Starbucks, Foodbanks und Postdemokratie

Ich schreibe diesen Blogbeitrag auf der Terrasse des J. Paul Getty Museums mit Blick auf die Stadt der Engel, Los Angeles, und den Pazifik. Wie vor jeder Reise in die USA las ich Baudrillards Amerika, mein Surrogat für die hypnotisch redundanten ADAC-DUMONT-MARCOPOLO-Reiseführer. Darin schreibt er: „Wenn man zurückblickt, ist Europa einfach verschwunden“. So etwas konnte man noch 1986 behaupten, in einer Zeit vor der „Always-on-Gesellschaft“, einer Zeit ohne das „Jesusphone“. Mich jedenfalls erreicht Europa nach wie vor, weil ich nicht auf digitales Fasten umgestellt habe. Aber ich habe ja Baudrillard als Reiseführer. Für ihn ist „Amerika (…) ein gigantisches Hologramm, die Gesamtinformation ist in jedem Teilstück enthalten.“

Waffenverbot bei Starbucks

Schaue ich mir dieses Hologramm an, dann fällt mir Starbucks auf. Howard Schultz, CEO der bekannten Kette, schrieb einen offenen Brief. Darin unternahm er den Versuch, seine Kunden dazu zu überreden, beim Besuch des Kaffeerösters freiwillig auf das Tragen von Waffen zu verzichten.

Schultz weist darauf hin, dass Starbucks-Filialen schon immer als friedliche „Dritte Orte“ gedacht waren. Orte zwischen „Arbeit“ und „Zuhause“. Orte, an denen Gemeinschaft entstehen soll (Das klingt ein wenig nach dem Konzept der Dritten Räume à la Homi K. Bhabhas, ist wohl aber viel pragmatischer gemeint, so wie vieles hier). Zwar schreibt Schulz, dass er glaube, dass Waffengesetzte durch die Regierung erlassen werden sollen, gleichzeitig nimmt er aber deren Platz ein. Auch, wenn er es als Bitte und nicht als Bann formuliert. Die zahlreichen sprachlichen Windungen in seinem offenen Brief zeugen jedenfalls von der enormen Schwierigkeit, das Tabuthema Waffen in den USA öffentlich anzusprechen.

Dieser Akt erinnert mich stark an die These zur „Postdemokratie“, wie sie von Colin Crouch formuliert wurde (Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt a.M., 2008). Crouch sieht Demokratien, die sich nur am Rande für die aktive und umfassende Beteiligung ihrer Bürger interessieren. Er sieht demokratisch verfasste Nationalstaaten, in denen die Politiker selbst eine eher apathische Rolle einnehmen und in denen stattdessen die Signale gelingender Politik von Interessensvertretern der Wirtschaft sowie professionellen PR-Experten kommen.

Der offene Brief von Schultz ist möglicherweise ein Beispiel für die Annäherung der amerikanischen Gesellschaft an den „postdemokratischen Pol“. Ist es einfach nur Kalkül innerhalb einer Shareholder-Ökonomie, die Schultz zu diesem Brief veranlasste? Oder steckt dahinter die Einsicht, dass ein Waffenverbot von Seiten der Regierung niemals zu erwarten ist (wie unzählige Massaker in der Vergangenheit und die ritualisierten aber letztlich nutzlosen Proteste zeigen)?

In einer Demokratie, in der die Macht der Regierung begrenzt ist, liegt die demokratische Komponente vielleicht tatsächlich bei Kaffeehausbesitzern, die das entstandene Vakuum füllen. Einer Hilflosigkeit, die aus verkeiltem Lobbyismus entsteht, stellt sich der hemdsärmelige Aktivismus des Geschäftsmanns gegenüber. Gesellschaftliche Probleme, die immer wieder von der politischen Agenda verschwinden, tauchen plötzlich als Engagement im öffentlichen Raum auf. Der offene Brief von Schultz ist daher auch ein Beispiel für eine systematische Verzerrung politischen Handelns, das den Staat als apathisches Phantom deklassiert und gleichzeitig manipulatives und raffiniertes Marketing politisch auflädt.

Politische Vernunft wird durch den Sound der Überredung ersetzt. Ein Werbetext wird zu einem politischen Manifest. Eine Regierung ohne Selbstvertrauen in sich und ohne Vertrauen in die eigenen Bürger wird von einem Unternehmen überholt, das nach der Maxime der bestmöglichen Kundenbindung handelt. Colin Crouch kritisiert, dass moderne Staaten die Fähigkeit verloren hätten, zentrale Dinge zu erkennen und erfolgreich zu bewältigen. Der Umgang mit Waffen gehört in den USA sicher zu diesen „Dingen“. Im offenen Brief von Starbucks wird das großangelegte „Deregulierungsprojekt“ im Hologramm sichtbar, das aktuell den Namen „Postdemokratie“ trägt.

Spektakel im Supermarkt

Ich habe noch ein Beispiel für die sensorischen Verschiebungen im Hologramm. Hier, in Los Angeles, ist Armut brutal sichtbar. An einer Straßenecke, nur einen Steinwurf weit entfernt von den berühmten Paramount-Studios, liegt ein Mann, regungslos. Ich traue mich auch nach Stunden noch nicht, nachzusehen, ob er vielleicht tot ist. In den wenigen Parks campieren Wohnungslose. Fast jede Mülltonne wird nach Essbarem durchsucht. Zerlumpte, erschöpfte Menschen sitzen reglos unter Laternen. Schnell stellt sich die Frage: Was wird in diesem Land gegen Armut und Hunger getan?

Die Antwort: Nichts. Oder jedenfalls nicht viel Substantielles. Folgt man kritischen Aktivisten, wie dem New Yorker Anwalt Joel Berg (All you can eat. How hungry is America. New York, 2008), dann wird das Problem eher verniedlicht. Oder man setzt auf glorreiche Charity. Passend dazu Baudrillard in seiner Analyse der USA: „Die Politik befreit sich im Spektakel.“ Er knüpft mit dieser Aussage an das Werk von Guy Debord an (Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin, 1996). Der Philosoph und Künstler sah moderne Gesellschaften als eine „ungeheure Sammlung von Spektakeln“ an und nahm (bei näherem Hinsehen) die These der Postdemokratie schon vorweg.

Ein zeitgenössisches Beispiel für diese „befreienden Spektakel“sind die Foodbanks in Amerika. Hinter der Kasse des Supermarktes, bei dem ich gestern einkaufte, stapelten sich braune Papiertüten mit einer fetten, schwarzumrandeten Aufschrift: „Help us end hunger“. Für 10 US-Dollar konnten die Kunden dieses Supermarktes Tüten mit Lebensmittel kaufen und in eine Box neben dem Eingang werfen. Die Tüten, so wurde versprochen, würden bei einer „local foodbank“ abgegeben. Das ist so etwas Ähnliches wie eine „Tafel“ in Deutschland.

Auf der Tüte las ich den Spruch „Sponsored in part by“. Dahinter die Logos zahlreicher Unternehmen (vgl. Foto). Auch das passt sehr gut zur Postdemokratie-These von Crouch: „Der Wohlfahrtsstaat wird bis auf ein Minimum abgebaut, es geht nur noch um Hilfe für die Armen und nicht länger darum, staatsbürgerliche Teilhaberechte für alle sicherzustellen“ (….) Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn (…) zu einem Selbstbedienungsladen machen.“ Die Logos auf den Tüten zeigen, dass die Armutsökonomie in den USA längst blüht. Nach außen hin sieht es aus, wie eine karitative Initiative. Tatsächlich aber verdienen die Firmen, die diese Tüten „zum Teil unterstützen“ sehr gut an der wachsenden Armut.

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Am Puls der Zeit

Es gibt weit mehr Perspektiven auf das amerikanische Hologramm, als ich sie hier ausbreiten kann. Jeder Blick ist hier eine soziologische Perspektive wert. Wer reisend unterwegs ist, hat es dabei einfacher, denn die (kulturelle) Distanz schafft eine bessere Beobachterposition. In Los Angeles braucht man für diese Beobachtung und eine „Soziologie im Außendienst“ vor allem eines: ein Auto. Dazu nochmals Baudrillard: „Es geht darum zu fahren, um mehr über diese Gesellschaft als durch alle wissenschaftlichen Disziplinen zu erfahren. (…) Legen Sie zehntausend Meilen quer durch Amerika zurück und Sie werden mehr über das Land wissen als alle soziologischen und politikwissenschaftlichen Institute zusammen.“ Ich habe noch ein paar Tage Zeit, das zu berücksichtigen.

Und er gibt mir auch gleich einen provokanten Hinweis darauf, wie eine „Öffentliche Soziologie“ aussehen könnte, die Themen am Puls der Zeit aufgreift. Auch wenn seine USA-Reise in den 1980er nicht restlos auf unsere Verhältnisse übertragbar ist, so stimmt es doch nachdenklich, wenn der französische Intellektuelle schreibt: „Während die anderen ihre Zeit in den Bibliotheken zubringen, gehe ich in die Wüste und auf die Straße. Während die anderen ihren Stoff aus der Ideengeschichte ziehen, ziehe ich meinen aus der Aktualität.“