlegendes überhistorisches Verständnis der Funktionsweise des Sozialen („Sozialtheorie“) und komplexe wissenschaftliche Modelle für die umfassende Bestimmung distinkter historischer Gesellschaftsformen („Gesellschaftstheorie“) zu entwickeln, sondern auch einen Beitrag liefern kann, darf und soll zur neutralen Analyse und praktisch-wertenden Beurteilung akuter sozialer Zustände einer Gesellschaft insgesamt und (vor diesem Hintergrund) zu Problemen sozialer Teilbereiche („Zeitdiagnose“, „Gesellschaftsdiagnose“). Das geschieht ohnehin ständig dort, wo Soziologie aus verschiedensten Gründen engeren Kontakt zur Realität hat, also insbesondere in den „Anwendungsbereichen“ des Fachs.

Gleichwohl soll hier ein deutliches Plädoyer dafür gehalten werden, diese Aufgabe systematisch als Grundfunktion des Fachs anzuerkennen und nicht (wie auch im Panel teilweise unterschwellig zu vernehmen) als unwesentliche, wenn nicht gar als unwissenschaftliche, Betätigung zu marginalisieren oder gar lächerlich zu machen („Weltverbesserer“). Die Soziologie sollte diese Aufgabe schon allein deswegen explizit akzeptieren und ausbauen, weil es ohnehin machtvolle gesellschaftliche Akteure außerhalb unserer Disziplin gibt, die dies zunehmend betreiben (und angesichts der akademischen eitlen Zurückhaltung und wohl auch des fehlenden Muts und mangelnder offensiver Phantasie mancher Fachvertreter dann dort nachgefragt werden) und damit faktisch einen prominent auch uns zustehenden Job übernehmen, Deutungen über den Zustand des Zusammenlebens beizutragen. Im Zweifel wird dann eben die Ökonomie, die Politikwissenschaft, ja sogar die Theologie bemüht und natürlich der jeweilige „Sachbuchautor“ sowie diverse eloquente „Praktiker“ (möglichst aus dem Management eines wirtschaftlichen Global Players), die selbstverständlich natürlich auch ihren spezifischen Beitrag anbieten dürfen und sollen.

Die Soziologie ist hier auf erstaunliche und genau genommen erschreckende Weise nicht nur zurückhaltend (das könnte ja eine Tugend sein), sondern sie ist ignorant oder bestenfalls steril und langweilig. Das fällt umso mehr auf, wenn man berücksichtig, wie nahezu sehnsüchtig die durchaus vorhandenen Deutungsangebote öffentlich aufgegriffen (z.B. die „Beschleunigung“), dafür dann aber im Fach nicht selten schräg angeschaut („Feuilletonsoziologe“), wenn nicht gar systematisch abgewertet werden (z.B. die „Risikogesellschaft“). Natürlich kann und muss man innerfachlich über diese Angebote diskutieren und gegebenenfalls auch laut streiten. Sie aber hart auszugrenzen zeugt von einer engstirnigen und letztlich unwissenschaftlichen Selbstreferenz gepaart mit gelegentlich eitel rechthaberischem Alleinvertretungsanspruch.

Ich möchte hier beispielhaft ein aktuelles Problemfeld nennen, das dringend darauf wartet, dass nicht nur einzelne Fachvertreter dazu Stellung nehmen (was schon passiert), sondern dass es das Fach insgesamt mit breiterem Potenzial debattiert und Interpretationsangebote dazu macht, was da „in der Gesellschaft los“ ist:

Seit einigen Monaten und in den letzten Wochen noch einmal in rasanter Zunahme registrieren mehrere Institutionen krasse Veränderungen von (auch quantitativen) Indikatoren, die auf eine erschreckende Zunahme von psychischen Symptomatiken in fast allen Bevölkerungsgruppen hindeuten. Das von den Medien bereitwillig aufgegriffene aber nur bedingt zur Komplexität des Problems passende Schlagwort „Burn-Out“ ist zur Zeit nahezu in aller Munde. Was dahinter steckt, ja worum es sich überhaupt auf der Erscheinungsebene genau handelt, ist alles andere klar. Aber niemand sollte sich akademisch arrogant oder politisch ignorant darauf zurückziehen, das sei ein reiner Medienhype. Das ist es nicht (!), auch wenn die Medien, wie immer, daraus ein eigenes Süppchen kochen. Hier läuft wirklich ein tiefgreifender und höchst beunruhigender gesellschaftlicher Prozess ab, der aber noch nicht einmal in Ansätzen substantiell verstanden ist.

Das Thema kann hier nicht im Detail vertieft werden. Aber dass nicht nur die mediale Öffentlichkeit sondern viele gesellschaftliche Instanzen (Klinken, Krankenkassen, Betriebe, kirchliche Einrichtungen, Jugend- und Sozialämter, Sportorganisationen usw. ja sogar die Studentenwerke) alarmiert sind, sollte auch die Soziologie aufschrecken. Denn dieses Thema ist nicht nur ein Thema für Psychotherapie und Medizin, sondern es geht um ein gesellschaftliches Problem mit tiefgreifenden sozialen Erscheinungen, Folgen und sozialen Ursachen, und es ist damit ein soziologische Thema – das übrigens in der Praxis an vielen Stellen auch genauso wahrgenommen wird, selbst im therapeutischen Bereich. Den Autor selbst haben Äußerungen von Experten bei Betriebskontakten aufgeschreckt, die an Drastik nichts zu wünschen übrig lassen: „… hier fallen die Leute wie die Fliegen von den Wänden“, „ … das psychische Elend in unserem Konzern ist erschreckend“, „… viele Kollegen können einfach nicht mehr, wie soll das weiter gehen?“ …

Dass es zu diesem Thema einen hohen Bedarf an interpretierenden Angeboten (und substantiellen Forschungen) gibt, zeigen nicht nur die Medienreaktionen, sondern vor allem die fast schon hilflosen Versuche, die wenigen zum Thema passenden im weitesten Sinne soziologischen Schlagworte aufzugreifen (z.B. das „Erschöpfte Selbst“ von Ehrenberg), auch wenn manches davon bei Lichte besehen, nur begrenzt das Phänomen überhaupt im Auge hat.

Eine letzte Bemerkung dazu: Erstaunlich ist, dass in fast alle gesellschaftliche Bereiche das Phänomen Burn-Out (bzw. das, was darunter an vielfältigen Symptomen derzeit subsumiert wird) Einzug gehalten hat – aber, so scheint es, bisher so gut wie noch nicht in die Wissenschaft. Ist unser Praxisfeld eine Insel der Seligen, die aufgrund ihrer spezifischen Strukturen (verbeamtete Professoren, staatlich budgetierte Institutionen, öffentliches Arbeits- und Dienstrecht…) vor dem Einbruch der in anderen Bereichen fast schon endemischen neuartigen Überlastungssyndromatiken geschützt ist? Kaum zu glauben, wenn man die tiefgreifenden Strukturveränderungen von Hochschule und Wissenschaft in der letzten Zeit bedenkt. Meine Vermutung dazu ist, dass die Probleme schon angekommen sind, aber noch nicht offen zu Tage treten, weil es (noch) Möglichkeiten gibt, sie subjektiv zu verschleiern oder zu verdrängen. Ich bin gespannt wie lange noch. Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen jedenfalls deuten für mich darauf hin, dass die schon lange virulente hohe Unzufriedenheit langsam breitflächig in intensive persönliche Betroffenheit mit potenziell krankmachenden Belastungen umschlägt. Ich würde mich freuen, wenn ich unrecht hätte.

Bis nächste Woche …
dort dann die Fortsetzung der Thesen zum Mikroblogging

PS
(1) Siehe zur gesellschaftlichen Funktion von Sozialwissenschaften und zu Bemühungen die öffentliche Wahrnehmung der Fächer zu verbessern die Initiative der London School of Economics „Impact of Social Sciences“, u.a. das „Handbook“ mit praktischen Anleitungen. Siehe zu Public Sociology auch einen aktuellen ausführlichen Post von Wolfgang Streck im Blog des Institut for Public Knowledge (SSRC).
(2) Einige Quellen zu den wachsenden psycho-physischen Belastungen in der Gesellschaftt:
– Ehrenberg, Alain, 2004: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. und New York.
– Ders. (2011). Das Unbehagen in der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
– Haubl. Rolf/ Voß, G. Günter (2011). Die Krise der Leistungsgesellschaft im Spiegel der Supervision. Göttingen: Vandenhoeck+Ruprecht.
– Keupp, Heiner; Dill, Helga (Hrsg.), 2010: Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, Bielefeld: transkript.
– Summer, Elisabeth (2008): Macht die Gesellschaft depressiv?: Alain Ehrenbergs Theorie des „erschöpften Selbst“ im Licht sozialwissenschaftlicher und therapeutischer Befunde. Bielefeld: transkript.
Neu:
(3) Einige Links zum Thema für Interessierte (auf Nachfrage gerne mehr):
Zur psychosozialen Lage in Deutschland – ein Aufruf
BurnoutNet.De
SPIEGEL-Berichte über Burnout u.ä.
Aktueller Beitrag in der ZEIT
Aktueller Beitrag in der Sueddeutschen
(4) „Jeden Tag schuldig ins Bett“ überschreibt die ZEIT ein Interview mit Harmut Rosa zu „Burn-Out“ bei Professoren

4 Gedanken zu „Public Sociology, Zeitdiagnose und eine drohende Blindstelle des Fachs“

  1. kurze google-scholar recherche brachte im bezug auf die „scientific community“ in brasilien folgendes zutage:
    „This pressure to publish is leading to an exaggerated degree of competitiveness, propagating a cultural distortion where scientometrics prevails over knowledge and where mental suffering is making up for the lack of funds, i.e., is directly proportional to the lack of funds.“ – http://www.scielo.br/scielo.php?pid=S0100-879X2003000900001&script=sci_arttext

  2. Die Belastungen des Nachwuchs sind doch schon längst offensichtlich in der Wissenschaft, da würde schon eine qualitative Verbleibstudie von Doktoranden einiges an Klärung bringen..“Publish or Perish“ ist eine Art intellketuelles Vermarktlichungs- und Selektionsprogramm, aus dem viele sich innerhalb der Wissenschaft nur deshalb kognitiv befreien können, weil sie es noch schaffen, sich an die Reputationszirkel anderer Wissenschaftler zu hängen – dann wird man etwas protegiert, aber viele kommen irgendwann zwischen die Fronten mit anderen Wissenschaftlern und schon ist es schwierig, sich noch auf seine Karriere verlassen zu können. Also noch mehr „veröffentlichen, um nicht zu verschwinden“. Und immer wieder dieselbe Erfahrung: alle stehen miteinander im Wettbewerb, Schonung gibt es nur für die Etablierten, das ist – leider – dieselbe Grundstruktur wie in vielen anderen Bereichen auch (Inklusion/Exklusion entlang der Generationenlinie). Wir als Soziologen müssen den Markt und seine Konsequenzen verstehen, einschließlich der Prozesse, die uns selbst betreffen…Prekarisierung im Arbeitsmarkt ist da nur ein Teilaspekt. Ich würde auch nochmal Adorno rezipieren, die verwaltete Welt, die zwischenmenschliche Kälte und die Macht der Verdrändung. Diesmal aber gepaart mit einem systemischen Blick dafür, dass die Kausalität nicht nur in der „Dialektik der Aufklärung“ liegt sondern dass es die „Teilrationalitäten“ der sich unterschiedlich schnell entwickelnden Sozialen Systeme sind, die diese ohnehin in der Moderne angelegte Tendenz noch verstärken. Philosophisch könnte ein neuer Ansatz der Selbsttherapie bei Wittgenstein anschließen, der bereits schrieb: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das »Sprachspiel« nennen.“ (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 23). Das viele der als bitterernst wahrgenommenen Situationen und Sprach-Dominanzspiele keine Autorität außerhalb der Sprache besitzen..das ist, glaube ich, nur wenigen Menschen bewusst. Also versuchen sie, ein Sprachspiel nur „mitzuspielen“ und begeben sich damit immer in die Defensive. Man muss schon selbst sprechen lernen, hier und anderswo…

    1. Ich stimme Ihnen völlig zu. Es geht aber nicht nur um die Ausgrenzung der „Jungen“ durch „Etablierte“ (ja, das gibt es natürlich ..). Auch die „Etablierten“ geraten zunehmend unter massiven Druck, der nicht wenig an ihre persönlichen, z.B. gesundheitlichen, Grenzen bringt, weswegen immer mehr KollegInnen ernsthaft überlegen, vorzeitig aufzuhören (sagt ein Etablierter .. und ich verstehe, wenn sich das Mitleid in Grenzen hält). Zudem werden die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die neuen oder zukünftigen „Etablierten“ immer problematischer: Ein/e Professor/in von heute ist nicht mehr zu vergleichen mit dem, was früher typisch war (und was ganz sicher auch propblematische Züge hatte) und was manche immer noch als Bild des „Professors“ im Kopf haben: Arbeitsstrukturen, Beschäftigungssicherheit, Zukunftsaussichten, Einkommen usw. Die so heftig politisch propagierten „Juniorprofessuren“ sind biespielsweise meist höchst prekäre Angelegenheiten, die die Betroffenen massiv unter Druck setzen – ein Druck der meist alles andere als fachlich produktiv und persönlich nicht selten höchst belastend ist. Von den vielen unter wirklich extremen Bedingungen arbeitenden „Mittelbauern“ (z.B.mit krassen Befristungen … die selbst wieder sehr ambivalent zu burteilen sind) will ich garnicht reden (das hatten Sie ja angesprochen) – ich wundere mich gelegentlich nur, wie wenig Protest es da gibt.

  3. Zum Erschöpfungssyndrom scheint mir ein Satz (und nicht nur der) aus Deleuzes‘ Postskriptkum über die Kontrollgesellschaften aufschlussreich: „Der Mensch der Disziplinierung war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn. Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst“.

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