Ich habe gestern geschrieben, dass ich – anders als Volker H. Schmidt – nicht sicher bin, ob wir es in Asien mit denselben Modernisierungstendenzen wie in Europa zu tun haben, oder ob verschiedene asiatische Regionen eigene Entwicklungspfade beschreiten. Wie immer in der empirischen Sozialforschung besteht die Gefahr, das zu sehen, was man sucht, weshalb ich dafür plädiert habe, dass wir erst einmal viel genauer auf Details zu achten und sich ggf. von der Wirklichkeit überraschen zu lassen. Ein Beispiel für ein solches Überraschungserlebnis ist das in Deutschland medial vermittelte Bild vom ernsthaften, betriebsamen und ständig arbeitenden Chinesen. Schaut man genauer hin, stellt man fest, dass die Chinesen (auch) ein sehr verspieltes Volk sind.
Männer, Frauen, Junge, Alte – gespielt wird in China allen sozialen, Alters- und Geschlechtergruppen (vielleicht bei den Älteren etwas mehr, weil sie mehr Zeit haben), bevorzugt Mahjong, Karten oder chinesisches Schach.
Ebenso findet man überall Spielende – in speziell dafür vorgesehenen Treffs, an Straßenecken oder bei der Arbeit. Gerade in Läden oder auf Märkten (in denen es zwar manchmal sehr hektisch zugeht, es aber auch sein kann, dass zwischendurch stundenlang gar nichts passiert) findet man sehr oft Spielende.
Das Spielen ist dabei ein sehr soziales und geselliges Ereignis, bei dem auch viel gelacht wird. Zunächst erlauben Spiele wie Mahjong die Interaktion zwischen mehreren Spielenden.
Aber auch das soziale Umfeld wird in das Spielgeschehen mit einbezogen. Dies beginnt damit, dass Passanten den Spielenden interessiert über die Schulter schauen und ggf. stehenbleiben, um das Spiel kurz zu beobachten.
An bestimmten Orten kann es sein, dass wenige Spiele von vielen Zuschauern umgegeben sind. Sieht etwa eine Menschentraube in einem Park, so ist durchaus wahrscheinlich, dass sie ein Spiel beobachten.
Die Zuschauer sind aber nicht nur passiv beteiligt, sie greifen auch durchaus in das Spielgeschehen ein, indem sie praktische Tipps geben.
Auch sonst sind die Chinesen sehr gesellig. Wie bereits erwähnt, ist was bei uns die Kneipe ist, in China das Essengehen, und ohne Essen kann man China nicht wirklich verstehen. Aber auch im öffentlichen Raum wie in Parks kann man gesellige Freizeitformen finden, wie das gemeinsame Tanzen oder Sporttreiben (z.B. Aerobic) oder das gemeinsame Musizieren.
Und von den sozialen Regeln darf jeder mitmachen, egal wie schlecht er bei etwas ist. Die Menge hört stoisch auch dem schlechtesten Sänger zu – die Höflichkeit gebietet nur, dass er die Geduld seiner Zuhörer nicht überstrapaziert, d.h. wer z.B. besser musiziert oder singt, tut dies im Vergleich zu den schlechteren einfach öfters.
Dieses kleine Beispiel soll zeigen, dass man, wenn man dies zulässt, sich immer wieder von der Empirie überraschen lassen kann – es ist eine nachgeordnete Überlegung, ob und wie solche Beobachtungen zu bisherigen theoretischen Befunden passen und ab wann solche Beobachtungen bestehende Theorien widerlegen, so dass diese modifiziert werden müssen. Ich für meinen Teil bin momentan in der Phase, dass ich – zumindest was China betrifft – einfach noch zu wenig über dieses Land weiß, um solche Fragen zu beantworten.
Liebe Frau Baur,
zunächst vielen Dank für Ihren Eintrag vom 25.03, auf den ich demnächst gesondert replizieren werde, aber momentan leider nicht ausführlich eingehen kann.
Ihr heutiger Eintrag macht mich, ehrlich gesagt, etwas ratlos. Ich weiss nicht, was genau Sie damit sagen oder wofür Sie im Einzelnen werben wollen ausser vielleicht, dass man besser genau hinsehen und sich für Überraschungserfahrungen öffnen möge. Aber wem sagen Sie das? Und warum eigentlich nur bei ‚den‘ Chinesen und nicht etwa auch bei ‚den‘ Franken, Schwaben, Ostfriesen, Katalanen, Schotten, Texanern, Berlinern, Neuköllnern, Anwohnern der Prenzlauer Allee (und, nicht zu vergessen: bei ‚den‘ Katholiken, Muslimen, Friseuren, Investmentbankern, Frauen, Männern…) usw.?
Da Sie sich in den einleitenden Sätzen explizit gegen Ausführungen meinerseits wenden, wäre mir sehr daran gelegen zu erfahren, wie das in Ihrem Reisebericht Beschriebene sich Ihrer Meinung nach dazu verhält. Ich persönlich kann jedenfalls beim besten Willen keinen Widerspruch zu dem von mir Gesagten erkennen. Schwer tue ich mich auch damit, die Spielfreude ‚der‘ Chinesen auf einen ‚Entwicklungspfad‘ „ob ‚eigen‘ oder nicht“ zu beziehen. Mögen Sie das vielleicht etwas näher erläutern? Und bei der Gelegenheit idealerweise auch gleich ihr Begriffsverständnis explizieren? Das würde die Kommunikation sicherlich erleichtern.
Lieber Herr Schmidt,
genau das – das genaue Hinsehen. Und Sie haben vollkommen Recht – es hatten genauso gut die Franken, Ostfriesen usw. sein können. Dass das „die“ meines Erachtens eine Konstruktion ist, hatte ich ja bereits geschrieben.
Was das Inhaltliche betrifft, bin ich mir bis heute nicht sicher, wie stark Ihr Ansatz tatsachlich von dem der multiplen Modernen abweicht, aber ich schlage vor, dass wir diese Debatte unter dem anderen Beitrag fortführen, weil Herr Meinhof dort bereits einen Kommentar geschrieben hat, der sich mit Ihrer Anmerkung deckt.
Ich freue mich schon auf Ihre Anmerkungen – und machen Sie sich keine Gedanken wegen des „Antwortrhythmus“ – Sie sehen ja, dass auch ich immer ein paar Tage hinterherhinke, weil ich entweder nicht gleich antworten kann oder über die Anmerkungen nachdenken muss.
Herzliche Grüße und schöne Ostern,
Nina Baur
Liebe Leser,
dieses Wochenende zieht der SozBlog auf einen anderen Server um. Wie Sie sehen, sind einige Kommentare verlorengegangen – die Geschäftsstelle der DGS hat meines Wissens einen Backup, der aber erst am Montag aufgespielt wird.
Alles, was bis dahin gepostet wird, kann verlorengehen – also schlage ich vor, dass Sie etwaige Kommentare entweder erst am Montag posten oder eine Sicherheitskopie erstellen, für den Fall, dass sie verlorengehen.
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Guten Abend, sehr geehrte Frau Professor Baur,
ich liebe Ihre Beiträge und die wunderbaren Bilder und Fotos darin!
Frohe Ostern und herzliche Grüße
Anna K.
Da es keine einzige brauchbare soziologische Theorie über – und schon gar nicht: in VRChina gibt – das war zu den Hocheiten Parsons ganz anders; nur leider muss für China seine Theorie ja fortentwickelt werden; dialektisch versteht sich. Also da…, ist Ihr Weg der einzige Königsweg. Das Spielen kann kombiniert werden mit der Form des (choin) massenkonsums. Aber da sind Sie ja die Komponente. Nur warum soll Simmel erschreckend aktuell sein? Mich erschreckt da nichts. LG ML