Bei jedem Lebensmittelskandal wird wieder der böse Verbraucher beschworen, der nicht bereit sei, vernünftige Preise für Essen zu zahlen. Nun ist es richtig, dass ein Hauptproblem des (deutschen) Lebensmittelmarkts ist, dass die Preise so niedrig sind, dass viele Produkte de facto unter den Herstellungskosten verkauft werden und dass dadurch gewisse Anreize entstehen, den Verbraucher zu täuschen (etwa Meerrettich als Wasabi, konventionell hergestellte Eier als Bio-Eier oder Pferde- als Rinder- oder Schweinefleisch zu deklarieren) und auch verdorbene oder minderwertige Ware zu verkaufen (Gammelfleisch im Döner, mit Aflatoxin verseuchte Milch). Was aber nicht unbedingt richtig ist, ist, dass „der Konsument“ nicht bereit sei zu zahlen.
Auch wenn es sicherlich stimmt, dass manche Menschen so wenig Geld haben, dass sie sich wirklich nur das billigste Essen leisten können, gilt gerade beim Essen, dass die meisten Kunden eben nicht das billigste kaufen, sondern das, was ihnen schmeckt. Wenn man einen Landliebe-Joghurt essen möchte, dann möchte man eben Landliebe und nicht Nestlé oder Ehrmann – und schon gar nicht ein Billig-No-Name-Produkt, und Letztere kauft man dann auch nicht. Eines anderes Beispiel findet sich auf unserer Straße. Dort gibt es seit Jahren zwei Döner-Buden. Die erste verkauft den Döner aus billigem Pressfleisch für maximal 1,50 € – die Sorte, die hier in Berlin vor kurzem vom Gammelfleisch-Skandal betroffen war. Etwas weiter unten gibt es einen Bio-Neulandfleisch-Döner mit viel Salat und leckeren Soßen für 3,50 €. Entgegen allen Binsenweisheiten will aber niemand den Billig-Döner haben. In den letzten sechs Jahren geht der Laden regelmäßig alle drei bis vier Monate Pleite und wechselt den Besitzer (aus mir völlig unverständlichen Gründen übrigens immer wieder mit demselben billigen Ekel-Döner, den keiner haben will). Der Bio-Döner brummt dagegen. Das Geschäft läuft so gut, dass regelmäßig abends zwischen sieben und acht das Fleisch ausgeht und der Besitzer Feierabend machen kann. Man ist als Verbraucher dem Zwang ausgesetzt, rechtzeitig zum Essen zu kommen, wenn man noch einen leckeren Döner haben will. Der Verbraucher will also i.d.R. nicht günstiges Essen, sondern gutes Essen.
Auch die Hersteller haben ein großes Interesse daran, ihre Produkte möglichst gewinnträchtig – und das heißt i.d.R.: zu möglichst hohen Preisen – zu verkaufen. Bereits Durkheim (1992) beobachtete, dass Menschen i.d.R. (Preis-)Konkurrenz meiden. Der marktsoziologische Ansatz der Populationsökologie (= Organisationsökologie, „Population Ecology Approach“) (Freeman/Hannan 1989, Carroll et al. 2003) greift diesen Gedanken auf: Betrachtet man die gesamte Unternehmenspopulation auf einem Markt, also alle Hersteller, die ein bestimmtes Produkt herstellen, so lässt sich feststellen, die meisten Produzenten versuchen, dem Wettbewerb auszuweichen. Stattdessen suchen sie sich Marktnischen. Massenproduzierende Großunternehmen („Generalisten“) beherrschen i.d.R. den Kernmarkt, wo viele potentielle Kunden vorhanden sind. Ihr entscheidender Wettbewerbsvorteil ist ihre relative Größe im Vergleich zu anderen Herstellern, weshalb sie in Massenproduktion relativ billig produzieren und damit ihre Produkte auch günstiger verkaufen können als andere Produzenten. Daneben können kleine Unternehmen („Spezialisten“) z.B. Marktsegmente besetzen, die für Großunternehmen nicht profitabel sind; Kundensegmente mit sich rasch ändernden, speziellen Wünschen bedienen; oder Waren und Dienstleistungen anbieten, die wegen ihrer vermeintlichen Authentizität gekauft werden. Wie breit die einzelnen Marktnischen sind, ist dabei von Markt zu Markt unterschiedlich: Je höher die sog. Umweltressourcen eines Marktes konzentriert sind, desto weniger Unternehmen können i.d.R. auf dem Markt langfristig überleben, weil sie keine Ausweichstrategie haben und alle im selben Marktsegment konkurrieren (müssen). Erstreckt sich die Wettbewerb dagegen über sehr viele Dimensionen, bleibt mehr Raum für Spezialisten, weil bestimmte Segmente für die Generalisten unrentabel sind.
Gemäß diesem Modell dürfte es auf dem Lebensmittelmarkt keine Preiskonkurrenz geben, weil es sich um einen reinen Spezialistenmarkt handelt. Nicht nur existieren zahlreiche Teilmärkte – der Brotmarkt, der Fleischmarkt, der Milchmarkt usw., sondern diese sind wieder in Submärkte untergliedert (z.B. bei Fleisch: Rindfleisch, Schweinefleisch, Lammfleisch usw., bei Milchprodukten: Joghurt, Quark, Käse usw.), die wieder in Submärkte untergliedert sind (z.B. bei Joghurt: Naturjoghurt, Fruchtjoghurt usw.) – und selbst innerhalb eines Submarktes stehen die Hersteller oft nicht wirklich nicht Konkurrenz, weil wir eben, wie bereits erwähnt, essen, was uns schmeckt, und wenn wir den Joghurt oder die Salami von einem bestimmten Hersteller besonders mögen, sind diese Produkte nicht einfach substituierbar. Ob wir Joghurt täglich oder nur einmal im Monat essen, hängt mehr von den persönlichen Essgewohnheiten und Launen ab, als vom Preis.
Dennoch ist der Preiswettbewerb auf dem Lebensmittelmarkt so massiv, dass seit Jahren die Preise stabil sind oder sogar sinken. Warum ist das so?
Meines Erachtens lässt sich dieser Preiswettbewerb nur erklären, wenn man beachtet, dass wir zwar rein theoretisch unser Essen per persönlichen Einkauf, Gemüsekiste oder Online direkt beim Hersteller – also z.B. beim Bauern oder bei Nestlé – kaufen könnten. Die wenigsten Deutschen tun das. Vielmehr kaufen wir (wenn wir selbst kochen) unser Essen im Supermarkt oder – wenn es hoch kommt – im Tante-Emma-Laden oder auf dem Markt. Kurz: Wir sind auf Zwischenhändler angewiesen, und genau das wird in den meisten neueren marktsoziologischen Analysen oft vergessen: dass der Handel auf modernen Massenmärkten ein wichtiges Zwischenglied der Produktionskette zwischen Produzenten und Konsumenten ist!
Betrachtet man das Verhältnis des Kunden zum (Lebensmittel-)Handel (und nicht zu den Herstellern!), so kann man zunächst festhalten, dass der Handel unsere Wahlfreiheit bezüglich Lebensmitteln erheblich einschränkt:
Wir haben i.d.R. einen sehr begrenzten Einkaufsradius, und zwar gerade bei Lebensmitteln – die nähere Nachbarschaft, vielleicht den Stadtrand oder die Nachbarstadt oder der Arbeitsweg. Wie groß dieser Radius ist, hängt davon ab, wie viel Zeit wir haben (gerade bei Berufstätigen ist diese sehr beschränkt) und wie mobil wir sind (Haben wir ein Auto oder sind wir auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen? Müssen wir die Lebensmittel alle selbst tragen, und wie groß sind die Lasten, die wir selbst tragen können?), was wiederum vom Wohnort (Stadt, Land) der sozialen Lage abhängt (insb. Alter, Gesundheitsstatus, Einkommen). Insgesamt ist dieser Radius aber auf jeden Fall begrenzt, und wir haben nur Lebensmittelhändler zur Auswahl, die sich innerhalb dieses Radius befinden. Betrachtet man nun diesen Radius, so stellt man fest, dass die Auswahl an Händlern lokal sehr unterschiedlich verteilt ist. Als derzeitige Bewohnerin des Prenzlauer Bergs in Berlin habe ich z.B. Zugriff auf eine sehr große Palette an Vertreibern von qualitativ hochwertigen Lebensmitteln – der Kollwitz-Markt, zahlreiche Bio-, Delikatess- und Speziallebensmittelläden, und selbst in den „normalen“ Supermärkte kann man Kobe-Rind und hochwertige Bio-Produkte kaufen. Ich kann also nach Lust und Laune so viel Geld für gutes Essen ausgeben, wie ich möchte.
Es gibt aber andere Stadtviertel in Berlin oder Kleinstädte und Dörfer, in denen es dieses Angebot nicht gibt. Meine Eltern, die in einem Dorf leben, sind momentan sehr glücklich, dass sich bei ihnen am Ort ein Edeka angesiedelt hat, der tatsächlich Lebensmittel mittlerer Qualität vertreibt (um gehobene Qualität zu bekommen, müssten sie 30km fahren, und bestimmte Produkte schicke ich meiner Mutter allen Ernstes per Post von Berlin nach Süddeutschland) – im Gegensatz zu mehreren Nachbarorten, in denen es entweder keine Lebensmittelhändler oder eben nur Billig-Händler gibt, weshalb die meisten Bewohner dieser Orte mit dem Auto in mein Heimatdorf fahren (Pech für den, weder ein Auto noch eine Tochter in Berlin hat). Lebensmittelgeschäfte haben also in kleinen Städten, städtischen Randgebieten und auf dem Land oft ein Oligopol. Konsumenten haben folglich im Alltag bereits nur eine sehr beschränkte Auswahlmöglichkeit an Handelsunternehmen zur Verfügung und können sich nicht frei aussuchen, bei welchem Händler sie einkaufen.
Die Handelsunternehmen, bei denen wir einkaufen, übernehmen außerdem eine wichtige Gatekeeper-Funktion (Glucksmann 2000): Sie selektieren Produkte vor und schränken damit die Wahlfreiheit des Kunden auf Märkten ein, da diese nur kaufen können, was auch im Regal steht. Wenn das leckere Bio-Fleisch nicht im Supermarktregal liegt, können wir es auch nicht kaufen – egal, wie viel wir bereit wären, dafür zu zahlen.
Die absolute Wahlfreiheit des Verbrauchers auf modernen Massenmärkten, die uns von der Politik unterstellt und den Medien immer wieder suggeriert, ist folglich eine Illusion.
Gleichzeitig steht der Handel den Produzenten als gebündelte Konsumentenmacht gegenüber. Die jeweilige Verhandlungsmacht von Produzenten und Handels ist dabei marktspezifisch. Auf manchen Märkten (z.B. der Automobil-, IT- oder Pharmaindustrie) stehen vergleichsweise wenige und relativ mächtige Hersteller einer Vielzahl vergleichsweise machtloser Händler gegenüberstehen oder vertreiben gar ihre Produkte selbst (z.B. Autohändler, Elektromärkte, Apotheker). In solchen Fällen können die Hersteller die Preise mehr oder weniger diktieren. Bei Lebensmitteln ist es umgekehrt: Der Handel ist viel marktmächtiger als die Produzenten.
Einer der Gründe hierfür ist die Verderblichkeit des Produktes: Lebensmittel sind nur eine begrenzte Zeit haltbar. Gelingt es dem Hersteller nicht, sie in dieser Zeit zu verkaufen, muss er sie notfalls wegwerfen, wie etwa das Beispiel der Gurken beim Ehec-Skandal 2011 gezeigt hat (da half es auch nichts, dass sich nachher herausstellte, dass die Gurken gar kein Ehec hatten). Es besteht also beim Produzenten ab einem bestimmten Zeitpunkt ein erheblicher Verkaufszwang – im Zweifelsfall ist es besser, die Ware unter Herstellungspreis zu verkaufen, als gar nichts zu verkaufen.
Verschärft wird dieses latente Ungleichgewicht zwischen Handel und Produktion durch eine Überproduktion, wie etwa das Beispiel des Milchmarktes zeigt: Aus technisch-betriebswirtschaftlichen Gründen erfordert die Produktion große Kapazitäten. Grundsätzlich sind diese Kapazitäten unbegrenzt ausdehnungsfähig. Diese hohen Kapazitäten machen die Molkereien aber gleichzeitig anfällig gegenüber Nachfrageschwankungen und Rückgängen. Der Handel dagegen muss nicht auf Kapazitäten Rücksicht nehmen. Entsprechend der Absatzerwartungen kann er die jeweils benötigte Menge einfach bei den Molkereien bestellen. Die Nachfrageseite ist deshalb auf dem Milchmarkt strukturell in einer besseren Verhandlungsposition als die Angebotsseite. Wenn ein Überangebot besteht, macht der Anbieter (Molkerei) seine Angebote auf Kosten der Wettbewerber – wenn einer etwas verkauft, verkauft es der andere nicht. Die Nachfrager (Supermärkte) machen sich dagegen keine Konkurrenz, weil ja genügend Produkte für alle da sind. Die Produzenten können darüber hinaus meistens nur wenige Produkte gleichzeitig herstellen. Der Handel kann dagegen aus einer Vielzahl von Produkten auswählen. Entsprechend sind die Anbieter von Nachfragern mit großem Marktanteil abhängiger als die Nachfrager von der Angebotsseite. Der Handel kann weiterhin von heute auf morgen den Lieferanten wechseln oder zusammenschließen und Mengenrabatte durchsetzen. Preisabsprachen auf Produzentenseite sind dagegen sehr instabil, weil immer die Versuchung da ist, sein eigenes Produkt auf Kosten der Konkurrenten abzusetzen.
Da das Angebot an Lebensmitteln die Nachfrage übersteigt und da der Regalplatz in den Läden begrenzt ist, kann der Händler den Hersteller auswählen, von dem er ein Produkt kaufen will. Wenn ein Laden ein Produkt aber nicht führt, kann es ein Produzent auch nicht verkaufen. Der Lebensmittelhandel nutzt diese Marktmacht gegenüber den Herstellern in weitaus größerem Maße aus, als dies sich die meisten Verbraucher vermutlich vorstellen können und übt erheblichen Druck in vielerlei Hinsicht aus. Dies beginnt schon damit, dass der Lebensmittelhandel den Herstellern bestimmte Produkteigenschaften vorschreibt, z.B. eine Mindestqualität oder dass das Produkt ein Öko-Produkt ist. Wenn der Produzent nicht gerade eines der Markenprodukte produziert, die in jedem Supermarkt stehen müssen, entstehen ihm erhebliche Kosten, um überhaupt eine Chance zu haben, dass sein Produkt in den Regalen eines Lebensmittelgeschäfts ausliegt. So müssen Lebensmittelhersteller häufig Listungsgebühren, Investitionszuschüsse, Eröffnungs- und Jubiläumsrabatte bezahlen, also einmalige Zahlungen zu Beginn der Geschäftsbeziehung. Diese amortisieren sich erst im Lauf der Zeit. Wird die Geschäftsbeziehung frühzeitig beendet, sind diese Kosten unwiederbringlich verloren. Weiterhin fordern Lebensmittelhändler oft eine bestimmte Mindestliefermenge. Um diese erfüllen zu können, müssen Produzenten bisweilen ihre Kapazitäten ausweiten, d.h. in neue Anlagen investieren, neues Personal einstellen und neue Zuliefererbeziehungen aufbauen. Der Handel führt weiterhin immer mehr Handelsmarken und No-Name-Produkte. Wenn ein Hersteller ein solches Produkt für ein Handelsunternehmen herstellt, muss er seine Produktion darauf abstellen. Auch dies erfordert erhebliche Investitionen. Insgesamt verursacht die Auflösung der Geschäftsbeziehungen und der Wechsel zu einem anderen Händler beim Hersteller also neben den üblichen Such-, Informations- und Verhandlungskosten erhebliche Investitions- und Opportunitätskosten: Die fremden Handelsunternehmen haben bereits gefüllte Regale. Um einen Platz in diesen Regalen zu erlangen, muss ein Konkurrenzprodukt ausgelistet werden. Hierzu kann ein Produzent ein Handelsunternehmen in der Regel nur überzeugen, wenn er diesem erhebliche Preisnachlässe bietet. Während sich die Produzenten also einen Vertragsbruch nicht leisten können, halten die Handelsunternehmen durchaus bisweilen Verträge mit den Produzenten nicht ein. Vor allem aber können Lebensmittelhändler Preisdruck auf die Hersteller ausüben – und tun dies dann auch in der Praxis. Wie er mit dem gesenkten Preis umgeht, ist dann Problem des Herstellers.
Zurück zum Verbraucher. Eingangs hatte ich geschrieben, dass die meisten Konsumenten Lebensmittel vor allem nach Kriterien wie persönlichem Geschmack, Verfügbarkeit, Verträglichkeit, Service usw. auswählen. Der Preis spielt dabei keine Rolle, weil es zunächst um ein einzigartiges Esserlebnis geht – die Walnuss-Salami von unserem Salami-Verkäufer Jan schmeckt eben völlig anders als die vom Nachbarstand oder die im Supermarkt, abgesehen davon, dass Jan uns noch ein besonderes Einkaufserlebnis vermittelt, weil er sehr nett ist. Wenn die Salami bei Jan ist aus ist, kaufe ich normalerweise nicht woanders eine andere, sondern warte, bis Jan wieder Nachschub liefern kann. Populationsökologisch gesprochen, gehören Jans Salami und die Salami des Nachbarstandes unterschiedlichen Marktnischen an und sind daher erfolgreich dem Wettbewerb ausgewichen.
Es gibt allerdings (außer Armut) beim Verbraucher einen Fall, in dem der Preis eine Rolle spielt, und zwar wenn Produkte gleich sind, also kein erkennbarer Qualitätsunterschied besteht – sie also derselben Marktnische angehören. (Die Frage, wie wir auf die Idee kommen, dass Lebensmittel überhaupt gleich sein können, ist ein Thema für einen anderen Tag. Hier an dieser Stelle soll so viel genügen:) Warum sollte ich für die industriell hergestellte Milch der Marke meiner Wahl im Supermarkt 1,20 € zahlen, wenn im Supermarkt direkt nebenan (also ohne wesentlichen zusätzlichen Aufwand an Zeit und Geld und ohne erkennbaren Mehrwert) dieselbe Milch 80 ct. kostet? Vielleicht ist man auch bereit, 20 ct. mehr für die Milch im kleinen Gemüseladen zu zahlen, damit der Händler überlegen kann, aber dieser Großmut hat seine Grenzen – und gilt definitiv nicht für nationale und internationale Großkonzerne. Es gibt natürlich außergewöhnliche Situationen – es geht etwa um 23.00 Uhr die Milch aus, und um die Uhrzeit haben nur noch der Tankstellen-Shop und der Spätkauf offen. Oder man ist am Bahnhof oder in der Innenstadt, wo es keine Supermärkte gibt. In solchen Fällen zahlt man dann vielleicht auch mal 2,50 € für dieselbe Milch. Normalerweise gehen wir aber davon aus, dass – wenn derselbe Hersteller zwei unterschiedliche Supermärkte beliefert – die Qualität in beiden Fällen die gleiche ist, weshalb wir nicht bereit sind, in einem Supermarkt mehr zu zahlen als in dem anderen.
Es gibt also tatsächlich eine mangelnde Bereitschaft des Verbrauchers mehr zu zahlen als nötig – aber dieses „nötig“ bezieht sich nicht auf die Hersteller, sondern auf den Zwischenhandel. Und daher werden – so meine Deutung – die niedrigen Lebensmittelpreise nicht durch die mangelnde Zahlungsbereitschaft der Verbraucher oder das mangelnde Qualitätsbewusstsein der Produzenten verursacht, sondern durch die Konkurrenz des Lebensmittelhandels – insbesondere der großen Supermarktketten und Discounter untereinander, die fast ausschließlich über den Preis verläuft.
Literatur
Freeman, J/Hannan, Michael T. (1989): Organizational Ecology. Cambridge (MA): Harvard University Press
Carroll, Glenn/Dobrev, Stanislav/Swaminathan, Anand (2003): Theorie der Ressourcenteilung in der Organisationsökologie. In: Allmendinger, Jutta/Hinz, Thomas (Hrsg.) (2003): Organisationssoziologie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 381-413
Durkheim, Emile (1992): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Glucksmann, Miriam (2000): Retailing. In: Economic Sociology 1 (3)
Ich danke für diesen überaus gut recherchierten und literarisch sogar sehr hochwertigen Artikel. Häufig schaffe ich es kaum den ganzen Artikel zu lesen, da diese teilweise doch extrem lang sind und zudem kein wirkliches Ende, im Sinne eines Fazits, finden.
Ausnahmen bestätigen aber bekanntlich die Regeln, weshalb ich diesen Beitrag sogar so gut fand, dass ich ihn umgehend ausgedruckt und abgeheftet habe.
Warum das Ganze?
Selten nähert sich jemand einer solche heiß diskutierten Debatte wie Sie es getan haben. Die angeführten Begründungspunkte passen einfach. Als Student stehen mir nun wahrlich nicht die größten Summen zur Verfügung. Dennoch lebe ich zusammen mit meiner Freundin überaus bewusst, erstellen Ernährungspläne für die Woche und kaufen dann danach ein. Dabei verzichten wir etwa vollkommen auf Fisch und Fleisch und investieren das hierbei gesparte Geld lieber in hochwertigere Produkte aus dem Bio-Laden und Tegut. Die Beträge auf dem Kassenbon lassen mich zwar innerlich fast immer aus den Wolken fallen. Dennoch muss ich gestehen, dass ich gute Lebensmittel liebe. Sie sind mir etwas wert und dann verzichte ich auch eher auf eine fünfte Jeans, anstelle bei Lebensmitteln zu sparen. Und das womöglich noch auf Kosten der Erzeuger (bspl. Kaffee, exotische Früchte, Milch).
Ich denke, dass das Hauptproblem jenes ist, das bereits in Ihrem Text Erwähnung gefunden hat: Discounter. Der ständige Kampf um Niedrigpreise für das Angebot der Woche, ist ein Kampf der Hersteller um deren Existenzen. Es kann nicht angehen, dass ich eine Ananas aus Costa Rica für 1,29€ im Angebot kaufen kann, aber der Kerosinaufschlag für einen Flug von Frankfurt nach Berlin bereits 60€ beträgt. Hinzu kommt, dass es einfach nicht sein muss, dass im tiefsten Winter Erdbeeren nicht mal 1,-€ kosten, der türkische Marktschreier sein frisches, leckeres und wirklich gutes Obst und Gemüse für 3,-€ nicht verkaufen kann.
Ich danke für diesen Beitrag! Liebe Grüße,
Patrick
Lieber Patrick,
ja – die Discounter sind ein Problem. Das andere Problem ist meines Erachtens genau das, das Sie andeuten – das Verbraucherverhalten (zu dem ich fest vorhabe, auch noch etwas zu schreiben), und zwar v.a. das mangelnde Ernährungswissen vieler Verbraucher.
So banal es klingen mag: man muss erst einmal wissen, dass Erdbeeren im Winter nich wachsen können, und man muss gute von schlechten Lebensmitteln unterscheiden können. Das hat mich z.B. bei dem Berliner Gammelfleischskandal am meisten verblüfft- die Behauptung, die Verbraucher hätten nicht wissen können, dass das Fleisch schlecht ist.
Wenn man sich einigermaßen mit Essen auskennt, sieht man auf Anhieb, welches Fleisch billiges Schaumfleisch (und damit anfällig für Panscherei) und welches Fleisch echt ist – und man kann sich auch ausrechnen, dass es nicht sein kann, dass ein Döner nur 1 Euro 1,50 Euro kostet, wenn die Zutaten schon mehr kosten. Die konsumsoziologisch spannende Frage ist m.E., wie es kommt, dass viele Verbraucher das nicht wissen.
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Wenn man die gewisse Machtposition des Handels darstellt (übrigens muss man sich eine gewisse Einkaufsmacht auch erst einmal erwerben, die wird einm nicht geschenkt, kürzlich hat z.B. der traditionsreiche, regionale „Qualitätssupermarkt“ Tegut seine Selbständigkeit aufgegeben, um sich einem nachfragestärkeren Konzern anzuschließen), dann muss man sich andererseits fragen, warum der Handel ein so schwieriges Geschäft ist, das erst dann lukrativ wird, wenn man es extrem schlau und verbraucherbezogen aufzieht. Man stößt dann schnell darauf, dass der Gewinnhebel immer bei der Menge und der Kostendegression durch Skalierung liegt – „Tante Emma“ hat bekanntlich keine Chance, und der ganze Entwicklungsprozess im Einzelhandel der letzten 50 Jahren ging immer hin zu größeren Einheiten (übrigens auch im Autohandel). Prototypisch für diese Einsicht war Aldi.
Bis dahin ist das aber alles noch pure Ökonomie. Soziologisch ist eventuell die Rolle des Verbraucherverhaltens interessant, und zwar im Kontext mit der hohen Mengensensitivität der Lebensmittel-Märkte. Dabei lässt sich feststellen, dass eine kleine Konsumentengruppe (vielleicht kaum mehr als 5%) immer dann einen überproportionalen Einfluss auf Angebot und Preise erhält, wenn sich diese kleine Gruppe bewusst verhält. Z.B. gibt es eine sehr kleine Gruppe von Konsumenten, die die Prospekte verschiedener Händler akribisch zu Hause am Küchentisch vergleicht und auf Preisvorteile sehr schnell reagiert (erst neulich wieder von so einem Fall gehört, wo sich jemand regelrecht einen Sport daraus macht). Von diesen wenigen „geizigen“ UND wechselbereiten Konsumenten zehren alle anderen Konsumenten automatisch mit, d.h. wenn ich z.B. Butter und Wurst kaufe oder auch Bio-Genüse, verlasse ich mich implizit immer darauf, dass der Preis ungefähr in Ordnung geht, weil andere sich über die Preise orientiert haben und auch bereit sind, ihr Einkaufsverhalten entsprechend zu agieren. Weil nun Mengen so wichtig sind und der Händler immer darauf bedacht ist, dass nichts im Regal liegen bleibt, sorgt die Gruppe der Geizigen für alle anderen, die einfach einkaufen, ohne sich die Märkte transparent gemacht zu haben, mit, dass der Preiswettbewerb für den Mengenabsatz eine so große Bedeutung hat. (Ähnliches lässt sich eventuell für die unterschiedlichen Qualitätsstufen annehmen, z.B. können wenige Weinkenner dafür sorgen, dass das Angebot bei Weinen nicht der letzte Schrott ist). Oder anderes gesagt: Die Masse der Verbraucher verhält sich „parasitär“ zu den wenigen, die sich um Qualität und Preis einen Kopf machen — und der Handel versucht dieses Verbraucherverhalten dann wieder durch diverse Tricks auszuhebeln.
Übrigens tendiert im europäischen Vergleich das Preisniveau in Deutschland besonders stark nach unten. Die Briten geben z.B. durchschnittlich mehr für Lebensmittel aus. Das könnte darauf hindeuten, dass die „Geizigen“ in Deutschland einen größeren Einfluss haben als in anderen Ländern.
Ich finde es übrigens bei diesem Thema ausgesprochen schwierig, die für Soziologen spezifischen Fragestellungen zu entdecken, die nicht schon von der Ökonomie behandelt wurden. Das Verhalten der Marktakteure ist ja schon eine eigene Wissenschaft, die längst sämtliche Aspekte umfasst – Handelsstrategien, Vermarktungsstrategien (Preis-, Qualitäts-, Mengen-Führerschaft?), Logistik und Lokalisierung, Warenpräsentation, Rabattstaffeln, etc ad infinitum, inzwischen rücken auch immer mehr die mannigfaltigen Irrationalitäten des Verbraucherverhaltens in den Mittelpunkt.