Latours Popanz: Über Mißverständnisse des Sozialkonstruktivismus

Nachdem ich das letzte Blog der Empirie gewidmet hatte, um das auszuführen, was ich als „populäres Wissen“ fasse, möchte ich mit diesem Blogbeitrag an die Ankündigung erinnern, das Sommerloch zu nutzen, um theoretische Fragen anzusprechen. Bevor ich auf das in meinen Augen so wichtige Projekt des „kommunikativen Konstruktivismus“ eingehen möchte, will ich diesen Blogbeitrag nutzen, einige Bemerkungen zum Ausgangspunkt dieses zu Projektes machen: dem „Sozialkonstruktivismus“. Denn obwohl der „Sozialkonstruktivismus“ und vor allem seine „Kritik“ allgegenwärtig ist, scheint es sich dabei häufig um einen Popanz zu handeln.

Die Bezeichnung „Sozialkonstruktivismus“ geht auf das Buch „The Social Construction of Reality“ von Peter Berger und Thomas Luckmann zurück. Dieses Buch erschien im Jahre 1966 in englischer Sprache (1970 in deutscher Übersetzung) und wurde rasch zu einem der weltweit bekanntesten Soziologietexte, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde – vielleicht auch weil hier erstmals das Konzept der sozialen Konstruktion explizit formuliert wurde. Während es in der Nachfolge eine Reihe weiterer „konstruktivistischer“ Konzeptionen gab (für einen Überblick vgl. Knoblauch 1999 und Knoblauch und Schnettler 2007), beziehen sich zunächst die meisten Arbeiten, die sich mit dem Titel „Sozialkonstruktivismus“ schmücken, auf diesen ersten Entwurf. In jüngerer Zeit mehren sich die Versuche, den „Sozialkonstruktivismus“ zu überwinden, zuweilen auch als „Postkonstruktivismus“ bezeichnet. Wie schon Hacking (1999) bemerkt, missverstehen viele der Arbeiten den „Sozialkonstruktivismus“, die sich positiv auf ihn beziehen; Missverständnisse, so meine These, zeichnet auch die gerade die verbreiteten Kritiken des „Sozialkonstruktivismus“ aus.

Latours Popanz

Einer der bekanntesten Gegner des „Sozialkonstruktivismus“ ist sicherlich Bruno Latour, dessen Forderung zur besseren Beachtung der materiellen Aspekte des sozialen Handelns in meinen Augen unbedingt unterstützt werden sollte. Allerdings gelingt sein Versuch, die eigene Position als grundlegend neu auszuweisen, nur durch bedenkliche Verzerrungen dessen, wogegen er sich abgrenzt. Dies betrifft in besonderer Weise den Sozialkonstruktivismus, von dem er den „Realismus“ abgrenzt.

In einem der einschlägigen Texte zu diesem Thema identifiziert er den „Sozialkonstruktivismus“ (bezeichnenderweise abwechselnd auch nur als „Konstruktivismus“ bezeichnet) mit Autoren wie Collins oder Kuhn. Deren Position wirft für ihn die Frage auf: Wie kann das, was „konstruiert“ wird, zu einer empirischen Tatsache, zu einem realen Ding werden. Diese Frage könne der „Konstruktivismus“ nicht beantworten, habe er doch keinen Begriff für „Dinge“. Dieser Mangel habe eine Art von Fetischismus zur Folge habe, nämlich den „factish gods“. „Social constructivism“ sei deswegen „the poor man’s creationism“ (2010: 64).

So eingängig die Opposition zwischen „Sozialkonstruktivismus“ und „Realismus“ auf den ersten Blick erscheint, genügt ein Blick in die „Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, um ihn als Scheingegensatz zu erkennen. So betont Berger nicht erst seit neuestem, das der Begriff des Sozialkonstruktivismus den Realismus nicht ausschließe. Soziale Konstruktion bedeute keineswegs, dass es keine Tatsachen“ gebe, vielmehr gebe es eine „robuste Wirklichkeit jenseits unserer Wünsche“ (Berger 2011: 95, Übers. HK).

Wie kommt es nun zu Latours Missverständnis? Der Grund scheint relativ einfach: Latour nimmt die „Gesellschaftliche Konstruktion“ gar nicht zur Kenntnis! Er bezieht sich vielmehr auf wissenschaftssoziologische Autoren. Diese haben den Begriff der sozialen Konstruktion zwar aufgenommen – allerdings lediglich in einem wissenschaftssoziologischen Kontext. Latour jedoch verwendet „Sozialkonstruktivismus“ nicht nur in der Wissenschaftssoziologie; vielmehr erhebt er (Latour 2007) sehr ausdrücklich allgemeine sozialtheoretische Ansprüche. In der Sozialtheorie (Joas/Kölbl 2004) wird allerdings der „Sozialkonstruktivismus“ von Berger und Luckmann breit verhandelt. Latour nimmt darauf, wie gesagt, keinen Bezug; erstaunlicherweise nimmt auch die „sozialkonstruktivistische Wissenschaftssoziologie“ (der er ja angehörte) diesen „Sozialkonstruktivismus“ kaum zur Kenntnis.  (Das wirft die durchaus wissenschaftssoziologische Frage auf, wie die seit Mitte der siebziger Jahre entstehende „sozialkonstruktivistische“ Wissenschafts- und Techniksoziologie eines der weltweit am meisten verbreiteten Bücher der soziologischen Theorie, also Berger und Luckmanns „Gesellschaftliche Konstruktion“ unerwähnt lässt; was die französische Diskussion angeht, ist es sicherlich folgenreich gewesen, dass die „gesellschaftliche Konstruktion erst in den 1980er Jahren übersetzt wurde.) Da die theoretischen Grundlagen des „wissenschaftssoziologischen Sozialkonstruktivismus“ folglich auch von denen des sozialtheoretischen (genauer: wissenssoziologischen) Sozialkonstruktivismus“ unterscheiden, begeht Latour mit seiner sozialtheoretischen Kritik das, was man einen Kategorienfehler nennen könnte (würde man eine gewisse Ordnung des Wissens in Disziplinen wie der Soziologie – also etwa zwischen Subdisziplinen und allgemeiner Soziologie) unterstellen können. (Das wird, wie hier) schon bemerkt, in der heutigen Wissenschaft zunehmend unterlaufen).

Drei grundlegende Missverständnisse des Sozialkonstruktivismus

Es ist nicht meine Ziel, die Vorstellung des „Sozialkonstruktivismus“ der Wissenschaftssoziologie zu klären (vgl. Kneer 2009; Holzinger 2010). Es handelt sich auch nicht nur um einen formalen Fehler. Vielmehr ergeben sich aus der Ignoranz gegenüber dem Sozialkonstruktivismus einige sehr grundlegende Missverständnisse (die interessanterweise auch in die deutschen soziologische Diskussion, in der man ja die Kenntnis von Berger und Luckmann voraussetzen darf).[i]

  1. Eines der wiederkehrenden Missverständnisse besteht in der angeblichen Trennung von Subjekt und Objekt, die der „Sozialkonstruktivismus“ vornehme. Auch wenn diese Beziehung sicherlich die klassische Erkenntnistheorie auszeichnet, so wird doch übersehen, dass gerade der wissenssoziologische Sozialkonstruktivismus eine radikale Wendung macht, indem er die Konstruktion selbst als „sozial“ bezeichnet (vgl. dazu auch Knoblauch 2010: 349ff). Erkenntnis besteht also nicht – wie Latour (2010) dem „Konstruktivismus“ in fast einer Kantianischen Interpretation unterstellt, in einem Verhältnis des solitären Ich zum Gegenstand; vielmehr wird Erkenntnis in der sozialen Beziehung zwischen Subjekten verankert (als „Wissen“). Diese soziale Verankerung von Erkenntnis (und, im kommunikativen Konstruktivismus: Handeln) wird mit Schütz unter dem (Ober-)Titel der „Intersubjektivität“ gefasst. Intersubjektivität stellt keineswegs ein mystisches Zwischenreich dar, sondern eine in Handeln, Interaktion bzw. (wie ich bevorzuge:) kommunikativem Handeln vollzogene Leistung. Deswegen spielt sich die bekannte „Dialektik“ der „gesellschaftlichen Konstruktion“ auch nicht zwischen „Subjekt“ und „Objekt“, sondern zwischen der subjektiven Wirklichkeit und den sozialen Objektivationen ab, deren Zustandekommen Berger und Luckmann sehr genau analysieren.
  2. Man kann schwerlich behaupten, in dieser Darstellung würde es an Körperlichkeit und folglich Materialität bzw. Dinglichkeit fehlen. Ganz im Gegenteil setzen Berger und Luckmann an einem geradezu biologisch begründeten Verständnis des Körpers an, das sie der philosophischen Anthropologie entnehmen (ganz entschieden etwa bei Plessner 1975: 293ff). Nicht nur Körper sind Teil dieser Konstruktion; wie häufig übersehen wird, steht die „Objektivation“ (in der englischen Ausgabe „objectivation“) im theoretischen Mittelpunkt. Auch wenn Luckmann sich in seinen empirischen Untersuchungen später auf die Sprache konzentriert, so umfassen Objektivationen natürlich auch Dinge. (Sie sollte nicht mit dem Begriff der „Verdinglichung“ (reification“) verwechselt werden).
  3. Mit dem Übersehen der Rolle von Objektivationen hängt ein Missverständnis zusammen, das mit Latour zu einem Gemeinplatz des sozialwissenschaftlichen Diskurses geworden ist: Die These nämlich, die Soziologie hätte die Dinge nie beachtet und lediglich Interaktionen zwischen Menschen thematisiert. Ohne hier zu unterschätzen, wie wichtig Latours Hinweis war, um die Zuwendung zu den Dingen in der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung zu befördern, sollte man – neben der erwähnten Bedeutung von „Objektivationen – nicht die Weiterführung von Thomas Luckmann vergessen. Mehrfach (1970; 1980; 1983) betonte er, dass soziales Handeln sich praktisch auf alles beziehen könne: nicht nur Tiere oder Pflanzen (wie die berühmte Malinowskische Süßkartoffel, die er im Seminar immer zitierte), sondern auch Steine. (Ich selbst hatte mich übrigens (Knoblauch 1991) mit Wünschelrutengängern beschäftigt, für die die Eigentätigkeit der Rute ein zentrales Anliegen ist.) Auch wenn Luckmann dem Latourschen „Symmetrie-Postulat“ vermutlich entschieden widersprechen würde, so steht seine These der „universalen Projektion“ durchaus in einem seit Schütz und Kelsen diskutierten Zusammenhang, der die Trennung von Natur und Gesellschaft nicht als eine ontologische Scheidung ansieht (wie dies Latour von den „Modernen“ unterstellt), sondern eben – als eine soziale Konstruktion.

Dass sich viele dieser Missverständnisse eingebürgert haben, ist übrigens ein Grund für die Umbennung des „sozialen Konstruktivismus“. Ein zweiter Grund für den kommunikativen Konstruktivismus besteht aber ebenso in anderen (durchaus, wie man anerkennen muss, auch von Latour formulierten) formulierten anderen Kritiken des „Sozialkonstruktivismus“. Darauf möchte ich indes im nächsten Blog-Beitrag eingehen.

Literatur

Berger, Peter L. (2011): Adventures of an accidental sociologist. Not to explain the world without becoming a bore. New York.

Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (1966): The Social Construction of Reality. New York.

Hacking, Ian (1999): Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt/M: Fischer.

Holzinger, Markus (2010): Die glücklose Ehe von Philosophie und Wissenschaftsforschung. ZfS 1,2, 33-62.

Joas, Hans Wolfgang Kölbl (2004): Sozialtheorie. Frankfurt am Main.

Kneer, Georg, Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivisms gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern. In : Zeitschrift für Soziologie 38,1 (2009), 5-25.

Knoblauch, Hubert (1999): Zwischen System und Subjekt? Methodologische Unterschiede und Überschneidungen zwischen Systemtheorie und Sozialkonstruktivismus. In: Hitzler, Ronald, Reichertz, Jo und Schröer, Norbert (1999)(Hrsg.): Hermeneutische Wissenssoziologie. Eine methodologisch-theoretische Positionsbestimmung. Konstanz: UVK: 213-235.

Knoblauch, Hubert und Bernt Schnettler (2007): Konstruktivismus, in: Renate Buber und Hartmut Holzmüller (Hg.): Qualitative Marktforschung. Konzepte – Methoden – Analysen. Wiesbaden: Gabler, 127-137.

Knoblauch, Hubert (1991): Die Welt der Wünschelrutengänger und Pendler. Erkundungen einer verborgenen Wirklichkeit. Frankfurt am Main/ New York.

Latour, Bruno (2007): Für eine neue Soziologie. Frankfurt am Main.

Latour, Bruno (2010): On the Cult of the Factish Gods, in: On the Modern Cult oft he Factish Gods. Durham und London 2010, 1-67.

Luckmann, Thomas (1970): On the Boundaries of the Social World, in: Maurice Natanson (ed.), Phenomenology and Social Reality. Essays in Memory of Alfred Schutz, The Hague (Nijhoff) 1970, S. 73­-100.

Luckmann, Thomas (1980): Über die Grenzen der Sozialwelt, in: T. Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn, 56‑92.

Luckmann, Thomas (1983): On the Boundaries of the Social World, in: Life Worlds and Social Reality. London.

Plessner, Helmuth (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin/ New York.

[i] Dabei sollte die deutsche sozialtheoretische Diskussion nicht schon wegen ihrer Nationalsprachlichkeit als „provinziell“ abtun; es gibt durchaus gute Gründe zu behaupten, dass die theoretische Diskussion gerade hierzulande ein international ausnehmend hohes Niveau hat – ein Urteil, das in meinen Augen auch für die Diskussion der qualitativen Methoden zutrifft.