Von Benjamin Köhler
Nach unseren ersten Beiträgen zu Kriminalität und Migration werde ich im Folgenden ein eher regionalsoziologisches Thema in den Vordergrund rücken, das sich mit den Umbrüchen in Ostdeutschland beschäftigt. Dazu möchte ich einführend auf die Filme Nicht mehr – noch nicht und Neuland-denken der Filmemacher Daniel Kunle und Holger Lauinger hinweisen, die auf eine filmische Reise durch Ostdeutschland gehen, sich mit dem demographischen Wandel und Schrumpfungsprozessen ebenso wie mit der wirtschaftlichen Krise auseinandersetzen. Gleichzeitig hebt der Film aber die Chancen und Möglichkeiten im Umbruch hervor, in denen neue Lösungsansätze und alternative Pfade versucht werden. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, sind Blockaden im Umbruch hier nicht nur in den vermeintlich ostdeutschen Prägungen und der ehemaligen DDR, sondern vor allem in den Umbrüchen und dem Institutionen- und Elitentransfers aus Westdeutschland selbst zu suchen. Dabei werde ich mich hauptsächlich auf aktuelle Diskurse im Rahmen der Ostdeutschlandforschung beziehen. Eine Diskussion soziologischer Ansätze zu Innovation und Wandel soll dabei nicht im Vordergrund stehen. Zuletzt möchte ich ein paar Gedanken zur sozialwissenschaftlichen Reflexion zum ostdeutschen Wandel verlieren bevor ich einige Fragen in den Raum stelle.
Schrumpfungsprozesse in Ostdeutschland
Die Umbrüche der letzten Jahrzehnte zeigen in Ostdeutschland vielerorts Phänomene schrumpfender Orte, deren einstige ökonomische Zentren nicht mehr existieren oder so entkoppelt sind, dass keine Beziehung zu diesen mehr aufgebaut werden kann. Die Folge ist Massenarbeitslosigkeit und eine „überflüssige“ Bevölkerung, die nicht mehr in den Arbeitsmarkt integrierbar ist, meist langfristig ausgegrenzt und perspektivlos bleibt und der bisherige Identitäten abgesprochen werden. Die demographische Entwicklungserwartung und die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung ist bis auf die an Berlin angrenzenden Landkreise und urbanen Zentren wie Potsdam oder Jena vielerorts sehr schlecht, die Bevölkerung schrumpft massiv weiter (vgl. Berlin-Institut 2011: 9). Vor allem junge und gut ausgebildete Fachkräfte wandern ab (vgl. Kunz 2011: 127ff.). In ländlichen Räumen kann die lokale Infrastruktur kaum noch aufrechterhalten werden, was zur Folge hat, dass Behörden, Kultureinrichtungen, Schulen und Kindergärten geschlossen und die Gesundheitsversorgung nicht mehr angemessen ermöglicht werden kann (vgl. Nölting 2008: 21). So befinden sich in Ostdeutschland vierzehn von bundesweit zwanzig der „schlechtesten Landkreise und kreisfreien Städte“ (vgl. Berlin-Institut 2011: 6f). Eine Entwicklung, die nach den emanzipatorischen Bewegungen der „Wende-Zeit“ und dem daraufhin beginnenden „Aufbau Ost“ nicht zu erwarten war und die ich nun im nächsten Abschnitt erklären möchte.
Ostdeutschland im Umbruch 1989/1990
Mit der Deutschen Einheit 1990 ging ein erster radikaler sozialer Umbruch in der ostdeutschen Sozialstruktur einher. Die Wirtschaft der ehemaligen DDR war in erster Linie sehr stark am sowjetischen Vorbild orientiert, welche marktwirtschaftliche Anreize für Unternehmen verhinderte (vgl. Fritsch 1998: 4 f.). Unternehmensziele und -entscheidungen waren durch politisch-ideologische Positionen im Rahmen einer Planwirtschaft geprägt, in denen sich alternative Gestaltungsansätze und innovative Praktiken nur bedingt entwickeln konnten. Somit war eine starke Bürokratisierung von Innovationsprozessen zu verzeichnen, die am Ideal eines linearen Entwicklungsverlaufes ohne Pfadabweichungen orientiert war.
In der politischen „Wendezeit“ wurden die gesamten politischen, rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Praktiken in einem Institutionenumbau der Altbundesrepublik und der kapitalistischen Marktwirtschaft angepasst und das Rechtssystem sowie der ideologische Rahmen ausgetauscht (vgl. Land 2003: 79, 86). Im Unterschied dazu konnten die osteuropäischen Nachbarländer eigene Pfade gehen und eigene Suchprozesse beginnen (vgl. Thomas 2008: 7, Kollmorgen 2005: 22f). Insbesondere die ostdeutschen Betriebe und Arbeitskollektive, die bisher als Lebensmittelpunkte und integrative Gesellschaftsstrukturen fungiert hatten, wurden nach 1989/1990 flächendeckend „abgewickelt“, womit die größten sozialen Integrations- und Wirtschaftsstrukturen, regionale Netzwerke und das soziale Kapital vieler Ostdeutscher wegfielen (vgl. Vogel 1999: 27; vgl. auch Meschnig 2003: 23). Daraus folgte eine Erosion sozialer Strukturen mit oftmals privaten Abkapselungen, die durch Konkurrenz aufgrund von Beschäftigungsabbau und häufigem personellen Wechsel zudem noch verstärkt wurden (vgl. Vogel 1999: 27, vgl. Nölting 2008: 21). Insgesamt gingen rund vier Millionen Arbeitsplätze zwischen 1989 und 1992 verloren, 60 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse waren großen Veränderungen unterlegen, die Geburtenrate halbierte sich und es kam zu massenhaften Abwanderungen (vgl. Land 2003: 78).
Die einzige Ausnahme schien die ostdeutsche Landwirtschaft zu sein. Hier konnten bestehende ostdeutsche Kompetenzen in der industriellen Massenproduktion von Agrarprodukten mit einer global kooperierenden, westeuropäischen Lebensmittelwirtschaft kombiniert werden (vgl. Land 2003: 88 f.). Allerdings führte diese auch zu einer Entbettung aus dem regionalen Wirtschaftskreislauf. Während die Produktivität der neuen Agrarbetriebe sprunghaft zunahm und Spitzenwerte im innerdeutschen Vergleich aufwies, löste sich das regionale soziale Gefüge der ländlichen Regionen auf. Die Landwirtschaftliche Prodkutionsgenossenschaft (LPG), als gesellschaftliche Integrationsstätte war ohnehin abgeschafft worden, und lokale Netzwerke und Zuliefererketten wurden aufgehoben. Das hatte zur Folge, dass es keine regionale Wertschöpfung mehr gab.
Spannungsfeld zwischen Verhaltensroutinen und Rollenerwartungen
Es entwickelte sich ein Spannungsfeld zwischen ostdeutschen Verhaltensroutinen, Wert- sowie Handlungsorientierungen und westdeutschen Rollenerwartungen, in dem nur westdeutsche Praktiken als „best way“ anerkannt wurden. Dadurch erschienen Ostdeutsche ohne das nötige Rezeptwissen unangepasst und konnte auf institutionelle Innovationsanreize nicht wie vorgesehen reagieren (vgl. Land 2003: 79). Umschulungsprozesse unter meist westdeutschen Leitungsstrukturen führten kulturelle Hierarchien ein und bedeuteten zudem das Anlernen externer Anpassungspraktiken, die zur Lösung der bestehenden lokalen Blockaden in Ostdeutschland nicht geeignet waren. Denn westdeutsche Handlungsmuster und -routinen waren selbst im Wandel begriffen, deren unkritische Übernahme Konflikte und Blockaden hervorrufen mussten und die übernommenen Institutionen und Praktiken als ungeeignet erscheinen lassen haben (vgl. Rosa/Schmidt 2012: 417; Meyer-Krahmer 1998: 21). Der globale Wandlungsprozess wurde durch den Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods, der ersten Ölkrise und der Krise der alten Industrien mit Beginn der 1970er Jahren eingeleitet und in den westlichen Industrieländern mit einem verstärkten Strukturwandel begegnet.
Gestörte Praktiken erzeugen Blockaden
Die institutionellen Umbrüche in Ostdeutschland zeigen, dass gesellschaftliche Aufbruchbewegungen durch erzwungene Strukturanpassungen gestoppt werden, innovative Praktiken sich nicht entfalten und ganze Regionen in Resignation und Perspektivlosigkeit fallen können. Zum einen waren die ostdeutschen kulturellen Routinen selbst nicht geeignet, auf den westdeutschen Kontext zu reagieren. Zum anderen hat der erzwungene institutionelle Umbauprozess als „Nachbau-West“ ebenfalls Praktiken hervorgebracht, die nicht in der Lage waren, Antworten auf den globalen Wandel zu finden und Innovationen zu entwickeln. Am blockierten Umbruch Ostdeutschlands zeigt sich, dass die Möglichkeit innovativer Praktiken von der Offenheit für eigene Pfade und Suchprozesse entsprechend den Bedürfnissen des jeweiligen ökonomischen Kontextes abhängen. Rosa/Schmidt (2012: 425) bestätigen einen Zerfall vertrauter Lebenswelten und eine habituelle Irritation, die Kollmorgen (2005: 149) darüber hinaus zu einem Gefühl des soziokulturellen Fremdsein für Ostdeutsche zuspitzt, das sich in einer habituellen Außenseiterposition in fast allen Branchen ausdrückt und in bestehende (westdeutsche) Elitekreisläufe nicht eingreifen kann.
Zur sozialwissenschaftlichen Reflexion
Bevor Kommentare gepostet werden können, möchte ich abschließend auf den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingehen und einige Forschungsbeispiele vorstellen. Geißler/Meyer (2006: 358) weisen schon darauf hin, dass die sozialwissenschaftliche Literatur in der ostdeutschen Umbruchsforschung sehr westzentriert ist, Modernisierungstheorien bisher oftmals nur den Nachbau West verfolgen und die Rückschrittlichkeit des Ostens hervorheben. So sind Kollmorgen (2005: 124) zufolge auch ostdeutsche Sozialwissenschaftler_innen in den akademischen Diskursen und Positionseliten der neuen Bundesländer massiv unterrepräsentiert. Beispielsweise wurden im Institutionenumbau der 1990er Jahre ostdeutsche Sozialwissenschaftler_innen komplett durch Akademiker_innen aus dem Westen abgelöst, denen innerhalb netzwerk- und habitusabhängiger Rekrutierungsverfahren eigene Mitarbeiter_innen und wissenschaftlicher Nachwuchs folgten. So sind nur 20 bis 30 Prozent der für Soziologen ausgeschriebene Stellen in Ostdeutschland auch von Ostdeutschen besetzt. Auf ganz Deutschland bezogen sind es sogar nur drei Prozent. Dies könnte zur Folge haben, dass die Sensibilisierung für den ostdeutschen Umbruch bisher ausblieb.
Dem entgegen bemüht sich das Netzwerk Ostdeutschlandforschung, dass jedoch seit 2011 etwas zurückhaltend geworden ist, und ein Forschungsprojekt, das zwischen 2007 und 2010 das ÜberLeben im Umbruch (Bude/Medicus/Willisch 2011) untersucht haben. In der gleichnamigen Veröffentlichung wird der Wandel der ostdeutschen Industriestadt Wittenberge an der Elbe und ihr Umgang mit Schrumpfung beschrieben, vor allem aber auch mit anderen deindustrialisierten Städten Deutschlands und Europas verglichen. Daran versucht die Initiative Dritte-Generation-Ost anzuknüpfen, indem sie die Generationen thematisiert, die in einem anderen Staat sozialisiert wurden und von ihren Erfahrungen mit persönlichen und familiären Umbrüchen berichten und mit denen vergleichen, die ebenfalls nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören, wie beispielsweise die dritte Generation der ehemals türkischen Gastarbeiter_innen. Nun ein paar Fragen:
Wie können Blockaden begegnet, wie können Schrumpfungen gestaltet werden? Ist ein „controlled institutional change“, wie ihn Talcott Parsons einmal als Voraussetzung für die frühe Bundesrepublik nach 1945 beschrieben hat, überhaupt möglich? Brauchen innovative Praktiken sogar Umbrüche um zu entstehen? Inwieweit sollte die Soziologie mitwirken, dass ein Wandel sozial gerecht abläuft? Wie kann Ostdeutschland mit anderen deindustrialisierten Ländern verglichen werden? Welche Chance kann eine Deindustrialisierung für ländliche Regionen haben, beispielsweise durch den Wandel zur Heimarbeit am vernetzten Computer? Wie können wir den Wandel von Gesellschaften vergleichen? Was denkt ihr?
Literaturverzeichnis
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2011): Die demografische Lage der Nation. Berlin:http://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Die_demografische_Lage_2011/D-Engagement_online.pdf (Zugriff 20.08.11).
Bude, Heinz; Medicus, Thomas; Willisch, Andreas (Hrsg.) (2011): ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft. Hamburg.
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Geißler, Rainer; Meyer, Thomas (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands: Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. Wiesbaden.
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Meschnig, Alexander (2003): Unternehme Dich selbst! Anmerkungen zum proteischen Charakter. In: ders.; Stuhr, M. (Hrsg.): Arbeit als Lebensstil. Frankfurt. S. 26–43.
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Zum Autor:
Benjamin Köhler, B.A. in Soziologie, studiert Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Frankfurt/Oder und ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Interessenschwerpunkte sind: Vergleichende Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Kultur- und Wissenssoziologie, Stadt- und Regionalentwicklung.