Die dunkle Seite von Care – Care und Gewalt

Margrit Brückner

  1. Care und die Welt der Gefühle

Care bzw. Sorgen ist gesellschaftlich mehr denn je notwendig – wie uns die Corona Pandemie deutlich vor Augen führt. Allerdings verbirgt sich hinter Sorgen bisher eine geschlechtlich aufgeladene, wenig beachtete und schlecht bezahlte Arbeit von Frauen. Diese Arbeit wird sowohl in privaten Haushalten als auch im öffentlichen Raum geleistet und ist mehrdimensional angelegt: handlungsbezogen (taking care of), Gefühle auslösend (caring about) und geprägt von einer Zusammengehörigkeit der Sorge für andere und der Selbstsorge (take care of yourself), auch wenn letzteres wenig Beachtung findet (Brückner 2018). Die Gefühlsebene des Sorgens zeigt sich für Sorgegebende (care-giver) und Sorgenehmende (care-receiver) in der Art und Weise des Ge- oder Misslingens einer hinreichenden Kontaktherstellung und Verständigung, die viel mit Sympathie zu tun hat, aber auch mit Ängsten vor Überforderung respektive vor Abhängigkeit einher gehen kann. Sorgen verweist auf zwischenmenschliche Angewiesenheit und macht Verletzbarkeit als menschliche Bedingtheit sichtbar (Nussbaum 2003). Zwar wird Sorgen von allen Menschen in verschiedenen Lebensphasen benötigt, steht aber dem Ideal männlich konnotierter Autonomie entgegen und bildet den Antipoden zur neoliberalen Maxime der Selbstoptimierung. Da Sorgetätigkeiten – auch wenn sie von Männern ausgeübt werden – noch immer weiblich konnotiert sind, kann die als Abhängigkeit empfundene Angewiesenheit emotional gegen Frauen gerichtet werden und zur gesellschaftlichen Abwertung von Frauen beitragen. Sorgen vermag bei Sorgenehmenden Gefühle der Aufgehobenheit und Nähe ebenso wie Bedürfnisse nach mehr oder weniger aggressiv gefärbter Abgrenzung auszulösen, wenn die eigene Hilfsbedürftigkeit als narzisstische Kränkung empfunden wird. In Letzterem haben möglicherweise auch die vehementen Proteste der Querdenker ihre Wurzeln, die ihre eigene Verletzbarkeit leugnen.

Für Sorgegebende kann die Tätigkeit mit großer Freude über das eigene Geben und die erfahrene Resonanz einhergehen aber auch mit Enttäuschung über mangelnde positive Reaktionen und Wut über subjektive und objektive Zumutungen. Vor diesen unwägbaren Gefühlen versucht sich berufliche Sorge nicht selten durch institutionalisierte Leugnung der Beziehungsdimension zu schützen, indem z. B. in der Pflege verdinglichende Begriffe wie „Arbeit am Menschen“, schon vor ihrer Ökonomisierung Einzug gehalten haben und in der Sozialen Arbeit Neutralität und Distanz zunehmend als Ausdruck von Professionalität gelten. Vermeidung respektive Verdrängung von Gefühlen stellt nur vermeintlich eine Gewähr vor emotionaler Überforderung dar und verfehlt das eigene Subjektsein ebenso wie die Subjekthaftigkeit des Anderen.

  1. Machtaspekte, Gewaltformen und Sorgetätigkeiten

Care wirft Fragen der Macht respektive der Selbstbestimmung für alle beteiligten Akteur*innen (care giver und care receiver) auf, je nachdem wie Möglichkeiten der Annahme oder Ablehnung von Sorgetätigkeiten gestaltet werden. Das wird besonders deutlich bei verpflichtenden Sorgetätigkeiten („statutory social care“) wie Einrichtungseinweisungen oder Inobhutnahmen, bei denen der Zusammenhang von Sorge und Zwang auch bei deren Gelingen sichtbar wird (Ziegler 2014), aber auch im privaten Bereich, wenn Verwandte auf eine Unterbringung drängen. Sorgen geht dann mit mehr oder minder existenziellem Ausgeliefertsein respektive mit Graden von Druckausübung einher und hat somit neben einer erhofften hilfreichen, eine für alle Akteur*innen schwer zu ertragende Seite. Diese negativ besetzte Seite des Sorgens tritt vor allem solange hervor, wie Care als abgewertete Abhängigkeit sowie Sorgenehmende als Objekte in einer an ökonomischer Verwertbarkeit ausgerichteten Gesellschaft konstruiert werden. Nur wenn Autonomie und Abhängigkeit nicht länger als binäre Entgegensetzungen gedacht werden, sondern Interdependenz als menschliche Seinsweise eine gesellschaftlich leitende Wertschätzung erfährt und auf der Interaktionsebene in gegenseitige Anerkennung mündet, lassen sich Sorgeprozesse als relational selbstbestimmte soziale Praxis konzipieren. Gleichwohl bleibt Sorgen eingebettet in asymmetrische Formen von Handlungsmächtigkeit, die emotional bewältigt und tätig bearbeitet werden müssen, da sie – auch abhängig von entsprechenden sozialen Räumen – sowohl zur Machtausübung als auch zur Ermächtigung dienen können (Conradi/Vosman 2016). Sorgen schließt also Grade des Scheiterns durch Missverstehen, Vernachlässigung, Übergriffigkeit oder Gewalttätigkeit ein und stellt eine Gratwanderung zwischen Hingabe und Abgrenzung, Verantwortung und Bevormundung, Desinteresse und Selbstausbeutung dar, die es auszubalancieren gilt.

Die hierarchisierten Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und Generationen sind auch in Sorgeverhältnissen sowie Partnerschaften (unter dem Aspekt gegenseitiger Fürsorglichkeit und Zuwendung) wirksam, indem die jeweils sozial Schwächeren (Frauen, Kinder, beeinträchtigte oder pflegebedürftige Menschen) in familialen Kontexten und in sozialen Einrichtungen besonders verletzungsoffen sind. Sie erleiden strukturell häufiger physische, psychische und sexuelle Gewalt und Freiheitsberaubung: Nach neuesten Polizeistatistiken wurden allein im Hellfeld, d.h. ohne Berücksichtigung der auch von der Polizei als hoch eingeschätzten Dunkelziffer:

Besonders im häuslichen Umfeld ist von einer geringen Anzeigebereitschaft respektive Anzeigemöglichkeit auszugehen, aber auch in Einrichtungen sind persönliche Abhängigkeiten groß, und ein Teil der Sorgenehmenden ist physisch und/oder psychisch nicht in der Lage sich zu wehren. Gewalt kann jedoch auch von versorgten Menschen gegenüber Sorgenden ausgeübt werden, wenn z.B. Jugendliche ihre Mütter/Eltern angreifen oder Pflegebedürftige sich aggressiv gegenüber pflegenden Angehörigen und Pflegekräften verhalten.

Wie sich Gewalt in Familien und in Einrichtungen seit der Corona-Pandemie verändert hat, bedarf weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen; ebenso die Frage, wen Schutz- und Beratungseinrichtungen erreichen, wer nicht erfasst wird und wie diese Maßnahmen auszubauen sind. Die Corona-Pandemie macht Übergriffe oft noch unsichtbarer, obwohl viele Anzeichen dafür sprechen, dass die Zahl der Übergriffe angestiegen ist aufgrund geringerer Möglichkeiten, einander in Zeiten von Lock-Down und Homeoffice auszuweichen und vor allem Frauen vermehrt zusätzliche familiale Aufgaben wahrnehmen. Eine erste repräsentative Umfrage über die kurze Zeit des Lock Downs im Frühjahr ergab, dass in privaten Haushalten Frauen zu 3% körperliche und zu 3,6% sexuelle Gewalt erlitten und 6,5 % der Kinder gewalttätig bestraft wurden, wobei die Zahlen um einiges höher waren bei Quarantäne, finanziellen Sorgen oder Arbeitslosigkeit des gewaltausübenden, zumeist männlichen Partners. Zudem wurde deutlich, dass nur wenige betroffene Frauen die vorhandenen Hilfsangebote nutzten, obwohl erheblich mehr diese Möglichkeiten kannten.

Die Zurückhaltung in der Hilfesuche erklärt das unerwartete Phänomen, dass im Lock Down in Deutschland zunächst die Zahl der Beratungs- und Zuflucht-Suchenden zurückging. Möglicherweise wollten Betroffene in der Krise die Familie zusammenhalten oder sie hatten keine Kontaktmöglichkeiten, könnten aber auch Ansteckungen gefürchtet haben. Erst allmählich stiegen die Zahlen stärker als vor der Pandemie an, so z.B. beim bundesweiten Hilfetelefon gegen Häusliche Gewalt um rund 20%. Die von der Bundesregierung 2018 ratifizierte Istanbul Konvention („Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“) setzte das lange geforderte regelmäßige Monitoring von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auf die Tagesordnung, ebenso Forderungen nach Sicherung des Schutzes aller von Gewalt Betroffenen – einschließlich geflüchteter Frauen unabhängig von ihrem Status, bedarfsgerechte Schutz- und Beratungseinrichtungen, Schutzrechte von Kindern und Abbau von Kooperationshindernissen zwischen beteiligten Institutionen, um das Recht aller Menschen auf Unversehrtheit zu wahren. Dafür gilt es, die Verknüpfung von Sorgen und Machtausübung bis hin zu Gewalt in die Debatte um Care stärker mit einzubeziehen und dabei sowohl gesellschaftliche Bedingungen als auch psycho-soziale Prozesse zu berücksichtigen.

  1. Bedingungen gelingender Sorge

Nach der Auseinandersetzung mit Sorgen als einem emotionalen Geschehen und daraus hervorgehenden verschiedenen Verknüpfungen von Sorge und Gewalt sollen abschließend Bedingungen gelingender Sorge skizziert werden. Gelingende Sorge bedarf – neben hinreichender materieller und zeitlicher Rahmung – der Kontaktermöglichung und der Beziehungsorientierung zwischen den Akteur*innen, das bedeutet Zeit und Gelegenheit für Hinwendung, Umsicht, Anteilnahme, Zuspruch und Beistehen. Die darin enthaltene emotionale Anstrengung muss in beruflichen Kontexten als Teil der Arbeit anerkannt und im Arbeitsauftrag abgesichert werden. Um Zwischenmenschlichkeit herzustellen, braucht es ein kooperatives Sich-Aufeinander-Einlassen, d.h. eine bewusste Beziehungsgestaltung im Kontext eines fachlich ausgewiesenen Arbeitsbündnisses (Gahleitner 2017). Schon frühere Untersuchungen wie „the managed heart“ (Hochschild 1983) haben gezeigt, wie schwierig es ist, zwischen Gefühlsausbeutung und ethisch angemessener Zuwendung in beruflichen Kontexten zu differenzieren – wobei die Schwierigkeiten im privaten Bereich der Sorge eher noch größer sein dürften, weil der moralische Druck noch höher ist.

Ob privat oder beruflich setzt gelingende Sorgearbeit individuelle und gesellschaftliche Möglichkeiten voraus, Fürsorge und Selbstsorge auszubalancieren. Voraussetzung ist ein verlässlicher, Halt gebender institutioneller Rahmen mit ausreichend Gestaltungsspielraum und ein von beziehungsorientierter Aktivität von Sorgegebenden und Sorgenehmenden gemeinsam geprägtes Handlungsfeld auf der normativen Basis gegenseitiger Akzeptanz und der Wahrung des Selbst. Gerade die Corona Pandemie zeigt die Lücken in den derzeitigen Rahmenbedingungen auf, die dringend geschlossen werden müssen, ob bezogen auf das Gesundheitswesen, soziale Unterstützungseinrichtungen, Kinderbetreuungen oder von Gewalt betroffene Frauen und macht deutlich, dass z. B. pflegebedürftige Menschen – wie alle Menschen – auch Umsorgung und Möglichkeiten der Teilhabe und Selbstbestimmung brauchen, damit sie nicht vereinsamen und/oder über ihren Kopf hinweg entschieden wird.

Literatur:

Brückner, Margrit (2018): Gefühle im Wechselbad: Soziale Arbeit als beziehungsorientierte Care Tätigkeit. In: Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.): Wa(h)re Gefühle? Sozialpädagogische Emotionsarbeit im wohlfahrtsstaatlichen Kontext. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa, 65-79

Conradi, Elisabeth/ Vosman, Frans (Hg.) (2016): Praxis der Achtsamkeit, Schlüsselbegriffe der Care-Ethik. Frankfurt/ New York: Campus

Gahleitner, Silke (2017): Soziale Arbeit als Beziehungsprofession. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa

Hochschild, Arlie Russell (1983): The Managed Heart. Berkeley/ Los Angeles: University of California Press

Nussbaum, Martha (2003): Langfristige Fürsorge und soziale Gerechtigkeit. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2, 179-198

Ziegler, Holger (2014): Unerbetene Hilfen. Versuch einer Begründung einiger Kriterien zur Legitimation paternalistischer Eingriffe in der Sozialen Arbeit. In: Soziale Passagen, 6, 253-274