Haltung

Ich wünsche zunächst allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein frohes und wunschgerechtes neues Jahr 2014! Zu Beginn des neuen Jahres möchte ich in diesem vorletzten Beitrag kurz das Thema „Haltung“ ansprechen. Zwar wissen wir seit Katja Kullmanns autobiografischem Buch Echtleben, dass es heute recht kompliziert ist, „eine Haltung“ zu haben. Doch was ist das, „Haltung“?

Es hat etwas mit Authentizität zu tun, sagt Kullmann. Und fragt sogleich, ob wir die uns überhaupt leisten können. Wer authentisch ist, befinde sich dauerhaft in einer wahrnehmbaren Übereinstimmung mit den eigenen Werten und Prioritäten – auch gegen äußere Widerstände. Sagen Psychologen. Wir können kein anderes als das eigene Leben führen, sagen (radikalsubjektivistische) Philosophen. Diese Form der Authentizität ist nicht nur im Leben Mangelware, sondern auch in der Welt der Wissenschaft. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich daher ein paar zwischenzeitlich gesammelte Aussagen von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen vorstellen, die das Thema einkreisen. Das kann nicht viel mehr sein, als eine Anregung.

Nur wenige ziehen die scheinbar unverrückbare Maxime des Werturteilspostulats in Zweifel. Der Philosoph und Ökonom Hartmut Klimmt (Frankfurt School of Finance & Management) gehört sicher nicht dazu. Er lästert (in einer Zeitungs-Werbebeilage für den Forschungsstandort Rheinland-Pfalz, Saarland und Hessen) über die „andere Frankfurter Schule“, die ethische Fragen nicht nur offenlegt, sondern auch gerne vorentscheidet. Dabei postuliert er (ganz im Sinne Webers): „Auch in und nach der Finanzkrise kommt es an einer wissenschaftlichen Hochschule darauf an, unsere persönlichen Wertanliegen gleichsam in der Dorfkirche der Wissenschaft zu lassen. Die eigentliche Messe wird auf dem Forum wertfreier wissenschaftlicher Analyse gelesen.“ Was aber, wenn die Form der Messe dauerhafte Haltungsschäden verursacht? Vor allem bei denen, die die Messe nicht lesen, sondern ihr zuhören?

Ganz konträr argumentiert der Ökonom Tomás Sedlacek in Die Ökonomie von Gut und Böse. Er weist darauf hin, dass seine Wissenschaft keine neutrale Messe zelebriert, sondern sich überwiegend auf normativem Gebiet befindet: „Sie beschreibt die Welt nicht nur, sondern sie befasst sich auch häufig damit, wie die Welt sein sollte. Es ist paradox, dass ein Gebiet, das sich überwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will.“

Und dennoch gilt Wertfreiheit immer noch als das zentrale Kriterium „guter“ Wissenschaft. Je größer dabei die Wahrscheinlichkeit ist, dass auch die Öffentlichkeit etwas von den Themen der Wissenschaft versteht, desto wahrscheinlicher tritt sozial verordnete Haltungskeuschheit auf. Dieses Spannungsfeld macht der Klimaforscher Hans Joachim Schellhuber deutlich: „Einerseits forschen wir beharrlich im Sinne objektiver Problemanalyse, gleichzeitig sehen wir unsere gesellschaftliche Verantwortung. Nach all dem, was wir wissen, können wir nicht einfach schweigen, bis völlige Sicherheit über die Entwicklung erzielt wurde, aber es zum Gegensteuern zu spät ist.“ Einer der wenigen, die das Keuschheitsgelübde abgelegt haben. Nicht aber gleichzeitig den Verstand, wie das von den Anwälten der Werturteilsfreiheit gerne unterstellt wird.

Um zu zeigen, wie sehr die vermeintliche Objektivität eines „wertfreien“ Standpunktes (wissenschaftlich, unparteiisch, ehrlich) prinzipiell an Hybris grenzt, darf hier der Kommunikationswissenschaftler Vilèm Flusser zu Wort kommen: „Im Grunde heißt dies, den Menschen doch wie Gott werden zu lassen, nämlich ‚über der Welt stehend’.“ Das gilt auch für die ganz großen Fragen. Deshalb hat sich der Philosoph Sam Harris sicher nicht nur Freunde gemacht, als er feststellte: „Kontroversen über moralische Werte sind Kontroversen, zu denen die Wissenschaft offiziell keine Meinung hat. Ich halte das für grundfalsch.“

Die Frage nach der Authentizität beginnt schon sehr früh, etwa mit der Frage nach der persönlichen Themenwahl, die schließlich nicht zufallsgesteuert erfolgt. Der Soziologe David Lyon bekennt sich dazu, dass in seine Forschungsthemen immer schon eine „Haltung“ eingeht. „Sich zu persönlichen Überzeugungen zu bekennen, mag unter Soziologen und Historikern unüblich sein, aber natürlich spielen diese doch immer eine Rolle, zumindest eine hintergründige. Sie lassen sich nicht beweisen (was immer das heißt), sind aber stets Voraussetzungen unserer Arbeit. Wir alle stützen uns, ob wir wollen oder nicht, auf solche vortheoretischen Annahmen. (…) Ich erwähne das hier, weil mir solche persönlichen Überzeugungen für Gesellschaftsanalyse und Geschichtsschreibung fruchtbar zu sein scheinen.“

Beharren auf Neutralität und Werturteilsfreiheit sowie das gleichzeitige Ausklammern „vortheoretischer Annahmen“ bzw. der eigenen „Haltung“ sind Teile einer großen Illusionsmaschinerie und enden oft genug in persönlicher Selbstsabotage. Wenn die Soziologie nicht nur eine Schönwetterdisziplin sein soll, dann sollte die Ausbildung (nicht Vorgabe) einer „Haltung“ mit zum disziplinären Handwerkszeug gehören. Mir wären Soziologen mit „Haltung“ lieber, als solche, die sich dauerhaft in gehemmten Strukturen ducken und anpassen.

Hans-Peter Müller zählte vor Jahren in seinem Beitrag Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos? drei Typen von Soziologen auf: Hüter, Wächter und Kritiker. Wenn die Kluft zwischen Realität und Ideal zu groß wird, braucht es Soziologen, die mit „Haltung“ darauf hinweisen. Aber die Rolle des Kritikers, des dritten Typs, passt nicht auf alle. Müller machte eine Unterscheidung, über die viel zu wenig diskutiert wird, die Abhängigkeit der jeweiligen soziologischen Arbeitsweise und Ausrichtung von der eigenen Persönlichkeit. „Diese drei Funktionen werden wahrgenommen, aber nicht von allen“, befand er, „nicht jeder eignet sich zum Blockwart der Gesellschaft.“

Betrachtet man Wissenschaft als kulturelles Phänomen (wie es z.B. Sjaak von der Geest in seiner Antrittsrede an der Universiteit van Amstersdam getan hat), dann fällt vor allem der Hochmut und das Dogmatische auf, der mit dem Haltungsverbot einhergeht. Das Werturteilspostulat ist nichts anderes als eine Grenzmarkierung, die man auch überschreiten kann. Die Grenze ist markiert mit Etikette, Machtritualen und Tabus. Wer „Haltung“ zeigt, kann den sicheren Boden seiner heimatlichen Disziplin verlassen. Denn nur mit disziplinierter Disziplinlosigkeit lässt sich die prinzipielle Geringschätzung für alles außerhalb des eigenen Fachgebiets und auch für alles Außerwissenschaftliche überwinden. „Haltung“ ist immer noch gutes Navi für Expeditionen außerhalb des eigenen, normativen Hoheitsgebiets. Und soviel Authentizität sollten wir uns einfach leisten.

6 Gedanken zu „Haltung“

  1. Lieber Herr Selke,

    vielen Dank für den interessanten Bloggbeitrag, dem ich in der Sache zustimme. Allerdings bin ich skeptisch, was eine Begründung des Werturteils qua „Haltung“ angeht. Will man sich wirklich auf die romantische Idee von Selbstverwirklichung und Authentizität berufen, wenn man ein Werturteil ausspricht? Wenn man die authentische Subjektivität zum Kern des Urteils macht, muss man mit der Antwort rechnen: Schön für Sie und Ihre „Haltung“ – aber warum sollte ICH mich darum schweren?
    Dabei gibt es genügend Entwicklungen in der Wissenschaftstheorie, die eine rigorose Trennung des Status von Fakten und Werten fraglich erscheinen lassen und gute Gründe für ein wissenschaftlich fundiertes Werturteil liefern; ich denke da insbesondere an Hillary Putnam und Richard Rorty. Denn mit Authentizität ist den Vertretern der scheinbaren Objektivität nicht beizukommen, man muss Sie auf eigenem Terrain schlagen und den häufig verfochtenen, naiven Empirismus angreifen. Wenn man dies aus voller Überzeugung tut: umso besser!

    P.S.: Der Ökonom der Frankfurt School heißt übrigens „Kliemt“, vielleicht kann man das ja nachbessern.

  2. Danke zunächst für den Hinweis auf den Tippfehler – ein Beispiel dafür, in welcher selbstverschuldeten Abhängigkeit von Technik wir inzwischen leben. Ich habe nicht bemerkt, wie meine automatische Rechtschreibkorrektur sich verselbständigte.

    Ich wollte mit dem Beitrag überhaupt keine Gleichsetzung von Haltung und Authentizität beanspruchen. Aber natürlich haben Sie Recht, das könnte als Naivität ausgelegt werden. Mir ging es auch nicht um die „Begründung des Werturteils“ qua Haltung, sondern zunächst einmal darum, eine alternative Haltung zum Thema des Werturteils anzusprechen. Meine Erfahrung ist ist, dass es eben zu wenig an Alternativen gedacht wird. Ist man aber bereit dafür, gibt es sicher spannende – wie die von Ihnen benannten – Autoren und Konzepte.

  3. Mir ist noch nicht so richtig klar, von welcher Haltung hier die Rede ist. Wäre es nicht sinnvoll zwischen wissenschaftlicher, politischer und moralischer Haltung zu unterscheiden? Die Forderung nach Werturteilsfreiheit reagierte doch auf das Problem, dass wissenschaftliche Forschung durch politische oder moralischer Haltungen motiviert waren. Werturteilsfreiheit, wort-wörtlich verstanden, ist sicherlich unerreichbar. Aber nichts desto trotz kann man sich doch zumindest bemühen danach zu streben, in dem man versucht sich bei der Arbeit soweit wie möglich zurückzunehmen. Die Lösung kann ja nicht in einem radikalen Subjektivismus bestehen. Dann bräuchte man auch keine Wissenschaft mehr. Besteht bei einer Aufgabe des Haltungsverbots nicht sogar die Gefahr, dass es noch viel hochmütiger und dogmatischer zugeht. Denn gerade wenn man die eigenen Grenzen bzw. die Kriterien der Selbstidentifizierung aufgibt, stellt sich die Identitätsfrage in viel verschärfterer Form, der man dann eigentlich nur noch mit Dogmatismus begegenen kann.

    Wie stellen Sie sich diese Grenzüberschreitungen vor, von denen Sie schreiben? Hier bin ich leider etwas ratlos, was gemeint sein könnte.

  4. Haltung scheint mir eben KEIN Begriff zu sein, höchstens ein Platzhalter für eine hochkomplexe Sach- und Gemenge-Lage. Es zeigt sich eben auch hier immer wieder ganz deutlich (und aus-deutbar);

    Zeichen be-zeichnen eben nix – Nur längere Kontexte aus bewährten Semantiken sind halbwegs in der Lage, etwas Konkretes im Beobachteten und Gesagten als zählendes Erzähltes erkennen zu lassen – aber immer irgendwie eingeschränkt!

  5. Für jede Form der Erkenntnis nehmen wir einen Standpunkt ein. Und dieser kann weder Theorie-frei noch Wert-frei sein. Wie soll das gehen? Es scheint mir sogar mehr als fraglich, ob eine Beobachtung möglich ist, ohne das Beobachtete zu beeinflussen; jedenfalls wird es ja durch die Art der Beobachtung in eine Form gepresst, in ein Modell, ein Schema. Diese „Unschärfe“ scheint eine Eigenschaft des Denkens zu sein. Es ist auch schwer vorstellbar, dass sich der Vorgang der Beobachtung völlig trennen lässt, von dem, was „Persönlichkeit“ genannt wird. Anstatt also immerfort zu versuchen, neutral zu sein, könnte man den Beobachter immer mit beobachten und beschreiben. Das heißt: eine vollständigere Beschreibung wäre die, welche die normativen Prämissen, die zu Grunde liegenden Werte, die persönliche Verstrickung einer wissenschaftlichen Arbeit offen legt.
    Wenn Werturteilsfreiheit etwas sinnvolles bedeuten soll, dann kann das meines Erachtens genau nicht der „neutrale“ Beobachter sein, sondern derjenige, der seine eigene Verstrickung reflektiert und offenlegt.

  6. „Schreib“, sagte mein Gefährte, der Historiker und Gelehrte, „schreib! Es ist ein Luxus heutzutage, eine eigene Meinung zu haben.“

    Schreiben Sie weiter, sehr geehrter Herr Selke! Ich habe Ihre Beiträge mit Vergnügen gelesen.

    Alles Gute und beste Grüße

    Anna

Kommentare sind geschlossen.