Man mag die Frage für banal halten, wie der Ausgang der deutschen Bundestagswahl zu verstehen ist, welche Haltungen und Deutungsmuster sich darin ausdrücken. Die Verlust-Parteien jedenfalls nehmen ihn zum Anlass für Kurswechsel und neue Weichenstellungen, die in Zukunft die Entscheidungsspielräume der Bürger mit beeinflussen werden. Auch scheint „politische Bildung“, wie es im Kommentar von „Meta“ anklingt („leider“), einen Beitrag einzustufen als unerheblich, nicht pointiert oder zu zurückhaltend. Im Studium der Sozialen Arbeit herrscht ein anderes Verständnis von politischer Bildung vor. Hier ist sie elementare Voraussetzung für die Analyse der Lebensbedingungen verschiedener Gruppen, die zur Klientel Sozialer Arbeit werden können, sowie der Handlungsmöglichkeiten in der Berufspraxis. Politische Bildung geht hier einher mit der Bildung zur politisch denkenden und handelnden Persönlichkeit und ist insofern politische Soziologie. Ein auf Wirtschaftsliberalität oder Nationalliberalität verengtes Verständnis von Freiheit, worum es im letzten Beitrag ging, ist sowohl den gesellschaftlichen Gestaltungsspielräumen als auch dem professionellen Handeln als Sozialarbeiter abträglich.
Dazu ein Beispiel, das den Bogen zum vorletzten Blogbeitrag schlägt und auch die Frage eines Kommentators aufgreift, welche gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen eine Trennung von Einkommen durch Erwerbsarbeit, Auskommen und Sinn haben könnte.
Zu Beginn des Ausbildungsjahres gab es einige Berichte über die Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Besorgnis herrscht einerseits über einen Mangel an Auszubildenden in einigen Branchen und andererseits über sogenannte „nicht ausbildungsreife“ Bewerber. Beklagt wird fehlende Leistungsfähigkeit bei einem Teil der Schulabgänger. In der Süddeutschen Zeitung stellt Anna Günther im Zuge dieser Debatte den Jugendlichen Andreas Gröner vor. Der gescheiterte Hauptschüler hat über eine Schulungsmaßnahme der Arbeitsagentur den Hauptschulabschluss nachgeholt und in einem Praktikum das Maler- und Lackiererhandwerk kennengelernt. Eine Erfolgsgeschichte, denn der Praktikumsbetrieb erkennt die Fähigkeiten Gröners und stellt ihn als Auszubildenden ein. Den Erwartungen wird er gerecht, seine Chance hat er genutzt, und der Betrieb hat einen passenden jungen Mitarbeiter gewonnen.
„Gerade schwierige Schüler würden engagierte Mitarbeiter, wenn sie eine Chance bekämen“, wird der Innungsgeschäftsführer der Maler und Lackierer Jürgen Weber zitiert. Es fragt sich also: Was ist in der Schule nicht gelungen, warum konnte er den schulischen Bildungsweg nicht ebenso als eine Chance sehen? Und wodurch werden Chancen eröffnet, welche gesellschaftlichen, bildungs- und sozialpolitischen Bedingungen sind günstig für die Entfaltung des Einzelnen? Schließlich auch: Was wird als genutzte Chance anerkannt, welche Art von Teilhabe wird angezielt?
Für eine Fallrekonstruktion der Scheiternsgeschichte und ihrer Wendung gibt der Artikel zu wenige biografische Informationen her. Doch schnell erscheinen Bilder vor dem inneren Auge von verwahrlosten Schulhöfen und überfordertem Lehrpersonal mit zu großen Klassen voller Schüler, die sich den kognitiven Anstrengungen nicht stellen können. Das Elternhaus gerät in den Blick, Überforderung auch hier, fehlende Anerkennung der Stärken des Sohnes, zu wenig Augenmerk auf die Bedeutung von Bildung, stattdessen sind die Eltern vielleicht mit sich selbst beschäftigt. Die Sozialisations- und Bildungsforschung liefert viele Gründe für mangelnden Schulerfolg, die nicht dem Einzelnen zurechenbar sind als individuelles Unvermögen oder einer „null Bock“-Haltung.
Insofern klingt die Erfolgsgeschichte von Andreas Gröner wie ein Argument für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), also eine monatliche Zahlung des Staates an alle auch ohne Bedürftigkeit. Das BGE hätte den hier im Hintergrund zu vermutenden Teufelskreis unterbrochen: Der Kreislauf von einkommensschwachem und bildungsfernem Herkunftsmilieu, nicht genutzten Chancen und einem dadurch verfestigten Verbleib im Milieu derer, die keinen Zugang finden zu gesellschaftlich anerkannten Formen der Lebensführung, also einer bezahlten Arbeit, mit der das eigene Leben finanziell zu sichern und zu gestalten ist. Unterbrochen würde der Kreislauf bereits früh, nämlich vor Geburt des Kindes durch eine bedingungslose Anerkennung der Eltern. Auf dem Boden einer gesicherten Existenz und einer fehlenden Stigmatisierung als „Versager“, „Verlierer“ oder sogar „Schmarotzer“ lässt sich auch für eigene Kinder leichter sorgen. In einem solchen familiären Umfeld kann sich eine Positivspirale entwickeln und auch ein lernförderlicheres Klima entstehen. Chancen zu eröffnen, ist das Leitmotiv des Grundeinkommens. Sich ausprobieren ohne Existenzdruck, seine Talente aufspüren und seinen Neigungen folgen. Frei.
Warum überhaupt etwas leisten?
Doch der Artikel wendet sich. Der heute 19-Jährige verkündet: „Irgendwann habe ich auch verstanden, dass ich etwas tun muss – jeder braucht Geld zum Leben.“ Das spricht gegen ein BGE, denn der Handlungsantrieb, der hier aufscheint, ist Arbeit als Mittel zum Zweck der Existenzsicherung. Was wäre mit ihm geworden, gäbe es ein BGE? Es besteht die Sorge, dass er mangels Notwendigkeit, Geld zu verdienen, auch nicht bemerkt hätte, dass er etwas tun muss. Diese Notwendigkeit – so der Tenor des Artikels – war Gröners Glück. Nur so konnte er sich als fähig erleben, als Teil eines übergeordneten Ganzen (des Betriebes sowie abstrakter der Wertegemeinschaft der Arbeitsgesellschaft) und über sich hinauswachsen.
Der Zwang zur Arbeit erscheint hier in doppelter Bedeutung als Disziplinierungsinstrument, das gleichzeitig zum Glück zwingt. Erst der Anreiz, Geld zu verdienen, versetzt auch solche Heranwachsenden, die leistungsethisch wenig Antrieb zeigen, in die Lage, den anderen Bedeutungsgehalt der Arbeit – nämlich Sinn – zu erkennen. Diese Kontroverse ist eine der Hauptlinien in der Auseinandersetzung um das BGE als zukunftsfähiges Sozialmodell: Welches sind günstige Bedingungen für Leistungsbereitschaft und Leistungserbringung? Was fördert die lebendige Erfahrung, dass sich Anstrengung lohnt, weil sie Erfüllung stiften kann?
Notwendigkeit oder Freiheit?
Strukturell (ontogenetisch) betrachtet spricht einiges für die Freiheit. Menschen machen von Anfang an die Erfahrung, dass sich Anstrengung lohnt. Jedenfalls wenn es einigermaßen gut läuft. Dann nämlich hat schon der Säugling die Erfahrung machen können, dass er nur laut genug schreien muss, damit jemand kommt, ihn in den Arm nimmt, beruhigt, die Windel wechselt oder den Magen füllt. Je nach dem.
Von da an geht es immer so weiter in – wenn es gut geht – sich selbst verstärkender Tendenz. Die neurologische Forschung untermauert das: Erfolg motiviert und befestigt die Haltung, die zum Erfolg geführt hat. Es spurt sich ein Habitus ein. Das Neugeborene wird also weiter versuchen, durch eigene Kraft Dinge zu bewirken. Es wird nicht auf dem Stadium stehen bleiben, dass es nur zu schreien braucht, wenn es seinen Hunger stillen möchte.
Sondern beobachten lässt sich, dass das Baby alle Muskeln in Bewegung setzt, um die riesige Anstrengung zu vollbringen, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen, später auch Krabbeln und Laufen zu lernen. Man sieht es am ganzen Körper, dass es schwierig ist, dass es zunächst oft fehlschlägt, dass sich aber kaum ein Kind durch das Scheitern davon abbringen lässt, es wieder und wieder zu versuchen.
Nun kann man einwenden, dass es sich bis hierher um ein genetisches Programm handelt. Schon in Kindergarten und Schule zeigen Kinder sehr unterschiedliche Haltungen, sie sind neugierig oder lustlos, voller Tatendrang oder lethargisch, sind bereit sich anzustrengen oder drücken sich vor dem Aufräumen. Aber es ist noch zu wenig bekannt, wann und wodurch sich diese Differenzierung einstellt, wie sie sozialisatorisch flankiert wird und vor allem, welche Bedingungen an dieser Stelle günstig wären für die Stärkung eines stabilen, neuen Erfahrungen zugewandten Habitus. Dieser wäre die Basis für eine erfahrungsbasierte Entwicklung auch einer Leistungsbereitschaft, die keinen äußeren Anreiz benötigt.
Doch die individuelle Erfahrung, dass sich Anstrengung lohnt, weil sie den eigenen Wirkungsradius vergrößert und die erweiterten Handlungsmöglichkeiten erfüllend sind im Sinne der Selbstverwirklichung, ist nur eine der Voraussetzungen. Darüber hinaus bedarf es einer Anerkennungsordnung, die einen solchen Habitus auch prämiert (vgl. dazu Fischer 2009). Ein selbstbewusst gestalteter Lebensweg, der die individuellen Vorstellungen und Neigungen zum Ausdruck bringen will, vollzieht sich nicht unbedingt in vorgegebenen institutionellen Statuspassagen entlang zertifizierter Abschlüsse. Auch die Zielrichtung muss individuell gefunden werden, nicht jeder und jede sieht Erfüllung in der Leistung für einen Arbeitsmarkt. Die Anerkennungsordnung, die konsequent die Individuation ermöglicht, muss zugleich kollektive Gewissheiten darüber entwickeln, welche Arten von Leistungen gesellschaftliche Wertschätzung erfahren.
Diese Werte sind jedoch keine ideellen Glaubenssätze, sondern erwachsen aus gesellschaftlichen Handlungsproblemen, deren Lösung grundlegende Beiträge dazu liefern, dass sich die politische Gemeinschaft weiterentwickeln kann. Solche Beiträge sind, mit Oevermann (2001) gesprochen, ihre dreifache Reproduktion in Form der Sicherung des Nachwuchses, des sozialen Zusammenhalts und der materiellen Versorgung. Teilhabe und Sinnstiftung vollziehen sich daher ebenfalls in diesen drei gesellschaftlich bedeutsamen Feldern in je ihren modernsten Erscheinungsformen. Gegenwärtig dienen Familien, gemeinwohlbezogene Beiträge sowie Erwerbsarbeitsleistungen diesen Reproduktionserfordernissen.
Ein Sozialsystem der Zukunft müsste das sozialpolitische Pendant dieser als dreifache verstandenen Vergesellschaftung sein. Es würde sich orientieren an der Gleichwertigkeit der Reproduktionsfelder und sie gleichermaßen als Leistungsfelder anerkennen statt sich im Verständnis der Arbeitsgesellschaft eines zum dominanten zu erklären. Und es würde innerhalb dieses Rahmens die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen existenziell sichern. Soziale Arbeit, auch Bildungs- und Erziehungsberufe hätten in einer solchen Sozialordnung neue, professionellere Rahmenbedingungen und eine andere Aufgabenstellung. Die Kontrolle der Leistungsberechtigung und die Zielrichtung einer Employability würden abgeschwächt zugunsten einer konsequent am Einzelnen orientierten Begleitung und Förderung.
Dies allerdings setzt das Vertrauen der politischen Gemeinschaft in den Einzelnen voraus sowie die Fähigkeit, mit der Freiheit umzugehen. Das Parktheater Iserlohn hat genau dies zum Motto der aktuellen Spielzeit gemacht.
Es liefert damit einen Beitrag zu einer zukunftsweisenden Auseinandersetzung nicht nur allgemein zum Freiheitsverständnis, sondern zu konkreten Fragen nach förderlichen Bedingungen, notwendigen Fähigkeiten und habituellen Voraussetzungen, um Freiheit als Gewinn zu erleben.
Literatur
Fischer, Ute L. (2009): Anerkennung, Integration und Geschlecht. Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts. Bielefeld
Oevermann, Ulrich (2001): Die Soziologie der Generationsbeziehungen und der historischen Generationen aus strukturalistischer Sicht und ihre Bedeutung für die Schulpädagogik. In: Kramer, Rolf-T./Helsper, Werner/Busse, Susanne (Hg.): Pädagogische Generationsbeziehungen. Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Familie, Opladen, S. 78-128.
Vielen Dank für Ihren Beitrag, den ich wieder mit großem Interesse gelesen habe. Ein paar unsortierte Gedanken von mir dazu:
(1) „Lernen ist wie Atmen“ schreibt der visionäre Grundschullehrer Rolf Robischon. Kinder scheinen von Anfang an ihre Umgebung (die Welt) zu erkunden, zu erproben und zu erforschen, sich aktiv anzueignen und zu gestalten. Stellen Sie sich vor, wir würden den Atemvorgang von früh an mit Regeln, Leistungsansprüchen, Zielvorgaben und dergleichen mehr überfrachten. Vielfältige Atemstörungen wären wohl die Folge.
(2) Oft wird nicht recht bedacht, dass individuelle Leistung nur möglich ist, weil viele andere Menschen dazu beitragen: Nahrung, Infrastruktur, Reproduktion von gebildeten Menschen usw. – wie kommen wir dazu, dass sich der Einzelne so unglaublich viel auf seine Leistung einbildet?
Welche Leistung hoch bewertet wird, scheint oft absurd, schaut man sich mal an wie beispielsweise das geschickte Dribbeln eines Fußballs oder das riskante Zocken mit Wertpapieren im Vergleich zu, sagen wir, der Betreuung kleiner Kinder entlohnt wird.
(3) Es lohnt sich also sehr, meine ich, sich zu fragen, welche Art von Anreizstrukturen wir als Gemeinschaft bereit stellen. Denn als Konstrukteure dieser sozialen Wirklichkeit sind wir dieser nicht als Opfer „alternativlos“ ausgeliefert. Das bedeutet:
(4) Freiheit aushalten. Das bedeutet die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen für das Ergreifen und Erschaffen sinnstiftender Tätigkeit zu übernehmen.
(5) Die „Freiheit“ maßlosen Massenkonsums erinnert hingegen an süchtige Konsummuster, zwanghaftes Verhalten eben – gekennzeichnet durch Kontrollverlust, Dosissteigerung und Selbstschädigung.