Sense and Sensibility #1 Der Grundsatz der Anonymität unter digitalen Bedingungen

In diesem und dem nächsten Beitrag will ich zwei forschungsethische Probleme behandeln, die für meine aktuellen soziologischen Arbeit eine Rolle spielen. Ich habe (leider) keine Lösungen, sondern nur sehr viele Fragen anzubieten, die aber sicher nicht nur mich betreffen.

In der Hoffnung darauf, dass Reflexion an und für sich einen Wert hat, soll es heute zunächst um die Frage gehen, ob und wie sich der Grundsatz der Anonymisierung unter digitalen Bedingungen verändert.

Der Ethikcodex der DGS fordert Soziologinnen und Soziologen dazu auf, das eigene berufliche Handeln kritisch zu prüfen:

„In ihrer Rolle als Forschende, Lehrende und in der Praxis Tätige tragen Soziologinnen und Soziologen soziale Verantwortung. Ihre Empfehlungen, Entscheidungen und Aussagen können das Leben ihrer Mitmenschen beeinflussen.“

Dazu gehört, für qualitative wie quantitative Forschung, die Frage des Umgangs mit persönlichen Daten. Der Codex fordert dazu auf, vor der Datenerhebung im Regelfall eine informierte Einwilligung einzuholen und erhobene Daten anschließend so zu anonymisieren, dass man konkrete Personen nicht identifizieren kann.

„Die Anonymität der befragten oder untersuchten Personen ist zu wahren.“

In meiner Dissertation (über Parteien und Parteimitgliedschaft) – ich habe im empirischen Teil unter anderem mit Interviews gearbeitet – war das noch recht einfach. Die meisten Interviewten waren den Umgang mit Journalist*innen gewöhnt und forderten von sich aus keine Anonymisierung ein. Ich habe während der Transkription die Namen und teilweise die Funktionen der Personen, mit denen ich gesprochen habe, anonymisiert. Bei besonders sensiblen Fällen (es handelte sich bei den Befragten um Parteimitglieder unterschiedlicher Hierarchiestufen und Politikberater, deren „internes“ Wissen und deren regionale Verortung durchaus Rückschlüsse auf die Person zulässt) geschah dies in Absprache mit den Interviewpartner*innen durch einen gemeinsamen „Zensur“-Vorgang.

Bei anderen Interviewten kann es mit viel Insiderwissen durchaus „immer noch“ möglich sein, sie zu identifizieren, was aber bspw. bei einem ehemaligen Minister oder einem etablierten Politikberater nicht so problematisch ist. Diese Menschen haben einerseits ihre Karriere „hinter sich“, sind andererseits auch sehr geübt darin, nur das zu erzählen, was sie wirklich erzählen möchten. Es war in der Nachschau sogar so, dass gerade in dieser Gruppe eher die „Zwangs“-Anonymisierung zu Irritationen führte: Einige Befragte hatten sich nämlich gewünscht, im Buch namentlich erwähnt zu werden und waren ein wenig enttäuscht, als sie feststellten, dass aus ihnen Herr A und Frau Z geworden waren.

Im Rahmen angefragter Interviews ist es jedenfalls nicht allzu schwer, Anonymität zu wahren und herzustellen. Ganz anders ist das bei der Forschung in Social Media. Hier stellt sich zunächst die Frage, handelt es sich um eine Öffentlichkeit oder doch um einen privaten Raum? Während auf Facebook geschriebene Posts noch unkenntlich gemacht werden können und wir Menschen fragen können, ob wir ihr Profil beobachten dürfen, stellt sich das auf Twitter oder in anonymen Chatrooms und Foren schon komplizierter dar. Jeder Twitterpost, den ich zitiere, kann durch eine einfache Google-Suche wiedergefunden werden, wenn er nicht vom User oder der Userin gelöscht wird. Selbst wenn ich also den Tweet anonymisiere, ist die Anonymität der Person, die ihn geschrieben hat, nicht gewahrt. Man müsste auf Paraphrase umsteigen, um Anonymität sicher zu gewährleisten. Damit wird jedoch die Dokumentation der Forschung wieder erschwert…

Wie also mit dem Grundsatz der Anonymität in Social Media umgehen? Sollen wir annehmen, dass Twitter eine Öffentlichkeit ist, bei der schon die Nutzung des Mediums eine informierte Einwilligung zur Speicherung enthält? Oder sollten wir eher davon ausgehen, dass die Nutzerinnen und Nutzer tendenziell uninformiert und damit schutzbedürftig sind?

Sollten digitale Daten ähnlich eines Zeitungsartikels schlicht ohne Nachfrage verwendet werden? Wenn ja, welche? Oder sollte eine „harte Linie“ pro Anonymisierung gefahren werden, die aber dann Forschung in Social Media erheblich erschweren oder gar verunmöglichen kann? Wie viel informationstechnisches Wissen brauche ich, um brauchbare forschungsethische Reflexionen zu einem Medium anzustellen? (Gerade bei explorativer Forschung ist ja gar nicht immer so einfach zu verstehen, mit welcher Technik Daten wie und von wem gespeichert werden.) Und hat eigentlich auch ein Avatar Anspruch auf Anonymisierung? Oder nehmen wir an, dass anonym agierende „Trolle“ und andere per se keines Schutzes bedürfen?

 

Literatur zum Thema:

Tilley, Liz & Woodthorpe, Kate (2011): Is it the end for anonymity as we know it? A critical examination of the ethical principle of anonymity in the context of 21st century demands on the qualitative researcher. In: Qualitative Research 11:197, v.a. S. 204ff.

In eigener Sache: Der Literaturhinweis kommt von Hella von Unger, der ich auch für hilfreiche Diskussionen zum Thema danke. Danke schön!

 

19 Gedanken zu „Sense and Sensibility #1 Der Grundsatz der Anonymität unter digitalen Bedingungen“

  1. Sehr gute und wichtige Fragen. Antworten dazu habe ich leider auch nicht, vielmehr habe ich mich ähnliches schon gefragt und hatte ganz unterschiedliche Gedanken dazu. Zum einen wäre es der Kontext der Öffentlichkeit (z.B. bei Tweets)Gerade Twitter richtet sich ja sehr stark daran aus, dass nahezu jeder lesen kann. Zwar finden sich auch dort die Möglichkeiten das ganze privat zu schalten, allerdings scheint mir Twitter immer eher ein öffentliches Medium. Facebook würde ich aus dem Bauch heraus anders bewerten.

    Und was ist mit anderen Webseiten, die nicht zu den großen Playern zählen. Beratungs- und Selbsthilfeforen scheinen mir dabei sehr sensible Bereiche zu sein.

    Die Lösung scheint mir nun gerade nicht darin zu liegen, dass man das, was man googlen kann, als öffentlich wertet.

    Vielleicht sollte man eher die Dokumentation verschieben? Also Paraphrasen in den Veröffentlichungen nutzen und das Originalmaterial aufbewahren. Oftmals existieren ja auch noch Aufnahmen von Interviews, die nicht anonymisiert sind?

    1. Ich glaube auch, dass es praktisch viele von uns über den Kontext lösen. Ich habe mit meiner Kollegin die Tweets von Politiker_innen untersucht. Wir gingen dabei forschungsethisch davon aus, dass es sich hier um Leute handelt, die sich der Öffentlichkeit bewusst sind und diese auch auf Twitter bewusst herzustellen suchen, die also v.a. strategisch mit dem Medium arbeiten. Und gleichzeitig gab es doch auch da Momente, deren Dokumentation im Text irgendwie „nicht ok“ oder entlarvend gewesen wäre. Als ich auf Facebook unterwegs war, habe ich PolitikerInnen wiederum per PM angeschrieben und gefragt, ob ich dieses oder jenes Bsp. in meiner Dissertation verwenden darf. Auch bei „öffentlichen“ Profilen…

  2. Das ist doch ein gutes Thema für die Ethik Kommission der DGS. Dort können diese Fragen doch geklärt werden.

    1. Das ist wahr. Wobei mir auffällt, dass ich gar nicht weiß, wer in dieser Kommission sitzt.

        1. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich vergessen habe, es rauszufinden. Ich schreibe eine Nachfrage und melde mich wieder mit Ergebnissen. Viele Grüße, JS

        2. Hallo Meta, hier nun einige Infos: Die Kommission besteht aus Mitgliedern der DGS und des BDS und wird aktuell von Hans-Georg Soeffner geleitet. Inhaltlich beschäftigt sich die Kommission mit professionspolitischen Ethikfragen, zum Beispiel mit Plagiatsvorwürfen. Die Kommission wird wohl gerade neu strukturiert, wenn das geschehen ist, wird auf der Homepage der DGS ausführlicher drüber informiert. Herzlich, JS

  3. Ist schon schwierig. Eigentlich würde ich sagen, dass (erwachsenen) Menschen bei Twitter klar sein müsste, dass das erstmal alle lesen können und dass das auch stehen bleibt. Sogar, dass Sachen die später gelöscht werden trotzdem wieder auftauchen können, weil eine andere Person sie gespeichert hat. So weit, so vernünftig. Allerdings können die Nutzer*innen auch von einer gewissen Vergesslichkeit des Mediums ausgehen, da Tweets unglaublich schnell im Stream und aus dem Bewusstsein verschwinden. Das verleitet eventuell zu einer gewissen Sorglosigkeit trotz Reichweite auch mal weniger vorsichtig zu sein. Und zumindest in den Massenmedien kann so eine Unvorsichtigkeit dann aufgegriffen und somit das Vergessen verhindert werden. Das ist vor allem für Personen mit geringerer Medienkompetenz schwierig zu kalkulieren.
    Nun sind soziologische Publikationen keine Massenlektüre und im Optimalfall auch nicht auf Skandalisierung aus. Deswegen würde ich sagen, dass es für Forscher*innen in Ordnung ist, Tweets der Nachvollziehbarkeit wegen unanonymisiert zu übernehmen, besonders wenn es sich um Accounts mit vielen Followern/Tweets handelt.

    1. „Nun sind soziologische Publikationen keine Massenlektüre und im Optimalfall auch nicht auf Skandalisierung aus.“ Wie schön Du das formuliert hast.

      Ich für meinen Teil finde es immer so schwer, empirisches Material gut zu paraphrasieren (oder auch: in andere Sprachen zu übersetzen, v.a. bei Interviewauszügen). Ich habe immer das Gefühl, dass dabei etwas verloren gehen könnte. Das kommt zwar, wenn man es kritisch sehen will, einer Fetischisierung des empirischen Materials gleich – aber dieses Wissen ändert nix am Unbehagen…

      1. „Das verleitet eventuell zu einer gewissen Sorglosigkeit trotz Reichweite auch mal weniger vorsichtig zu sein. Und zumindest in den Massenmedien kann so eine Unvorsichtigkeit dann aufgegriffen und somit das Vergessen verhindert werden. Das ist vor allem für Personen mit geringerer Medienkompetenz schwierig zu kalkulieren.“

        Eine (selbst-)kritische Nachfrage: Für wie medienkompetent dürfen wir die Leute halten, wenn selbst der Sprecher von Herrn Steinbrück nicht weiß, wie Facebook funktioniert? Herzlich, J

  4. Dieser Beitrag wurde aufgrund seines beleidigenden und antisemitischen Gehalts von uns gelöscht. Wir bitten um die Einhaltung respektvoller Umgangsformen, gegenüber Einzelpersonen und Personengruppen. Vielen Dank! Die DGS-Geschäftsstelle

  5. Wenn man das Problem des Profits beschreiben möchte, der aus diesem Vorgang resultiert, kommen wir nicht umhin auch diesen in seine verschiedenen Bestandteile zu zerlegen:
    1.) Profit als Forscherin – Wissenszuwachs (auf allen Ebenen Handeln/Methodik/Ergebnisse)
    2.) Profit als wirtschaftliches Subjekt – Buch wird produziert vermarktet, Geld wird verdient
    3.) Profit als Autorin – Renommee, damit Zuschreibungen und damit mögliche

    a.) Kapitalisierung – beim nächsten Buch ist mensch dann schon bekannt und kann sich besser verMARKTen

    b.) Inkorporiertes kulturelles Kapital im Wissenschaftszirkus benutzen – Mittel einwerben Projekte starten, Veröffentlichungen in anerkannten Journals bekommen

    c.) gesellschaftliche Einflussnahme durch “Expertenstatus” (was auch immer das genau ist)

    4.) Profit als Individuum – zuwachs an persönlichen Ressourcen durch die besondere Situation

    Der Profit unter 1.) ist glaube ich dann unbedenklich, wenn beim erzielen des Erkenntnisgewinns ethisch vorgegangen wird. Die geltenden Standards könnten wir jetzt hier entfalten, Anonymitität und die Einwilligung der Untersuchten Subjekte sind Beispiele dafür… aber ich glaube, dass man sich hier auf relativ sicherem und vor allem gut beschriebenen Terrain bewegt.
    Auch Punkt 4.) erscheint mir unbedenklich.

    Alle anderen Sorten haben eben den Anschein persönlicher Vorteilnahme auf Kosten eines Dritten. Aber man kann das Schema ganz einfach aushebeln:

    Alle Gewinne aus der Untersuchung kann man gemeinnützigen Zwecken (unter Umständen auch den Opfern als direkte oder indirekte Hilfen) oder weiterer Forschung (vielleicht zweckgebunden: Bsp. Menschenrechte, Soziales etc.) zukommen lassen.

    Das Prinzip des Autors radikal unterwandern und verweigern. Anonymisiert publizieren. (Es ist mir absolut unbegreiflich, dass das noch nicht längst Standard ist, um Verzerrungen bei der Rezeption von wissenschaftlichen Ergebnissen, die durch Zuschreibungen und Attribuierungen auf die Produzentinnen der Forschungsergebnisse entstehen, zu vermeiden [vielmehr ist es mir nicht unbegreiflich, oft wird eben die strukturelle Kopplung der Wissensschaft zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft unethisch genutzt und damit Wissenschaft (teilweise) zu einem Mittel persönlichen Vorteils umfunktioniert. Dies Vorgehen, diese Vorgänge sind aus meiner Sicht unethisch, leider aber relativ häufig.])

    Expertenstatus benutzen, um gesellschaftlichen Einfluss auszuüben und so versuchen an der „Heilung“ von Mißständen mitzuwirken. Eventuell entsprechende Forschung(en) auf den Weg bringen.

    Bitte um Verzeihung für die Formlosigkeit… hastig hingeschriebene Gedanken.
    cheers

    1. Hallo h_in_b, vielen Dank für die sehr systematische Aufdröselung der Situation, die ich sehr hilfreich finde. Ich denke auf jeden Fall auch, dass das Spenden der Gewinne hilft. Aktuell denke ich an NSU Watch, die sich sehr engagiert um eine Dokumentation des Verfahrens kümmern.

      „Das Prinzip des Autors radikal unterwandern und verweigern. Anonymisiert publizieren.“

      Das ist eine witzige Idee, über die ich erst noch mehr nachdenken muss. Schriftsteller tun das ja häufig und auch das Prinzip des doppelblinden Peer-Review arbeitet mit der Anonymität von Autorinnen und Autoren, wobei zumindest ich dann immer da sitze und mir überlege: Wer könnte der/die Autorin (im Falle des Gutachtens) oder der/die Gutachterin (im Falle einer Begutachtung eigener Artikel) sein.

      Die Form der personalen Adressierung ist natürlich auch eine Komplexitätsreduktion im Sinne von: wenn Person X oder Y ein Buch schreibt, dann kaufe ich das, davon ausgehend, dass mir das dann ebenso gut gefällt, wie die vorherigen Bücher. Aber das ginge ja auch bei „durchgehaltenen“ Pseudonymen. Für den wiss. Alltag ist das anonyme Schreiben freilich wenig sinnvoll, weil Leute ja versuchen, wissenschaftliche Karrieren zu machen und dann auch wollen, dass ihnen ein Aufsatz zugerechnet wird. Soweit meine ersten Gedanken. Und: ich weiß auch nicht, wie Verlage es fänden, wenn „ihre“ Autorinnen und Autoren anonym agierten?

      1. ich hatte zunächst ausschließlich den non-profit-gedanken verfolgen wollen…

        karriere ohne klarnamen – dafür müsste sich in der wissenschaftskultur noch ne menge ändern. und die frage ob ein verlag das toll findet – alles gewöhnungssache. die frage ist – wie auch überall sonst – was ist NORMal…

        ich finde, dass es gute argumente für anonymisierte veröffentlichungen gibt… die frage ist ob mensch sich endlich von der idee lösen mag, dass etwas wie autor wichtig ist. ist es wichtig WER etwas sagt, oder WAS gesagt wird? sollte ein passendes/gutes/begründetes argument/text/was auch immer nicht immer gehör finden, egal von wem?

        hier hängt die aufklärung ihrem anspruch hinterher und jedermensch freut sich am kleinklein seines (ha-ha) werkes – das ohne mitmenschen nicht möglich wäre und sinnlos, weil ohne empfänger wäre.

        ich weiß ich schweife ab, aber mir sind subjektivitätskonstruktionen und deren auswüchse (wie autorenschaft) eher lästig. da finde ich carol gilligan sehr spannend in der art, wie sie individuation beschreibt und konzipiert… aber das würd uns hier aus der kurve tragen und sind eher persönliche wunschträume…

        aber: wünschen hilft (hoffentlich).

        lieber gruß
        h

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