Laut Georg Simmel gehört zu den Eigenheiten der modernen Gesellschaft ihre Ambivalenz – globale Trends gehen mit lokalen Besonderheiten einher. Ein Beispiel für solche lokalen Beharrlichkeiten ist der thailändische Buddhismus. Wie überall, verliert die Religion im Zuge der Modernisierung auch in Thailand auf den ersten Blick an Bedeutung. Sie verschwindet (scheinbar) aus dem Alltag und wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt – räumlich symbolisiert dadurch, dass der moderne Mensch in Großstädten wie Bangkok lebt, während der Mönch klassischerweise in Klöster in Wäldern und Bergen abseits jeglicher Zivilisation pilgert und sich dort zurückzieht. Diese Pilgerschaften werden neuerdings zurück in den öffentlichen Raum inmitten der Stadt geholt – wodurch sich die Frage stellt, wie man in einer modernen Metropole die Grenzen zwischen Heiligem und Profanen zieht.
Aber von Anfang an: Eines der dreizehn asketischen Prinzipien, nach denen buddhistische Mönche ihr Leben ausrichten, ist die Pilgerschaft, die traditionell so aussieht, dass der Mönch in einen Wald zu einem (am besten heiligen) Baum wandert und dort meditiert. Die dort ansässigen Alltagsmenschen versorgen den Mönch mit Essen und hörten seinen Predigten zu (wie ich bereits geschrieben hatte – das Heilige ist im Buddhismus die Person des Mönches, nicht das physische Objekt des Kloster-Gebäudes). Das Prinzip der Pilgerschaft ist bis heute in den morgendlichen Almosen-Gängen institutionalisiert, die auch in Metropolen wie Bangkok täglich stattfinden.
Im Zuge der Modernisierung verschwanden die Mönche dennoch zunehmend hinter den Klostermauern, weil sie so scheinbar überhaupt nicht zum modernen Leben passen (auch wenn in Thailand bis heute junge buddhistische Männer einen oder mehrere Lebensabschnitte im Kloster verbringen).
In letzter Zeit gibt es in Thailand Versuche, die Mönche und damit das Heilige wieder in den Alltag der Städte und damit in die Moderne zurückzuholen. Eine solche Maßnahme war eine sog. Thu Dong (เดินทางแสวงบุญ, eine gemeinsame Pilgerschaft von Mönchen) zwischen dem 2. und 6. April 2012. Konkreter Anlass war, dass die Statue eines berühmten Mönches (Phra Mongkhonthepmuni) von einem Kloster außerhalb Bangkoks (Wat Phra Dhammakaya) zu einem Kloster im Stadtzentrum (Wat Paknam Bhasicharoen) transportiert werden sollte. Über vier Tage hinweg legten etwa 1.500 Mönche eine Strecke von 59 km zurück – mitten durch die Stadt.
Die Maßnahme war nicht unumstritten – es gab v.a. Sorge darum, dass der Großstadtverkehr gestört würde, wobei das Argument vorgeschoben wurde, dass sich eine Pilgerschaft durch die überfüllten und verstopften Straßen der Großstadt für Mönche nicht zieme. Dieses Argument wurde aber von religiösen Würdenträgern sofort abgebügelt – mit dem Gegenargument, dass der Verkehr kein Problem des Mönchs sei. Für diesen seien einfach nur die buddhistischen Lehren und asketischen Prinzipien leitgebend.
Damit stellte sich aber tatsächlich das Problem, dass die Mönche mitten durch Bangkok pilgerten – und damit mitten in der Stadt ein heiliger Raum konstruiert werden musste. Die Thu Dong ist daher ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie Grenzen sozial konstruiert werden.
Zunächst wurden auch hier (wie bei der Kumbh Mela und dem alltäglichen Umgang mit buddhistischen Mönchen) soziale Grenzen durch den physischen Raum symbolisch markiert, indem Artefakte als Hilfsmittel verwendet wurden, um den heiligen Raum zu kennzeichnen – in diesem Fall ein roter Teppich, der bereits stundenlang vorher ausgerollt und mit Rosen überstreut wurde (und ja – er hat den Stadtverkehr lahmgelegt, aber das schien niemand zu stören, zumal der Bangkoker Stadtverkehr auch sonst nicht ohne Weiteres fließt).
Vermutlich weil die anderen physischen Markierungen weniger deutlich waren als in einem Kloster, waren die Kleidungsregeln wichtiger als sonst – die orangen Roben der Mönche wurden mit weißer Kleidung der Gläubigen kontrastiert, und wenn ein Passant von dem Pilgerzug überrascht wurde und daher unangemessen gekleidet war, halfen die anderen Gläubigen durch Leihen von Kleidungsstücken aus. (Wie bei einem Papstbesuch waren übrigens Gläubige aus aller Welt angereist.)
Verstärkt wurden die Kleidungsregeln durch die Visualisierung der sozialen Zugangsregeln, konkret: den Kontrast zwischen Mönchen (Männern) und Gläubigen (vornehmlich Frauen). (Der Dhammakaya-Buddhismus – die Strömung des Buddhismus, der diese spezifischen Mönche angehörten – ist übrigens eine der wenigen buddhistische Strömungen, die glaubt, dass auch Frauen erleuchtet werden können und daher auch Frauen ordiniert – das wurde aber hier ausgeblendet, weil die Pilger ausschließlich Männer waren.)
Vor allem aber wurden die sozialen Grenzen und Nutzungsordnungen wieder über Rituale gezogen und stabilisiert – im Prinzip dieselben wie im Kloster: Das Berührungstabu wird streng eingehalten. Die Mönche gehen auf dem rosenbestreuten Teppich. Die Gläubigen knien neben dem Teppich, beten und bestreuen den Pfad der Mönche mit Rosen.
Und wieder gab es die Grenzüberschreitungen und Brüche, von denen ich bereits am Beispiel der Kumbh Mela und buddhistischer Mönche im Alltag berichtet hatte. Wie immer war Fotografieren und Telefonieren ausdrücklich erlaubt.
Da es sich natürlich nicht durchhalten lässt, in einer Großstadt wie Bangkok eine Straße den ganzen Tag zu sperren, wurden immer, wenn gerade eine Lücke zwischen den Mönchen entstand, Passanten und Autos durchgelassen.
Wenn möglich, wurde hierzu der Teppich zur Seite geklappt – ansonsten achteten die Passanten peinlichst darauf, dass sie den heiligen Boden (Teppich/Rosen) nicht betraten, sondern überschritten.
Mit dem Ende der Pilgerschaft wurde der heilige Raum aufgelöst, indem die Teppiche eingerollt und die Rosen aufgesammelt wurden, wobei die meisten Gläubigen versuchten, einige von ihnen nach Hause zu nehmen.
Toll! Erinnert mich an katholische Prozessionen zum Beispiel an Fronleichnam oder an Marienfeiertagen. Da werden auch heilige Gegenstände/Statuen von ausgewählten Personen (Priester, Mönche oder auch die würdigsten Mitglieder einer Kirchengemeinde oder eines Vereins) von einem Ort zum anderen transportiert (durch den Ort/das Dorf/die Stadt) oder vom Ausgangsort (in der Regel die Kirche) auf einem Rundgang wieder dorthin zurückgetragen. Dazwischen gibt es manchmal extra eingerichtete Stationen/Altäre, an denen gehalten und gebetet/gesungen wird. Der Weg wird häufig mit Blumen bestreut, rote Teppiche (hin zu den Altären) gehören oft dazu. Allerdings nehmen die Menschen in der Regel selbst an der Prozession teil und folgen dem heiligen Objekt; die Straßen sind dabei gesäumt von Gläubigen und/oder Zuschauern.
Das ist jetzt nicht unbedingt vergleichbar mit der Pilgerschaft der Mönche ihres Berichts, aber es gibt doch Berührungspunkte im Wesentlichen. Die „lokalen Beharrlichkeiten“ finden sich hier vor allem in Süddeutschland (Bayern), aber auch in anderen katholisch geprägten Bundesländern und Staaten – und sind nicht selten in den sogenannten modernen Metropolen äußerst präsent und hochaktuell, wie ein Blick nach Rom zeigt ;-) Es gibt hierzulande ebenfalls äußerst erfolgreiche „Versuche, (…)das Heilige wieder in den Alltag der Städte und damit in die Moderne zurückzuholen“.
Ein enorm spannender und faszinierender Beitrag – wie fast alle Ihre Posts! Vielen Dank!