Die globale Wirtschaftsleistung ist in den letzten drei Jahrzehnten stärker gestiegen als je zuvor. Das Wachstum verteilt sich jedoch sehr unterschiedlich auf die Weltregionen. Zwar partizipieren alle Regionen an der Entwicklung, aber von einigen Ausnahmen (wie Teilen Afrikas südlich der Sahara und Südasiens) abgesehen, gilt grundsätzlich, dass die Wachstumsraten in weniger entwickelten Regionen (teils deutlich) über denen der entwickelten Welt liegen. Das entspricht den Erwartungen der ökonomischen Wachstumstheorie. Es spiegelt sich auch in den Pro-Kopf-Einkommen wider. In den USA wuchsen diese nach Berechnungen Alfred Eckes (The Contemporary Global Economy, Wiley-Blackwell 2011, S. 7) zwischen 1980 und 2009 im Durchschnitt um 62 %, in Großbritannien sogar um 74 %. Aber was für sich genommen durchaus beachtlich scheint, verblasst im Vergleich mit Indien (+ 230 %), Südkorea (+ 360 %), der Asien-Pazifik Region (+ 594 %) und vor allem China (+ 1.083 %).
Wenn die wirtschaftliche Entwicklung über längere Zeiträume zwischen Regionen variiert, dann verändert das deren relative Gewichte im Verhältnis zueinander. Der in der neueren Wirtschaftsgeschichte vielleicht folgenreichste Fall dieser Art war der Aufstieg erst Europas und dann des Westens im Anschluss an die Industrielle Revolution, der nach einer verbreiteten Lesart die Schlüsselrolle für den Übergang zu modernen Sozialverhältnissen sowie für zwei Jahrhunderte westlicher Vorherrschaft zukommt. Gegenwärtig beobachten wir eine ähnlich folgenreiche Entwicklung, die unter Titeln wie „asiatisches Jahrhundert“ oder „asiatische Renaissance“ eine erneute Verschiebung der globalen Kräftezentren ankündigt, diesmal von West nach Ost und Süd. Zwar dominiert der Westen, als Einheit betrachtet, weiter die Weltwirtschaft, aber der Anteil Asiens am globalen Sozialprodukt liegt mit kaufkraftbereinigt 34 % schon heute (2009) über demjenigen sowohl Nordamerikas (24 %) als auch Europas (27 %), und wenn die Trends der letzten Jahrzehnte sich fortsetzen, dann könnte er nach einer OECD-Studie (Homi Kharas, The Emerging Middle Class in Developing Countries, OECD Development Centre 2010) in gut 20 Jahren (2034) bei 57 % liegen, was ungefähr dem Anteil des Kontinents an der Weltbevölkerung entspräche. Besonders spektakulär verläuft die Entwicklung bekanntlich in China, dessen gegenwärtige Wirtschaftsleistung 13 % des Weltsozialprodukts ausmacht, ein Anteil, der nach „optimistischen“ Schätzungen bis 2040 auf etwa 40 % steigen könnte – gegenüber dann 5 % für die EU-15 und 14 % für die USA.
Projektionen dieser Art, die unter ceteris-paribus-Annahmen getroffen werden und Unwägbarkeiten wie Ressourcenknappheiten, Fragen des Klimawandels usw. ausklammern, sind mit Vorsicht zu genießen, aber dass sie grob die Richtung der erwartbaren Entwicklung anzeigen, gilt weithin als wahrscheinlich (ein auf Wechselkursbasis errechnetes Szenario der EU-Studie Global Europe 2050 sieht Europas Anteil am Weltsozialprodukt 2050 selbst mit dann geschätzten 15 % noch hinter den Stand vor der Industriellen Revolution zurückfallen). Schon die Gegenwartsverhältnisse unterscheiden sich grundlegend von denen der jüngsten Vergangenheit. So kontrollierten die reichen G7-Staaten noch 1990 rund 70 % des globalen Sozialprodukts. Zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2009, war dieser Anteil auf 53 % geschrumpft, und seither hat der Abwärtstrend sich fortgesetzt. Die Finanz- und Schuldenkrise des Westens dürfte ihn weiter beschleunigen, jedenfalls nicht verlangsamen und schon gar nicht umkehren. Zwar treffen ihre Auswirkungen die gesamte Welt, aber da aufstrebende Ökonomien mittlerweile fast die Hälfte des globalen Sozialprodukts beisteuern, sind sie – und ist die Weltwirtschaft als Ganze – weniger abhängig von der Performanz der Etablierten. Gewiss, auch in China „schwächelt“ die Wirtschaft angesichts des rückläufigen Konsums in Nordamerika und Europa, aber mit einer Wachstumsprognose von 7-8 % für das laufende Jahr liegt die Steigerungsrate immer noch über der von Deutschland zu besten Wirtschaftswunderzeiten.
Parallelen zu den veränderten wirtschaftlichen Realitäten finden sich auf anderen Feldern. Der Bildungssektor hat in den zurückliegenden drei bis vier Jahrzehnten einen nie gekannten Schub erfahren. Am geringsten fiel der Zuwachs im Westen aus. So stieg zwischen 1970 und 2009 die globale Population der Sekundarstufenschüler von 196 auf 531 Millionen an. Aber während Westeuropa und Nordamerika aufgrund des schon am Beginn des Messzeitraums hohen Beteiligungsgrads nur gut 8 Millionen weitere Sekundarschüler verzeichneten, liegt der Zuwachs in Ostasien, das wie der Rest der Welt von einer viel niedrigeren Ausgangsbasis startete, bei über 100 Millionen. Das ändert auch die Verteilung des globalen Humankapitalstocks auf die Regionen. 1960 entfielen 80 von weltweit 150 Millionen Erwachsenen, die seinerzeit über eine abgeschlossene Sekundarstufenausbildung verfügten, auf die entwickelte Welt. Heute gibt es mehr als 1,2 Milliarden Menschen mit Sekundarstufenabschluss, aber drei Viertel (940 Millionen) der Absolventen lebt in Entwicklungsländern. Im Hochschulbereich sind die Trends ähnlich. War 1970 noch nahezu jeder zweite Student an einer nordamerikanischen oder westeuropäischen Universität eingeschrieben, so galt das 2009 nur noch für jeden vierten. Und von den knapp 320 Millionen Personen, die bis 2010 über einen Hochschulabschluss verfügten, entfielen zwei Drittel auf Entwicklungsländer. Die absolut größten Zuwächse verzeichnete wiederum die Asien-Pazifik-Region, deren Studentenzahlen sich seit 1970 verzwölffacht haben. Im Westen wuchs die Zahl der Studierenden dagegen nur um den Faktor 1.6. Eine Folge: Seit 2005 hat Ostasien den größten Anteil an der globalen Studentenpopulation.
In der Wissenschaft setzt die Gewichtsverschiebung etwas später ein und ist sie bislang auch weniger weit vorangeschritten, aber die Trends sind auch hier unmissverständlich. Moderne Wissenschaft fand bis vor kurzem praktisch nur in Europa, Nordamerika und Japan statt. Das ist vorbei. Noch 1990 entfielen 95 % der globalen Forschungs- und Entwicklungstätigkeit auf die entwickelte Welt, 92 % auf gerade einmal sieben OECD-Länder. Weniger als 20 Jahre später, 2007, war der Anteil der entwickelten Welt auf 76 % geschrumpft – und das trotz weiter gestiegener Forschungsausgaben. Verstärkte Forschungs- und Entwicklungsbemühungen werden in allen Teilen der Welt mit vielerorts (z.B. in der Türkei, dem Iran und selbst in Afrika) erstaunlich hohen Steigerungsraten beobachtet, aber der Löwenanteil an den veränderten Relationen im Wissenschaftssystem kommt einmal mehr Ostasien, insbesondere China zu. Die Folgen: Gemessen an der Zahl wissenschaftlicher Publikationen hat sich der Anteil Asiens an der Weltwissen(schaft)sproduktion zwischen 1980 bis 2009 von 11 auf 29 % fast verdreifacht. Im selben Zeitraum fiel der Anteil der USA von 43 auf 28 % zurück; derjenige der EU, der gleichfalls zurückgegangen ist, liegt heute (2010) bei 37 %. Und was die Zahl der in der Forschung tätigen Wissenschaftler betrifft, so wird China schon bald Nordamerika und Europa überrunden.
Man sieht: Die Verhältnisse, die unser Denken über die politischen Lagergrenzen hinweg geprägt haben und bis heute bestimmen, sind Vergangenheit. Der globale Durchbruch moderner Sozialstrukturen und Lebensbedingungen, durch den sie überholt worden sind, ist ein facettenreicher, multidimensionaler Prozess, der die soziale Welt im Ganzen umwälzt und sich nicht auf einige wenige Aspekte reduzieren lässt. Gleichwohl kommt den hier skizzierten Entwicklungen ein besonderes Gewicht zu. Um ihre Sprengkraft richtig einzuschätzen, empfiehlt es sich, sich klarmachen, dass sie weithin noch am Anfang stehen. Das erklärt auch, dass die Welt erst jetzt beginnt, sie wahrzunehmen und auf ihre Konsequenzen zu befragen. Diese Konsequenzen erscheinen je nach Beobachtungsstandpunkt in einem unterschiedlichen Licht.
Aus Sicht des Westens bedeuten sie einen relativen Abstieg und das Ende seiner mehrhundertjährigen Vorherrschaft. Die Gravitationszentren der Macht verlagern sich, und ungewiss scheint momentan nur, ob an die Stelle des alten Zentrums ein neues Zentrum tritt, das alle anderen komplett dominiert – als aussichtsreichster Kandidat dafür kämen aus heutiger Sicht am ehesten China und/oder Ostasien in Frage –, oder ob es stattdessen bei den polyzentrischen Verhältnissen der Gegenwart bleibt. Beide Szenarien beinhalten aber so oder so den Übergang zu einer postwestlichen Ordnung, in der der Westen seine Schlüsselposition als Taktgeber und Referenzmodell der Modernisierung verliert, zu einem von mehreren globalen „Spielern“ herabgestuft wird, der nicht länger anderen das Geschehen diktiert, sondern selbst vermehrt zur Anpassung an Wandlungen genötigt wird, die ihn betreffen, aber jenseits seiner Kontrolle liegen. Der bislang sichtbarste politische Ausdruck dieser Entwicklung war die Aufstockung der G7/8 zu den G20. Dass ausgerechnet George W. Bush, dessen Präsidentschaft wenige Jahre zuvor im Zeichen lauthals proklamierter amerikanischer Hegemonie begonnen hatte, sich gezwungen sah, als eine seiner letzten Amtshandlungen das erste G20-Gipfeltreffen einzuberufen, entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik.
Aus asiatischer Perspektive stellen die Dinge sich (bei allem Triumphalismus, den es auch gibt) etwas nüchterner dar und erscheinen sie geschichtsbewussten Beobachtern lediglich als Rückkehr zur „Normalität“ vormoderner Verhältnisse, als Asien mehr oder weniger „die Welt“ war (so ein neuerer Buchtitel: Steward Gordon, When Asia Was the World, Yale UP 2008). Aufgrund der Größe des Kontinents und seines Anteils an der Weltbevölkerung wäre bei „normaler“ Entwicklung, d.h. unter Bedingungen annährend gleicher Entwicklungsstände zwischen den Kontinenten und Regionen, zu erwarten, dass Asien typischerweise die Hälfte oder mehr des Anteils am Weltsozialprodukt, am globalen Humankapitalstock, am globalen Wissensstock usw. erzeugt, hält, auf sich vereint. Auf diese Art von Normalität steuert die Welt jetzt zu.
Natürlich ist sie noch nicht Realität. Vielleicht wird sie das auch nie. Skeptiker mögen einwenden, projektierte Entwicklungen seien keine tatsächlichen Entwicklungen, und vor den Gefahren der Extrapolation warnen. Solche Einwände und Vorbehalte sind nicht ganz unbegründet. Was die Skeptiker übersehen, ist freilich zweierlei: erstens, dass sie selbst nichts anderes tun, denn auch wer auf die Kontinuierung des Vertrauten setzt, extrapoliert, nur anders; und zweitens, dass der Schaden, den zu gewärtigen hat, wer sich frühzeitig auf Veränderungen einstellt, die dann doch nicht (genau so) eintreten, vermutlich geringer ist als der, der droht, wenn es am Ende ein böses Erwachen gibt, weil nicht zur Kenntnis genommen wurde, was längst erkennbar war.
Wenn ich recht sehe, dann ist die skeptische Haltung in der Soziologie besonders stark verbreitet. Ist das der Grund, warum das Thema dieses Blogs, im Unterschied zu Ökonomik, Politikwissenschaft und selbst Geschichtswissenschaft, in unserem Fach noch kaum Beachtung findet? Liegt es am epistemologischen Konservatismus, den Robert Nisbett einst der soziologischen Tradition bescheinigte und dem Wandel stets ein wenig suspekt ist? Oder woran liegt es sonst? Etwa – schon wieder? – am methodologischen Nationalismus? Am Hang zur Nabelschau? Die Ökonomik tut sich jedenfalls nicht so schwer damit, Entwicklungen zu registrieren und zu analysieren, die, so der Economist vor einigen Jahren, „one of the biggest revolutions in history“ darstellen. Allerdings denkt sie auch schon lange in globalen Horizonten, und wer global beobachtet, dem kann ein Umbruch von derart „seismischer“ Qualität (World Economic Forum) nicht so leicht entgehen. Seit sie an einer Globalgeschichte arbeitet, die diesen Namen wirklich verdient, gilt das vermehrt auch für die Historiograhie. Und die Politikwissenschaft hat schon von Haus aus eine besondere Affinität zu den (neuen) geopolitischen Realitäten. Nur die Soziologie hält sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eigentümlich bedeckt.
Was immer die Ursachen, Zeiten radikalen Wandels führen regelmäßig auch zu intellektuellen Neuvermessungen der sozialen Welt. Die Soziologie wäre gut beraten, sich daran zu beteiligen. Denn nahezu alles, was in ihren Gegenstandsbereich fällt, wird durch diesen Wandel berührt – nicht erst in ferner Zukunft, sondern heute schon.