Wenn es so einfach wäre

Freiheit und Gleichheit als ideale Beschreibung einer Gesellschaftsordnung, wer möchte da nicht einstimmen? Nun ist aber der soziologische Blog keine Plattform für das politische Plädoyer, sondern für die Analyse der Ausdrucksformen sozialer Wirklichkeit und Verhältnisse. Visionen bedürfen daher einer differenzierten Herleitung.

Im Kommentar von Stefan Wehmeier ist die Begründung seiner Behauptung zu vermissen. Er lässt ausführlich Otto Valentin sprechen, wenn er ein überarbeitetes Buchkapitel des Autors verlinkt, statt eine Argumentation anzubieten. Nun ist die dort beschriebene Gesellschaftskritik und vorgeschlagene Therapie nicht neu. Valentin (und damit Wehmeier) folgt Silvio Gesell und den Zinskritikern, die in Bezug auf den Denker der Wende zum 20. Jahrhundert noch heute so manche Diskussionsveranstaltung – selbst erlebt zum Beispiel beim Thema „Bedingungsloses Grundeinkommen“ – mit ihrer Fundamentalkritik des (Zins-)Geldes konfrontieren.

Die Grundidee lässt sich so beschreiben: Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung krankt an ihrer monopolistischen Organisation. Kapitalistische Wirtschaftsmonopole ebenso wie staatliche Meinungsmonopole tendieren zur totalitären Akkumulation von Macht und Reichtum, so die Autoren wie Valentin. Begründung fehlt. Dagegen entspreche eine Marktwirtschaft, die frei von Monopolen ist, dem „Idealtypus der sozialen Marktwirtschaft“. Angenommen wird hier ein positiver Zusammenhang von „freiwirtschaftlicher“ Anstrengung des Einzelnen mit einer „natürlichen“ leistungsadäquaten Verteilung von Wohlstand. Grundlage dafür sei es, das (Zins-)Geld und den Boden durch eine „freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform“ zu ersetzen. Begründung fehlt wiederum.

Was genau sich hinter diesen großen Worten verbirgt, bleibt im verlinkten Kapitel schwammig. Man muss recherchieren, um z.B. auf die Zentralkritik an der Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes zu stoßen, die durch Rückstufung auf eine ausschließliche Tauschfunktion zu beseitigen sei. Diese sogenannte Freiwirtschaftslehre bedarf einer volkswirtschaftlich fundierten Vertiefung. Das allein wäre kein Nachteil, wenn auch für einen Blog höchstens als Hinweis für Interessierte zu verwerten.

Doch bedenklich ist das Ideal einer Widerspruchsfreiheit, wie sie im Abschlussabsatz des Textes zum Ausdruck kommt. Hier wird dem geistigen Vater Silvio Gesell zugeschrieben, er habe „bereits 1916“ die „ideale Makroökonomie“ „vollständig und widerspruchsfrei beschrieben“. Im harmlosesten Fall handelt es sich dabei um einen kindlichen Traum, im schlechteren Fall um Dogmatismus, der eine Offenheit einer echten Auseinandersetzung im Wege steht. So begegnen die Vertreter dieser Denkrichtung auch auf Veranstaltungen Publikum wie Podium: Sie haben „der Weisheit letzten Schluss“ – wie bezeichnender Weise die Homepage des Kommentators heißt – gefunden und wollen diesen mitteilen, nicht aber diskutieren.

Die Thematik des Kommentars verdient dennoch eine intensivere Beschäftigung. Dabei soll im Folgenden weniger die volkswirtschaftliche Seite der Debatte beleuchtet werden. Denn die Auseinandersetzung um Monopolisierungstendenzen und Geldfunktionen wäre ein gesondertes Thema für einen eher wirtschaftspolitischen oder polit-ökonomischen Blog. Sondern die sozialpolitischen Implikationen interessieren hier im Sinne der im letzten Beitrag vorgeschlagenen Präzisierung des Stichworts von der „Sozialen Gerechtigkeit“. Es geht also weiter auf der:

Strasse

Freiheit und Gleichheit können als zwei Pole des Spektrums gesehen werden, innerhalb dessen sich die sozialpolitischen Positionen und Maßnahmen der Parteien anordnen lassen. Sie gehen zurück auf den Versuch, die zugrunde liegenden ordnungspolitischen Leitideen zu systematisieren (vgl. z.B. Neumann/Schaper 2008, S. 58). In diesem Diskurs ist mit Freiheit die freie Entscheidungsmöglichkeit des Einzelnen gemeint, durch bürgerliche und politische Freiheitsrechte verbrieft. Im Sinne ordoliberaler Vorstellungen betreffen sie insbesondere die wirtschaftliche Tätigkeit am Markt. Damit einher geht eine hohe Einkommensdifferenzierung, die sich idealtypisch aus der Differenz der Leistungen legitimiert, demnach also dem Leistungsprinzip folgt.

Dem gegenüber steht idealtypisch das Gleichheitsprinzip, das ursprünglich die Gleichheit vor dem Gesetz ins Auge fasste (so etwa im Leitspruch der französischen Revolution: Liberté, égalité, fraternité). In der sozialpolitischen Diskussion wird meist fokussiert auf die Einkommensverteilung im Sinne eines möglichst umfassenden Ausgleichs von Einkommensdifferenzen sowie zum Schutz vor Armut durch Existenzsicherung. Auf diesem Pol kommt dem Staat in seinem verfassungsgemäßen Charakter eines Sozialstaats der Auftrag ausgleichender Einmischung zu.

Vereinfacht lässt sich das Spektrum wie in folgender Abbildung skizzieren.

Folie1

Freiheit und Gleichheit werden hier als Gegensätze verstanden. Denn Befürworter eines wirtschaftsliberal ausgerichteten Sozialstaatsverständnisses kritisieren staatliche Einmischung als Beschneidung der Freiheit. Befürworter sozialer Umverteilung kritisieren das Leistungsprinzip als ungerechtfertigte Differenzierung nicht nur der Einkommen, sondern auch der damit verbundenen Chancen auf selbstbestimmte Lebensgestaltung.

Den Positionen liegen also je eigene Vorstellungen von Gerechtigkeit zugrunde (vgl. Opielka 2006, S. 37). Sie lassen sich schematisch in das eröffnete Spektrum einordnen, wie Abbildung 2 zeigt.

Folie2

Auch wenn die Begriffe nicht trennscharf und stark vereinfachend sind, so lassen sie eine Pointierung zu, die für die Debatte um soziale Gerechtigkeit hilfreiche Unterscheidungen liefert:

  • Leistungsgerechtigkeit stellt ab auf die Differenzen von Einkommen und sozialstruktureller Positionierung, die auf unterschiedliche Leistungserbringung zurückgehen. Leitidee ist ein wirtschaftsliberales Sozialstaatsverständnis. Motto: Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen.
  • Bedarfsgerechtigkeit nimmt als gegeben hin, dass Notlagen entstehen, für die eine Gemeinschaft Hilfen bereitstellen muss. Nicht immer kann Leistung gezeigt werden, die die eigene Existenz sichert. Es liegt hier eine Auffassung christlicher Soziallehre zugrunde, die einem karitativen Gedanken aufruht. Motto: Wer es aus eigener Kraft nicht schafft, dem muss geholfen werden, vorzugsweise in der unmittelbaren Gemeinschaft (Familie), sonst hilft nachgeordnet der Staat.
  • Verteilungsgerechtigkeit sieht Einkommens- und Vermögensdifferenzen als basale Voraussetzungen für soziale Ungleichheit und setzt an ihrem Ausgleich an. Sozialistische und sozialdemokratische Traditionen bilden den ideengeschichtlichen Hintergrund für diesen Gleichheitsansatz. Motto: Ungleichheit muss durch staatliche Umverteilung reduziert werden.

Diese Zuordnungen liberaler, konservativer und sozialdemokratischer Ausrichtungen auf Gerechtigkeitsvorstellungen orientieren sich an der Wohlfahrtsstaatstypologie von Esping-Andersen (1990), die nicht unwidersprochen, aber im sozialpolitischen Diskurs immer noch sehr gebräuchlich ist. Einer der nächsten Beiträge wird die vorliegende Kritik thematisieren, hier aber dient die Systematik einer Annäherung an sozialpolitische Differenzen nicht nur im gegenwärtigen Wahlkampf, sondern auch als mögliche Unterscheidungslinien für alternative Entwürfe.

  • Eine Weiterentwicklung im sozialpolitischen Diskurs bietet die Teilhabegerechtigkeit, die Opielka als vierten Zugang neben dem liberalen, dem konservativen und dem sozialistisch-sozialdemokratischen einführt und den „garantistischen“ nennt. Darunter wird eine Gleichheitsvorstellung gefasst, die nicht nur auf Einkommen abzielt, sondern Chancen der gesellschaftlichen Teilhabe als Grundrecht unterstellt. Teilhabe als Maß für Gerechtigkeit impliziert gleiche Möglichkeiten, bedarf also u.a. auch finanzieller Voraussetzungen. Teilhabe ist als Verwirklichungschance eigener Lebensvorstellungen gedacht, so etwa in der Vergleichsstudie der Bertelsmannstiftung über Soziale Gerechtigkeit in der OECD (2010) im Anschluss an Amartya Sen (2009). Motto: Gerecht ist, wenn Voraussetzungen gegeben sind, um individuelle Vorstellungen verwirklichen zu können unabhängig von der sozialen Herkunft. Unterschiede in den Ausgangsbedingungen für Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen müssen daher berücksichtigt und ausgeglichen werden.

Die vier Zugänge sind oben im – ebenfalls nicht prägnanten – Links-Rechts-Schema angeordnet und verraten damit eine Nähe zu real existierenden parteipolitischen Positionen. Denn die Gerechtigkeitskonzeptionen und das damit verbundene Sozialstaatsverständnis führen über ihre unterschiedlichen Zielformulierungen jeweils zu anderen Ansätzen in der konkreten Sozialpolitik. Während der wirtschaftsliberale Standpunkt möglichst geringe steuerliche Belastungen für den Einzelnen, v.a. aber für die Wirtschaftssubjekte fordert und staatlicher Einmischung mit Skepsis gegenüber steht, fordert der sozialistische Ansatz das Gegenteil.

Die garantistische Vorstellung liegt quer zur Links-Rechts-Schematik, weil sie beansprucht, Freiheit und Gleichheit nicht als unversöhnlichen Gegensatz zu konzipieren, sondern als zusammenhängende Aspekte eines funktionierenden Gemeinwesens. Wie das realisiert werden kann, ist eine Frage sozialpolitischer Ausgestaltung. Wird etwa eine Grundsicherung für alle gewährt (als Alternative zu „reiche Eltern für alle“), könnte nicht nur Gleichheit in der Existenzsicherung und Teilhabemöglichkeit, sondern auch die Freiheit des Einzelnen in seinen Handlungsentscheidungen unabhängig von seiner Leistungsstärke am Markt gegeben sein. Dann aber besteht eine starke staatliche Einmischung in dem hohen finanziellen Transfer, der eine steuerliche Abschöpfung voraussetzt.

Eine interessante Frage schließt sich hier an: Könnte eine auf Teilhabegerechtigkeit ausgerichtete Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit nicht nur Gleichheit und Freiheit vereinen, sondern auch den sozialen Zusammenhalt stärken, weil in der Erfahrung der gesicherten Teilhabe die Bindung zum Gemeinwesen gestärkt wird?

Freiheit, Gleichheit und Solidarität – der Leitspruch der französischen Revolution wird so zum Maßstab für die Frage: Welchen Sozialstaat braucht ein gerechtes Deutschland? Welche soziapolitischen Maßnahmen sind auf diesem Weg geeignet? Mit welchen Nebenfolgen wären sie behaftet? Was bieten die Parteien derzeit an? Welche alternativen Entwürfe liegen vor?

Im nächsten Beitrag werden diese Fragen aufgegriffen und zum Ende des bundesdeutschen Wahlkampfs auch anhand der Parteipositionen konkretisiert, sollten nicht Kommentare die Diskussion in eine andere Richtung lenken.

 

Literatur

Bertelsmannstiftung (2010): Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland? Gütersloh

Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge & Princeton

Neumann, Lothar F./Schaper, Klaus (2008): Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland. Bonn

Opielka, Michael (2006): Gerechtigkeit durch Sozialpolitik? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 8-9, S. 32-38

Sen, Amartya (2009): The idea of justice. Harvard

3 Gedanken zu „Wenn es so einfach wäre“

  1. In Ihrem Beitrag gehen Sie von folgenden Voraussetzungen aus:

    1. Das Geld ist entweder NICHT das wichtigste zwischenmenschliche Beziehungsmittel in einer hochgradigen arbeitsteiligen Welt (Zivilisation), wichtiger ist das moralisch korrekte Verhalten der Einzelnen zueinander, oder das Geld hat auch bei Ihnen eine ganz besondere Bedeutung, ist aber fehlerfrei. Fehlerhaft ist der Mensch, der mit diesem Geld nicht richtig umgehen kann. Also, das künstlich, von Menschen geschaffene Produkt „Geld“, ist fehlerfrei, das von Natur erschaffene Produkt „Mensch“ (1 Milliarde Jahren Evolution des Lebens) dagegen ist fehlerhaft.

    2. Trotzdem unser Planet Erde eine begrenzte Oberfläche hat (nicht dehnbar, nicht vermehrbar), ist für Sie das Eigentumsrecht auf Grund und Boden vollkommen in Ordnung. Dieses Recht macht auch nicht Halt vor allem anderen Leben dieser wunderbaren Erde. Man kann dieses Recht einschränken, man kann die Eigentümer moralisch verpflichten („Eigentum verpflichtet“), aber abschaffen? Nein, das geht nicht.

    Diesen Annahmen vorausgesetzt, kann man Ihrem Beitrag von Anfang bis Ende vollkommen zustimmen, da gibt es kaum etwas zu beanstanden – hervorragend.

    Gelten diese Voraussetzungen aber nicht, also Geld ist das wichtigste zwischenmenschliche Beziehungsmittel und dazu auch noch fehlerhaft konstruiert, und das Eigentumsrecht auf Grund und Boden ist auch falsch, dann ist es reine Zeitverschwendung sich weiter mit diesem oder Ihren nächsten Beiträge zu befassen.

  2. Eine Frage: Selbst wenn wir genetische Unterschiede und ihre Bedeutung für soziale Ungleichheit ausgeblendet, bleibt jede Vorstellung von Meritokratie für mich sehr vage: Angenommen gewisse erfolgsversprechende Tugenden, Fleiß, Pflichtbewusstsein etc., sind Folge gewisser schichtsspezifischer Erziehung (und festigen gleichzeitig wieder diese schichtspezifische Erziehung, weil z.B. ein Defizit jener Tugenden die „Sortierung“ in eine bestimmte Schicht wahrscheinlicher macht), muss im Zuge der Chancengleichheitsherstellung die Erziehung nivelliert werden? Die Familie „genudgt“ werden, ihre Kinder möglichst in institutionelle Betreuung zu geben, damit der Einfluss der Eltern minimiert wird?

  3. Nun, dass unser Geldsystem durch den Zinseszinseffekt alle 70 bis 80 Jahre resettet werden muss, pfeifen inzwischen immer mehr Ökonomen vom Dach, bzw. in ihren Büchern.

    Interessant ist für mich die Frage nach dem Eigentum an Boden. Ich würde gerne mal den initialen Kaufvertrag sehen, der mit Gott geschlossen wurde, hat doch er die Welt erschaffen und sollte ihm gehören. Oder war sie ein Geschenk an alle Lebewesen, die darauf kreuch und fleuchen und der Mensch bekam den Auftrag, sie zu hegen und zu pflegen, und nicht dem schnöden Mammon Profit zu opfern und auszubeuten mit allem was darauf ist?

    Die Frage, die wir uns zu stellen haben: ist es OK, wenn der Eine auf Kosten es Anderen sein Leben gestalten darf?

    Das wäre die moralische Frage, also ein Konzeptfrage …

    Fragen wir eher anders: ist es zuträglich für die Gemeinschaft, dass der Eine auf Kosten des Anderen leben darf?

    Hier wird es nun offensichtlich: eine Systematik, die das zulässt, ist zum Scheitern verurteilt. Wir sind aufgrund der sich so exponentiell entwickelden Macht der Einen über die Anderen gerade mehr als dicht am 3. Weltkrieg, den sicher nicht mehr allzu viele von uns überleben werden. Womit der Beweis dann endgültig angetreten wäre, dass ein System mit wenigen Gewinnern über viele Verlierer nicht zuträglich für ALLE ist …

    VG Martin

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