In Deutschland kaufen heute die meisten Verbraucher ihre Lebensmittel im Supermarkt oder in sog. Betrieben des „Außer-Haus-Konsums“, also Gaststätten, Imbissbuden und Kantinen. Produziert wird unser Essen in industrieller Massenproduktion in komplexen, differenzierten, globalisierten Produzenten-Zulieferer-Ketten. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick nach Asien, und ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt, dass unser Konsumverhalten ein relativ neues Phänomen ist.
Veränderungen auf Verbraucherseite seit 1945
Noch vor dem 2. Weltkrieg verbrachten (Haus-)Frauen einen großen Teil ihres Tages damit, Nahrungsmittel einzukaufen und zuzubereiten. Die Nahrungsmittel wurden i.d.R. täglich frisch eingekauft und dann verarbeitet. So wurde etwa „saure Milch” – der Vorläufer des Joghurts – so hergestellt, dass die Frauen frische Milch (= Rohmilch) bei einem örtlichen Bauern oder der Molkerei holten, die Milch in Tonkrüge füllten und sie sauer werden ließen. Die saure Milch war ein beliebtes Alltagsgericht, das aber nicht für sich gegessen, sondern weiterverarbeitet wurde. Man aß sie zu Bratkartoffeln oder brockte trockene Brotkrumen in sie hinein. Letztere Zubereitungsweise dürfte ein Vorläufer des Müslis gewesen sein. Sie eignete sich besonders für ältere Leute, die keine Zähne mehr hatten. Die saure Milch hatte die Funktion einer Zwischenmahlzeit oder eines leichten Abendessens. Oft aßen die verschiedenen Haushaltsmitglieder verschiedene Gerichte: Wer keine Lust auf das Hauptgericht hatte, konnte saure Milch essen.
Das änderte sich irgendwann zwischen den 1950ern und den 1970ern im Zuge einer Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen. Über die Ausdifferenzierung der Produktionskette und den Übergang zur Massenproduktion, die Erfindung von Supermärkten und Discountern sowie die Rolle staatlicher Hygienevorschriften, durch die die Verbraucher keinen Zugang mehr zum Rohstoff (saure Milch) hatten, habe ich schon geschrieben.
Parallel hierzu gab es einige Veränderungen auf der Verbraucherseite, und diese Prozesse auf Angebots- und Verbraucherseite führten gemeinsam zu den Veränderungen, deren Resultate wir heute sehen. Teilweise haben die Veränderungen auf der Verbraucherseite erst einmal gar nichts mit der Ernährung oder unserer Haltung zum Essen zu tun, sondern sind Folge von Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Feldern.
Zunächst haben die Kombination aus moderner Kühltechnik, längerer Haltbarkeit industriell hergestellter Produkte und besserer Logistik (d.h. der Möglichkeit, durch das moderne Transportwesen Menschen und Güter über sehr weite Distanzen zu transportieren) nicht nur die Möglichkeit erhöht, die Produktionskette zu differenzieren, sondern auch, Lebensmittel länger aufzubewahren, was wiederum ermöglicht hat, dass die Einkaufsrhythmen verringert werden konnten – statt täglich kaufen viele Verbraucher heute nur noch einmal die Woche ein, und sie kaufen heute gerne sog. Convenience-Produkte. So kann Joghurt – üblicherweise Fruchtjoghurt – eine Zwischenmahlzeit sein. In diesem Fall steht Joghurt in Konkurrenz mit anderen Snacks (andere süße Molkereiprodukte, Süßigkeiten, „Knabberzeugs“, belegten Broten und frischem Obst und Gemüse)
Die Haushaltstechnisierung (Kühlschrank, Elektroherd, Spülmaschine); die Verringerung der Einkaufsrhythmen sowie ein verstärkter Konsum von Convenience-Produkten waren Voraussetzungen für und wurden gleichzeitig vorangetrieben von der steigenden Berufstätigkeit der Frau. Wie gesagt: Nahrungszubereitung war die klassische Aufgabe der (Haus-)Frau, und berufstätige Frauen haben schlicht nicht so viel Zeit fürs Einkaufen und Kochen.
Parallel hierzu verliefen zwei längerfristige Prozesse, die sich ebenfalls mit der Industrialisierung und Differenzierung der Nahrungsmittelproduktion wechselseitig vorantrieben: Durch die Verstädterung hatten zunehmend weniger Verbraucher einen eigenen Garten und konnten Lebensmittel nicht mehr in Eigenproduktion herstellen – stattdessen waren sie immer mehr auf den Lebensmittelhandel angewiesen. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Verschiebung der Arbeitsplätze vom Primärsektor (Landwirtschaft) zum sekundären und tertiären Sektor (Industrie und Dienstleistungen), d.h. auch bei der Arbeit haben heute die meisten Verbraucher fast nichts mehr mit Lebensmittel zu tun.
Entfremdung vom Produkt und Notwendigkeit von Vertrauen
Diese Entwicklungen führten zusammengenommen zu einer Entfremdung der Konsumenten vom Produkt und ist die Voraussetzung dafür, dass Lebensmittel als Produkt wie jedes Andere betrachtet werden konnten: Ein immer kleinerer Anteil von Verbraucher kocht heute von Grund auf und verfügt über fundiertes Ernährungswissen. Den meisten Verbrauchern ist mangels Ernährungswissens immer weniger bewusst, wie anfällig die Nahrungsmittelproduktion für Risiken ist. Diese Entfremdung von Produkt ist eine der Ursachen dafür, dass Wettbewerb auf dem Milchmarkt immer stärker über den Preis verlaufen kann, obwohl er nur für etwa ein Viertel der Konsumenten zentrales Kaufkriterium ist. Die meisten Verbraucher sind sich aber gar nicht bewusst, dass ihre Preisorientierung eine der Hauptursachen der Risikozunahme im Lebensmittelbereich ist. Hierdurch verschärfte sich das bei fast allen Produkten ohnehin vorhandene Informationsdefizit des Kunden gegenüber dem Produzenten: der Kunde kauft sehr viele verschiedene Produkte, kennt aber den zugehörigen Produktionsprozess in der Regel nicht. Der Produzent dagegen kennt seinen Markt meist wesentlich besser. Dieser Informationsvorsprung verleiht ihm Marktmacht.
Möglich ist dieses Konsummuster nur durch ein großes Maß von Vertrauen auf der Verbraucherseite – in die Hersteller und in die Regierung, d.h. es besteht die Qualitätskonvention (Diaz-Bone/Salais 2012; Bessy 2012; Diaz-Bone 2012; Kädtler 2012), dass industriell hergestellte Lebensmittel sicherer und hygienischer sind.
Konsequenzen des fehlenden Vertrauens in die Massenproduktion – das Beispiel Asien
Welche Konsequenzen es hat, wenn dieses Vertrauen nicht existiert, sieht man am Beispiel Asien, und wie ich geschrieben habe, ist der Bereich des Umgangs mit Ernährung einer, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob hier Asien nicht einen grundsätzlich anderen Modernisierungsweg geht.
So fehlen etwa in Thailand (meines Wissens) staatliche Lebensmittelkontrollen, und die meisten Thailänder vertrauen industriell hergestellten Lebensmitteln (noch?) nicht.
Stattdessen möchten sie am liebsten den Produzenten ihrer Nahrungsmittel selbst kennen. Natürlich gibt es auch in Thailand Supermärkte, aber dort kauft man v.a. Kosmetika und Reinigungsmittel.
Lebensmittel werden dagegen am liebsten noch frisch auf dem Markt gekauft, wo entweder der Landwirt selbst oder ein (am besten lang bekannter) kleiner Lebensmittelhändler verkauft, der ad personam für die Qualität der Lebensmittel bürgt.
Auf thailändischen Märkten findet man daher teils hunderte kleiner Marktstände, die jeweils nur (für unsere Verhältnisse) sehr kleine Mengen an Lebensmitteln verkaufen.
Der Verbraucher geht beim Einkaufen von Stand zu Stand, um die Ware zu prüfen, d.h. es besteht nicht nur ein enges, persönliches Vertrauensverhältnis von Händler und Käufer, sondern der Käufer muss sich auch beim Essen auskennen.
Auch Thailänder kaufen Convenience-Produkte, auch wenn diese anders aussehen als bei uns – so werden etwa Pasten, Pfannkuchen und eingelegtes Gemüse gekauft und weiterverarbeitet, aber auch hier kauft man vorzugsweise beim persönlich bekannten Hersteller, der dann auch persönlich bürgt.
Dies hat Konsequenzen: Anders als bei uns kauft man nicht im Supermarkt alles auf einmal, sondern am liebsten jedes Lebensmittel und Convenience-Produkt bei demjenigen, der die höchste Qualität garantiert – d.h. die Gurke, den Salat, das Fleisch usw. jeweils bei einem anderen Händler.
Natürlich gibt es auch in Thailand Außer-Haus-Konsum – sogar mehr, als bei uns. Jeder, der schon einmal in Asien war, kennt die berühmten Straßenstände und Garküchen, an denen man sich mit frisch zubereiteten Lebensmitteln versorgen kann. Aber auch hier gilt dasselbe Prinzip: Jede Garküche und jeder Straßenstand ist auf etwas Anderes spezialisiert – Getränke, frisch zugeschnittenes Obst, Würstchen, Gegrilltes, frisch zubereitete Suppen usw. kauft man jeweils bei einer anderen Person – und auch hier gilt: Man kauft am liebsten beim langbekannten Koch des Vertrauens, der persönlich für die Frische und Qualität der Lebensmittel garantiert. D.h. man muss wissen, bei wem man kauft.
In China wird das Problem ähnlich gelöst: Dort findet man oft Garküchen, die leckeres und frisches Vorgekochtes anbieten – man sucht sich aus mehreren Gerichten etwas aus, das auf Reis aufgehäuft wird, und isst es dann.
Viele Asiaten haben übrigens als Konsequenz nicht einmal eine eigene Küche … man kauft und isst beim Experten.
Dies löst gleich mehrere Probleme, die bei uns häufig beklagt werden:
- Ich hatte geschrieben, dass bei uns Berufstätige i.d.R. auf schlechtes Kantinenessen angewiesen sind – in thailändischen Garküchen wird dagegen mit viel frischen Zutaten (und v.a. mit viel Gemüse und Reis) gekocht).
- Die Verantwortlichkeit für die Überprüfung der Qualität von Lebensmitteln wird auf den Händler/Betreiber der Garküche übertragen, also einen Experten, der aber (anders als bei uns in anonymen Großküchen) durch persönliche Bekanntschaft bürgt. Damit ist es auch in Thailand und China möglich, dass sich manche Leute nicht mit Essen auskennen. Man muss nur wissen, wie man eine gute Garküche erkennt – aber dazu morgen mehr.
- Der Betreiber der Garküche kann große Mengen einkaufen und an sie portionsweise weiterverkaufen, weshalb die einzelnen Mahlzeiten insgesamt kleiner sind (und man nicht so schnell dick wird) – in Deutschland hat man oft das Problem, dass man in kleinen Haushalten bestimmte Lebensmittel (z.B. große Fische, Kürbisse etc.) gar nicht so einfach verarbeiten kann, weil sie schneller verderben, als man sie aufbekommt.
- Das Prinzip von Klein- und Kleinsthändlern schafft Arbeitsplätze, schütz diese vor Machtspielen von multinationalen Konzernen und ermöglicht es, auch mit geringem Startkapital und ohne große Forschung und Entwicklung ein eigenes Unternehmen zu gründen.
Insgesamt sind asiatische (Lebensmittel-)Märkte völlig anders strukturiert als deutsche. Es kann natürlich sein, dass sich das in den nächsten Jahren im Zuge der Modernisierung ändert, meine Vermutung ist aber, dass das nicht so sein wird, und zwar nicht nur, weil ich auf Basis meiner Beobachtungen den Eindruck habe, dass den meisten Asiaten (gutes und qualitativ hochwertiges) Essen einfach viel wichtiger ist als den meisten Deutschen, sondern auch Basis meiner Beobachtungen, wie Modernisierung der Wirtschaft dort derzeit verläuft.
In Bangkok, aber auch in chinesischen Städten werden z.B. zunehmend moderne Malls gebaut, und traditionelle Märkte werden in Markthallen oder Ladenstraßen umgewandelt. Während aber bei uns in diesem Zuge ein Markt in einen Supermarkt oder ein Warenhaus umgewandelt wurde (d.h. moderne Bauten mit Marktkonzentration und Abschaffung der kleinen Händler einherging), wird in Asien i.d.R. die Grundstruktur erhalten, d.h. auch in der Markthalle findet man – jetzt in modernen Ambiente – Hunderte kleiner Händler (jetzt jeder in seinem winzigen, 4-10 Quadratmeter großen Laden), und zwar nicht nur beim Essen:
Auch andere Läden bzw. Ladenstraßen sind nach dem Prinzip der Klein(st)händler organisiert.
Und in den Malls findet man viele kleine Händler. So findet man auf dem Friseurmarkt Verkäufern von Haarverlängerungen – und hier erkennt man das Prinzip: Mehrere kleinere Händler nebeneinander, damit man vergleichen kann.
Literatur
Bessy, Christian (2012): Institutions and Conventions of Quality. In: Historical Social Research 37 (4): 15-21.
Diaz-Bone, Rainer (2012). Elaborating the Conceptual Difference between Conventions and Institutions. In: Historical Social Research 37 (4): 64-75.
Diaz-Bone, Rainer/Salais, Robert (2012). The Économie des Conventions – Transdisciplinary Discussions and Perspectives. In: Historical Social Research 37 (4): 9-14.
Kädtler, Jürgen (2012). On Conventions, Institutions, Power, and Uncertainty – Some Cursory Remarks. In: Historical Social Research 37 (4): 36-43.