Das private Lernuniversum

Mit Lifelogging sind – wie im letzten Blog skizziert – viele Versprechen verbunden. Digitale Evangelisten wie Gordon Bell (Microsoft) möchten auch die Welt des (akademischen) Lernens revolutionieren. Dies wird es nötig machen, Lehre an Hochschulen völlig neu zu organisieren. Lehrbücher, Vorlesungen und Wikipedia waren gestern. Morgen kommt die studentische MEMEX – das große digitale Lerngedächtnis (eine Anlehnung an den „Memory Extender“ von Vannevar Bush). Dazwischen gibt es bereits heute eine recht aufgeregte Debatte über MOOCS (Massive Open Online Courses) – kurze Videoclips. Diese Form der Digitalisierung von Hochschulen sollte Soziologen nicht kalt lassen. Denn die Soziologie könnte als erste Disziplin aus der Bildungslandschaft verschwinden.

Jörg Dräger (Vorstand für Bildung bei der Bertelsmann Stiftung) behauptet in einem Artikel in DIE ZEIT (21. November, wortgleich hier), dass Bildung an deutschen Hochschulen Massenware gleiche. In der Digitalisierung von Lehrangeboten in der Form von MOOCS sieht er eine „Revolution“ nach dem Muster der Downloadplattformen für Musik oder der individuellen Zusammenstellung von Müslipackungen.

Umbruch der Hochschullandschaft

Das uns aus einer anderen Debatte bereits vertraute Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) beschäftigte sich mit der Digitalisierung der Hochschullehre und behauptet in einer gerade veröffentlichten Studie (CHE AP 174), dass die Chancen der Digitalisierung von deutschen Hochschulen noch weitgehend ungenutzt würden. Zudem wird (bedauernd) festgestellt, dass in Deutschland bisher kein entsprechender Handlungsdruck in Richtung Digitalisierung bestünde.

Vor dem Hintergrund, dass Hochschulen „massiv“ von der Digitalisierung betroffen seien, fordert das CHE eine Standardisierung der Lehrveranstaltungen durch MOOCs und damit eine Einsparung von Lehrenden durch Outsourcing der Kursherstellung. Die Produktion der Videos könne durch externe Dienstleister erfolgen. Diese neue Lernkultur würde eine Auflösung der Lehrveranstaltungen vor Ort bedeuten und zudem die Rolle von Lehrenden „massiv“ verändern. „Langfristig ist denkbar, dass Hochschulen entstehen, welche überhaupt keine eigenen Lehrangebote mehr vorhalten, sondern sich darauf konzentrieren, absolvierte Bildungsangebote zu prüfen, Vorwissen zu zertifizieren und aus dem großen, weltweit verfügbaren Bildungsangebot für jeden Studierenden individualisierte Lernprogramme zusammenzustellen.“ (Ralf Lankau, Hochschule Offenburg)

Privatisierung der Bildung

Diese Behauptungen erregen gegenwärtig viel Aufsehen – die Debatte ist in vollem Gang. Manch einer spricht sogar von „Propaganda“. Dräger stellt sich jedenfalls die ideale Lernwelt so vor: „Es ist eine faszinierende Vorstellung, bei den besten und engagiertesten Professoren kostenlos und gemeinsam mit vielen anderen aus aller Welt zu studieren.“ Nicht nur in seinem Artikel werden MOOCs immer wieder gebetsmühlenartig als Beispiele dafür angefügt, wie gerade Studierende aus Schwellenländern von digitalen, zeitentbundenen und raumenthobenen Bildungsangeboten profitieren können. Als Vergleichsmaßstab wird dann gerne ein Elitestudium in Oxford und dessen Kosten herbeizitiert. Tatsächlich aber kosten viele dieser hippen Videos schon jetzt Geld und können nur über Abonnements konsumiert werden. In meinem eigenen Umfeld verkaufen erste Kollegen eigene MOOCs äußerst gewinnbringend. Statt einer „Demokratisierung der Bildung“ (Dräger) zeichnet sich also eher eine fortschreitende Privatisierung der Bildung ab.

Vom MOOC zum POOC

Das Fazit aus der CHE-Studie: „Die wirklich großen Potenziale der Digitalisierung bleiben ungenutzt, solange alle das Gleiche auf die gleiche Weise lernen.“ Dräger schlägt daher eine Entwicklung vom MOOC zum POOC (Personalized Open Online Course) vor, um Kompetenzen, Interessen und Lernstile weiter zu individualisieren. Es kann jedoch bezweifelt werden, ob Studierende ihre je individuellen Bedarfe überhaupt kennen. Von Kritikern der MOOCs wird hierzu den Lernplänen an Hochschulen eine „unersetzliche strukturierende Wirkung“ zugesprochen. Mit ein wenig Praxiserfahrung betrachtet, entpuppt sich dies allerdings ebenfalls als Propaganda.

Fest steht, dass wir eine Entwicklung zu erwarten haben, wie sie schon von den Trendsettern im Bereich Lifelogging vorausgedacht wurde. Studierende können ihr eigenes Lerntempo bestimmen, indem sie Videoaufnahmen beliebig oft vor- und zurückspulen. Lernvideos lassen sich mit „intelligenter“ Software verbinden, die erkennt, wo die Aufmerksamkeitsfoki und die Defizite der Studierenden liegen. Auf diese Weise können automatisch Lernprofile erzeugt und Lernergänzungen generiert werden.

Im Universum der MOOCs und POOCS findet sich (irgendwann) jeder nur denkbare Inhalt. Das Heilsversprechen besteht darin, dass sich Wissenslücken mit nur einem Klick schließen lassen. Völlig offen bleibt in dieser Debatte, wer genau diese Inhalte erzeugt. Zu befürchten ist, dass durch das Outsourcing genau der Lerninhalte, die angeblich „Massenware“ sind, aus Effizienz- und Kostengründen eine noch viel schlimmere Standardisierung, vielleicht sogar eine Ideologisierung der Lerninhalte entsteht. Wer will kontrollieren, wessen Interessen in die Produktion der digitalen Videoclips einfließen? Und wer entscheidet, welche Angebote auf den Bildungsmarkt gebracht werden? Führt dies zu einer utilitaristischen Einengung der Angebotspalette oder gar einem „digitalen Maoismus“ (Jaron Lanier)?

Vielleicht sind Neutralität und Qualitätssteigerung auch gar nicht das Ziel. Beim Lesen des CHE-Papiers offenbart sich, welchen Zweck MOOCs wirklich haben: „Frei zugängliche digitale Lehr- und Lernformate sind gut geeignete Instrumente für Hochschulmarketing oder bei der Anwerbung von Studierenden.“ Das wäre dann Infotainment mit Promilehrenden. Und weiter: „In den USA verbinden sich mit den Massive Open Online Courses (MOOCS) zusätzlich auch Hoffnungen auf niedrigere Kosten für die Hochschulen und geringere Studiengebühren für den einzelnen Studierenden.“ Um Qualität geht es hierbei also nicht wirklich.

Rolle der Soziologie

Für die Soziologie ist diese Debatte eine Steilvorlage. Eine soziologische Analyse ist dringend notwendig. Es braucht z.B. eine übersichtliche Typologisierung der aktuellen Reaktionen und Argumente zwischen Heilsversprechen und Donnerkritik. Hierbei ist auch die jeweilige institutionelle Einbettung von Befürwortern und Gegnern in den Blick zu nehmen. Für diese stellvertretende Beobachterposition ist die Soziologie geradezu prädestiniert.

Es geht aber auch darum, die Folgen für die eigene Disziplin abzuschätzen. Was passiert, wenn sich gerade soziologische Lerninhalte immer weiter „individualisieren“ (wie von Dräger gewünscht)? Vielen gilt die Soziologie als „vorparadigmatische“ Wissenschaft. Bedeutet die Fragmentierung soziologischen Wissens in Form von MOOCS dann das letztendliche Verschwinden des fachlichen „Kerns“ sowie die endgültige Verschiebung in Richtung (der oft kritisierten) Beliebigkeit? Zudem könnte es zu einer Dominanz der als „nützlich“ angesehenen Lerninhalte kommen – nicht gerade die Domäne der Soziologie. Das könnte einen Niedergang der Disziplin bewirken.

Sind damit aber vielleicht auch Chancen verbunden, z.B. die stärkere Integration soziologischen Wissens im Feld lebenslangen Lernens? Vielleicht werden dann – auch im Sinne einer „Soziologie für die Öffentlichkeit“ – soziologische Inhalte gerade außerhalb überschaubarer akademischer Zirkel nachgefragt und verfügbar sein. Das könnte einen Aufschwung der Disziplin bewirken.

Digitale Hitlisten

Was passiert – über die aktuelle MOOC-Debatte hinaus gedacht – wenn Lehrbücher durch Linklisten digital verfügbarer Inhalte abgelöst werden? Erwartungen werden sich ändern, neue Rollenmodelle entstehen. Das bedeutet aber auch, dass nur diejenigen Vorlesungen von Interesse sind, die verständlich, spannend und interessant sind. Und das werden nicht alle Lehrenden leisten können. MOOCs werden Hitlisten von Lerninhalten und Lehrenden erzeugen.

Nur eines steht bislang fest: Diese Entwicklung braucht Investitionen in eine technische Basis, die an vielen Hochschulen noch nicht verhanden und meist noch nicht einmal angedacht ist. Und sie ist kein Automatismus. So darf auch bei Dräger Selbstkritik in homöopathischen Dosen nicht fehlen: „Nicht alles, was technisch machbar ist, ist gut für die Bildung.“

7 Gedanken zu „Das private Lernuniversum“

  1. wann wird denn Ihrer Meinung nach die Soziologie so aus der Bildungslandschaft verschwinden? nur damit sich alle rechtzeitig darauf vorbereiten können…

  2. Die Polemik ist ganz und gar unangebracht.. ich bin der Letzte, der sich ein Verschwinden der Soziologie wünscht und sprach daher im Konjunktiv. Zudem habe ich das dann später mit ein oder zwei Argumenten verbunden, oder nicht? Es ging um die Verknüpfung der Fragmentierung soziologischer Aussagen mit der These von der Individualisierung der Bildungsangebote. Mit einer so verkürzten Lesart ist niemandem geholfen…

  3. sorry, war doch nur alarmiert von der aussage… habe doch gar nicht geschrieben, dass Sie sich das wünschen. Beobachte selbst das Verschwinden nicht technikvermittelter Interaktion mit großer sorge.

    1. Dann sitzen wir ja wieder im gleichen Boot. Es wäre doch schade um die Soziologie. Im Ernst: Ich bin von so viel „Nützlichkeitsrhetorik“ umgeben, dass es mir machmal so vorkommt, als gäbe es außer „emplojability“ nicht anderes mehr in Welt. Studierende fragen: Warum soll ich das lernen? Wozu brauche ich das? Ich leite das Studium Generale an unserer Hochschule. Letze Woche gab es dort einen sehr guten soziologischen Vortrag über Verschwörungstheorien

      (http://www.hs-furtwangen.de/willkommen/weiterbildung/weiterbildung-an-der-hfu/studium-generale/seminar/1366-unwirkliche-wirklichkeiten.html)

      Danach musste ich mir von einem Studierenden eines technischen Faches anhören, dass Soziologie ja nur „weichgespülte Esoterik und Schwachsinn“ sei und nur Ingenieure die Welt berechnen und erklären könnten. Diesen Geist enthält ach das CHE-Papier…

  4. Ich bin in einem Team daran beteiligt, das erste MOOC meiner Universität zu erstellen. Federführend sind daran Lehrende beteiligt, und in die Überlegungen der Durchführung – weitaus nicht nur Videoclips, sondern auch offline Aufgaben, Foren, private Logs, Glossare und „altmodische“ Lektüren – fließen vor allem didaktische Überlegungen ein. Wir erleben hier sowohl den Nutzen digital gestützter Lehrangebote als auch vor allem ihre Grenzen. Vor allem ist es schwierig, wenn nicht derzeit noch unmöglich, Seminardiskussionen adäquat zu übersetzen. Dass MOOCs die Lehre verändern, kann sehr gut sein – aber sie ersetzen können sie, denke ich nicht.
    Und auch die Soziologie muss mit dem MOOC nicht verschwinden, sondern könnte vielleicht sogar, wenn gut gemacht, per MOOC einen Anschluss an die außerakademische Bevölkerung finden. Das Nützlichkeitsargument lasse ich persönlich mal nicht gelten: unser MOOC bietet eine (interdisziplinäre) Einführung in die Literaturwissenschaft.

    1. Danke für den Kommentar! Ich hoffe auch nicht, dass die MOOCs die Lehre ersetzen, gerade habe ich selbst als Experiment acht kleine Clips gedreht. Mein Blogbeitrag sollte eher so zu verstehen sein, dass ich anrate, sich innerhalb der Soziologie ernsthafte Gedanken über die Anschlussfähigkeit zu vielerlei Öffentlichkeit zu machen – vielleicht sind die MOOCs da sogar eine Chance. Ich habe es nur als „Gefahrenmeldung“ verpackt…

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