Ich komme gerade zurück aus San Diego, wo ich an der SenseCam-Konferenz teilnahm. Alle 18 Monate trifft sich eine kleine „Bruderschaft“, um über die neuesten Trends im Bereich Lifelogging zu diskutieren. Das interessiert mich gleich doppelt: Als Mitentwickler einer Lifelogging-App und als Soziologe, der wissen möchte, welche Effekte Lifelogging auf Individuen und Gesellschaft hat.
Lifelogging als „cutting edge“-Thema für die Soziologie
Lifelogging ist ein Sammelbegriff, der die automatische Erfassung und Speicherung von Lebensdaten und Verhaltensspuren benennt. Beim Lifelogging entstehen durch Selbstarchivierung umfangreiche Sammlungen mit „Lifelogs“, deren Verwaltung und Visualisierung alles andere als trivial ist (vgl. Stefan Selke: Der editierte Mensch. Vom Mythos digitalisierter Totalerinnerung durch Lifelogging. In: Postmediale Wirklichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive, Hrsg. von Stefan Selke & Ulrich Dittler, Hannover, 2010, S. 96-117).
Mit meiner Kongressteilnahme folge ich implizit einem Arbeitsauftrag, den mir die Verschriftlichung (!) des E-Mail-Dialogs zwischen Zygmunt Baumann und David Lyon einbrachte (Zygmunt Baumann & David Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Berlin, 2013. Im Original: Liquid Surveillance. A conversation). In diesem „Holzmedium“ ist zu lesen: „Die Gesellschaftswissenschaften sind aufgefordert, sich einen Reim auf das Digitale zu machen, wenn sie nicht auf die Erforschung und theoretische Durchdringung einer ganzen Welle signifikanter kultureller Aktivitäten verzichten wollen. Und jede soziologische Erklärung, die etwas taugen soll, muss zunächst die Tatsache berücksichtigen, dass diese Aktivitäten von Technologien abhängig sind. (…) Die Soziologie muss sich also dem Digitalen stellen.“ Bei der SenseCam-Konferenz ging es ausschließlich um solche Technologien, die zwar vorerst nur von „Nerds“ genutzt werden, die aber das Potenzial besitzen, die Gesellschaft zu verändern.
Prediger und Evangelisten des digitalen Zeitalters
Auf der Konferenz standen eindeutig die Prediger der neuen Kultur im Mittelpunkt. Das waren Personen wie Bob Evans von Google, der viel Aufmerksamkeit auf sich zog, weil er mit den neuen Google Glasses herumlief. Oder Mingui Sun, Professor an der School of Medicine der University of Pittsburgh, der Erfinder des eBottons, einer kleinen Kamera, die sich leicht an der Kleidung befestigen lässt und somit universell einsetzbar ist. Und natürlich Cathal Gurrin von der University of Dublin, dessen Alleinstellungsmerkmal darin besteht, dass er derjenige Mensch ist, der wohl schon am längsten das eigene Leben digital vermisst (mittlerweile mehr als 7 Jahre, dabei entstanden mehr als 12 Millionen Bilder und jede Menge weitere Daten).
Visuelle Ethnographie mit Lifelogging-Kameras
Die für Lifelogging eingesetzten Kameras, z.B. die SenseCam (bzw. Vicon Revue) oder der Autographer sind nicht nur für technikverliebte Exzentriker interessant, sondern für alle diejenigen, die ethnografisch forschen. Dies zeigten auch die zahlreichen Vorträge auf der Konferenz, die Beispiele visueller Ethnografie dokumentierten. Noch liegt der Schwerpunkt dabei auf gesundheitswissenschaftlichen Studien (meist zum Ernährungsverhalten). Das Potenzial dieser Lifelogging-Kameras für auto- und ethnografische Studien ist hierbei aber noch längst nicht ausgeschöpft. Wann werden sie regelmäßig für genuin soziologische Studien eingesetzt? Das könnte überall dort geschehen, wo Fragestellungen mit Raum-, Interaktions- oder Aktivitätsbezug im Mittelpunkt stehen. An der Hochschule Furtwangen geschieht dies z.B. in einem Projekt zur Untersuchung der Bewegungsmuster älterer Menschen im ländlichen Raum, um dadurch Rückschlüsse auf deren soziale Inklusion zu erhalten.
Evidenzbasiertes und quantifiziertes Leben
Jim Gemmell, ehemaliger Forscher bei Microsoft und Architekt der bislang umfassendsten Lifelogging-Software ‚MyLifebits’ behauptete in San Diego – charismatisch wie ein digitaler Evangelist – dass wir uns mitten in der „Dekade von Lifelogging“ befänden (vgl. dazu: Gordon Bell & Jim Gemmell, Jim: Your Life, uploaded. The digital way to better memory, health, and productivity. New York, 2010). Und er sieht schon das nächste große Ding: Thing-Logging, d.h. Dinge, die eine „Geschichte“ erzählen, die ihnen digital anhaftet. Wie man es im Silicon Valley so macht, hat er dazu gleich eine Firma (Trōv) gegründet. Gurrin und Gemmell sind zwei „Lead User“, die jetzt schon vorleben, was bald zur gesellschaftlichen Normalität gehören könnte. Für beide steht die Idee im Mittelpunkt, dass die Summe digitaler Lifelogs ein evidenzbasiertes Abbild des eigenen Lebens darstellt. Lifelogs sind für sie der prädestinierte Zugang zum eigenen Leben. Daran, dies ist mein aktueller Arbeitsauftrag, gibt es jede Menge zu kritisieren.
Ähnlich proklamieren es gegenwärtig die Anhänger der durch einige Medienhypes bekannt gewordenen Quantified-Self-Bewegung. Im September traf ich einige davon bei einem sog. „Meetup“ in Washington, z.B. Patrick, einen Psychologie-Professor von der John Hopkins Universität, der den Mt. Everest besteigen will. Seine Vorbereitungen dokumentiert er akribisch in einem Blog. Er „trackt“ seine komplette Lebensführung (Schlaf, Ernährung, Aktivität, Training, Stimmung) und sucht nach Mustern und Strukturen in den Daten: Self Knowledge through numbers lautet die Devise des datengetriebenen Lebens. Sie stammt vom Begründer der Quantified Self-Bewegung, Garry Wolf.
Auf dem Weg zur digitalen Unsterblichkeit?
Lifelogger gehen jedoch noch einen Schritt weiter. Die vollautomatischen Kameras, die sie am Körper tragen, halten alle 2, 10 oder 30 Sekunden eine Szene mit einem Weitwinkelobjektiv fest. Sehr viele solcher Bilder (pro Tag entstehen ca. 2.000) bilden schließlich ein umfassendes und durchsuchbares Lebensarchiv. In dieser „googelization of memory“ sehen Gurrin, Gemmell & Co. auch einen Weg, der uns zu einer Art digitaler Unsterblichkeit verhelfen könnte (vgl. dazu kritisch Stefan, Selke: Identity in the ‘Loggosphere’. Recalling daily life with Human Digital Memory. In: Glimpse. Phenomenology and Media. An Anthology of Essays from Glipse, 13, S. 113-120).
Und nach diesem Weg wird an vielen Orten gesucht: Nach der SenseCam-Konferenz besuche ich noch Richard Banks, den Leiter eines Forschungslabors bei Microsoft Research in Cambridge (UK). Grund dafür ist sein Buch über die Zukunft der Erinnerung (Richard Banks: The future of looking back. Washington: Redmond, 2011). Er zeigt darin anhand zahlreicher Beispiele auf, wie sich zukünftig digitale Daten und physikalische Objekte verbinden lassen und wie sich Emotionen wie z.B. Nostalgie durch die Aufschichtung von (Gebrauchs-)Spuren auch auf digitale Daten übertragen lassen. Seine Forschungsergebnisse und -produkte durch die Brille der Soziologie zu sehen, hilft deutlich, sich einen Reim auf das Digitale zu machen.
Von Datenfriedhöfen zu Hollywood Forever
Alle diese Entwickler sind überzeugt davon, dass sich mit digitalen Lifelogs „gute“ und „valide“ Lifestories erzählen lassen. Für viele Kritiker hingegen entsteht dabei nur ein einziger Datenfriedhof. Tylor Cassity kennt sich mit beidem aus: Mit digitalen Datenfriedhöfen und mit Offline-Friedhöfen. Er ist Gründer und Geschäftsführer von Hollywood Forever, einem Friedhof, auf dem Pfaue zwischen den Gräbern von Stars aus der Stummfilmzeit und verstorbenen koreanischen Einwanderern frei herumlaufen, gleich hinter den Paramount Studios, mitten in Hollywood. Bei meinem Besuch erzählt er mir, dass ihn seine Berufspraxis vor allem eines gelehrt hat: Menschen suchen Ruhm. Das ist vielleicht nicht so brillant wie Horkheimers & Adornos Analyse der Kulturindustrie. Dafür ist er (schon rein räumlich) viel näher dran am Geschäft der Produktion und Entsorgung von Stars.
Einige Jahre lang versuchte Cassity seinen Kunden digitale Lifestories zu verkaufen, um ihnen post mortem ein wenig Ruhm zu bieten. Dieses Geschäft hat er inzwischen aufgegeben. Anders als die Prediger aus San Diego, glaubt er nicht mehr daran, dass sich mit großen Datenmassen automatisch gute Lebensgeschichten erzählen lassen: „Man kann Ruhm nicht verkaufen. Man kann aus einem gewöhnlichen Leben kein ungewöhnliches Leben machen. Wir brauchen Geschichten. Aber das bedeutet nicht, dass uns jede Geschichte unsterblich macht. Nicht nur in Hollywood sind wir letztlich fehlgeleitet durch die Annahme unserer eigenen Außergewöhnlichkeit“.
Den Trend nicht verpassen
Das sind nur ein paar wenige Einblicke darin, wie ich in letzter Zeit versucht habe, mir einen Reim auf das Digitale zu machen. Lifelogging ist ein vielschichtiges Thema, das auch für die Soziologie entdeckt werden sollte. Hierzu ist es aber einmal mehr notwendig, die eigenen Disziplingrenzen durch einen Weichzeichner zu betrachten. Denn die mit dieser „signifikanten kulturellen Aktivität“ (Baumann/Lyon) in Zusammenhang stehenden Fragen machen vor Disziplingrenzen keinen Halt (vgl. dazu Stefan, Selke: Der vermessene Mensch. Quantifiziertes Leben im Zeitalter digitaler Erinnerungsmedien. In: Tsantsa. Zeitschrift der Schweizerischen Ethnologischen Gesellschaft; Heft 18, S. 77-85).
Hierbei gibt es jede Menge soziologische Fragestellungen, die auf der SenseCam-Konferenz nicht diskutiert wurden, wie z.B. Aiden Dohorty von der Universität Oxford kritisierte. Setzen sich Technologien der digitalen Selbstverdatung als alltagstaugliche Massenmedien durch – und das wird in den nächsten fünf Jahren der Fall sein – dann stellen sich neben ethischen und ästhetischen Fragen auch solche nach neuen sozialen Ungleichheiten, nach neuen sozialen Normen sowie neuen Formen der Reproduktion zwischenmenschlicher Beziehungen.
Die Tatsache, dass außer mir kein Vertreter der Soziologie auf der SenseCam-Konferenz anwesend war, sollte nachdenklich stimmen. Vielleicht ist das wieder einmal ein Trend, der an der Disziplin vorbei geht. Dann braucht sich auch niemand über die mangelnde öffentliche Anerkennung der Soziologie zu beschweren.
„Autographer sind nicht nur für technikverliebte Exzentriker interessant“
Müsste es nicht vielmehr heißen „technikverliebte Egozentriker“? Lifelogging scheint offenbar eine ziemlich übersteigerte Form der persönlichen Selbstbeobachtung zu sein. Egozentriker, Phobiker und Zwangsneurotiker können sich damit wahrscheinlich ziemlich gut die Zeit vertreiben. Dass die durch Lifelogging produzierten Datenberge am Ende auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, liegt wohl in der Logik dieser Selbstbeobachtungstechnik. Wie Sie ganz richtig bemerken, kann diese Datenmengen kein Mensch mehr auswerten, nicht mal die Beobachteten selber.
Das was Taylor Cassidy versucht hat, ist übrigens bereits 2004 in dem Film „The Final Cut“ mit Robin Williams vorweg genommen worden (http://goo.gl/EmX9m). In dem Film können sich Menschen Erinnerungsimplantate einpflanzen lassen, um ihr ganzes Leben aus dem eigenen Point of View aufzuzeichnen. Nach dem Tod werden aus dem aufgezeichneten Film die Highlights für die Beerdigung zusammengestellt. Welche dann auch jederzeit an der Grabstelle wieder abgespielt werden können. Robin Williams spielt einen Schnittmeister, dessen Arbeit darin besteht diese Filme zusammenzuschneiden.
Bei der Rede vom „Digitalen“, weiß ich leider nicht, was damit gemeint sein könnte. Einen theoretischen Mehrwert kann ich ebenso wenig nicht erkennen. Beim Gerede vom „Digitalen“ scheint es sich doch eher um eine Mystifizierung zu handeln. Für mich macht Ihr Beitrag vielmehr wunderbar deutlich, welche Seiten die Technik an Menschen noch hervorbringen und verstärken kann, aber nichts darüber, was „das Digitale“ sein könnte.
Ich habe Tyler Cassity explizit nach dem Film „Final Cut“ gefragt, der mir im Zusammenhang mit Lifelogging natürlich bekannt ist. Erstaunlicherweise kannte er ihn nicht. Dabei dachte ich immer seine „Hollywood Forever Rememories“ seinen so etwas wir eine Vorlage für den Regisseur des Films gewesen….
Erstaunlich. Dass seine Idee von dem Film inspiriert wurde, drängt sich ja geradezu auf,
nehmen diese livelogger denn andere menschen auf? ist das überhaupt erlaubt? was ist mit dem recht am eigenen bild? wahrscheinlich müßig sich gegen solche patho(s)logischen praxen zu wehren?
Dadurch, dass Lifelogging-Kameras meist am Körper getragen werden, entstehen die meisten Bilder aus einer „Ich-Perpektive“. Zudem werden meist Weitwinkellinsen verbaut. Dies führt dann auch dazu, dass ein „Panorama“ des eigenen Umfeldes aufgezeichnet wird – und befinden sich dann ggf. auch andere Personen, die nicht wissen, dass sie aufgenommen werden. Cathal Gurrin dazu auf der SenseCam-Konferenz: “ Mir macht das auch Sorgen, aber man kann ja nicht jeden fragen.“ Übrigens sind sich die Lifelogger der Problematik durchaus bewusst, das Ethik-Panel war sehr gut besucht, es wurde hitzig diskutiert…
…hauptsache in der soziologie kommt niemand auf die idee so zu forschen und das dann zu pubizieren; das wäre dann ein fall für die ethik kommission…
Das sehe ich ein wenig anders: In einigen Ländern (UK; USA) haben sich bereits Ethikkommissionen mit Lifelogging als Forschungstool auseinandergesetzt. Einfach war das nicht. Aber inzwischen gibt es die ersten Richtlinien und Überlegungen dazu – auch das wurde ausführlich auf der SenseCam-Koferenz diskutiert. Es geht also weniger darum, den Einsatz komplett abzulehnen, als vielmehr Randbedingungen für die Nutzung zu definieren…
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Mir drängt sich die Frage auf, wie solche Trends erfolgreich in die Disziplin herein getragen werden können. Sollte man diese in eine DGS-Sektion institutionalisieren oder sich eher lose und interessengebunden organisieren und steams auf Konferenzen sowie Journals zu besetzen, ohne diese explizit auszurichten?
Mein Ziel war nicht, gleich eine eigene Sektion zu gründen, zumal es ja schon einige gäbe, die sich des Themas annehmen können. Ich wollte an dem Beispiel eher aufzeigen, das es viele spannende Querschnitts-Themen gibt, die gleichwohl eine soziologische Analyse benötigen. Und – das ist der springende Punkt – diese Analyse kann dann sehr erfolgreich als „Soziologie für die Öffentlichkeit“ dargestellt werden. Die Öffentlichkeit wird sich auf jeden Fall für die mit Lifelogging in Zusammenhang stehenden Fragen interessieren, es ist nur die Frage, ob es die Fachdisziplin Soziologie auch tut.