Soziologie und Recht

Die Soziologie sollte die Probleme anpacken, die tatsächlich „vor unseren Füßen liegen“ (Hans Paul Bahrdt, sic!). Am 2.5. lese ich in der Süddeutschen Zeitung einen sehr interessanten, gesellschaftsanalytisch heraus fordernden Text! Unter der Überschrift „Sieg über das Gesetz“ beschreibt der Journalist Andreas Zielcke einen anhaltenden Zerfallsprozeß der internationelen Rechtsordnung und eine sich verschärfende Erosion demokratischer Souveränität. Ein Wandel, so Zielcke, „der das Recht modernisiert und zugleich entstellt“. Das Recht als formative und formierte Kraft des Sozialen zerfällt von innen her – so die überzeugend vorgetragene These.

Die Beispiele sind zahlreich: Nehmen wir auf internationaler Ebene den Bruch des Völkerrechts durch Russland oder schauen wir auf die Rechtsform der Investitionsschutzabkommen. Alleine die Bundesrepublik hat bislang rund 130 solcher bilateralen oder multilateralen Abkommen geschlossen. In diesen Abkommen erhält der ausländische Investor die Garantie, dass günstigere rechtliche Standards für ihn Bestandschutz genießen. Egal, was der demokratische Souverän im jeweiligen Land (dem Investitionsstandort) beschließen mag.Der vertragsschließende Staat streckt die Waffen – insbesondere im Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitsrecht. So kommt es dazu, dass Vattenfall die Bundesrepublik Deutschland wegen des Atomausstiegs auf vier Milliarden Euro verklagen kann.

Und die Klagen? Die werden nicht vor einem Gericht verhandelt, sondern vor Schiedsgerichten, die mit Fachanwälten besetzt sind. Zielcke betont in der Süddeutschen Zeitung zu Recht, dass auf diese Weise alles das, was wir unter Rechtsstaat verstehen – Transparenz des Rechts, Überprüfbarkeit rechtlicher Urteile, Unabhängigkeit der Justiz – ad absurdum geführt wird. Und innerstaatlich? Wir sehen nicht nur international eine Erosion der Rechtsverwirklichung, wir erleben auch im nationalen Rahmen des Rechtsstaats eine Politisierung des Rechts, eine Indienstnahme von Recht und Gerichten durch eine politische Öffentlichkeit, die ihre Urteile gerichtlich beglaubigt sehen möchte.

Haben wir in der Soziologie noch einen Begriff von Recht, einen Begriff, der über systemtheoretische Fingerübungen hinausgeht und die angesprochenen Probleme zu bewerten versteht? Von Weber über Durkheim bis Schelsky war klar, dass das Recht das Bauprinzip (nicht nur) moderner Gesellschaften ist. Luhmann spricht von der „allgegenwärtigen Hintergründigkeit des Rechts“.

Sind wir in der Soziologie heute nicht stärker denn je gefordert, Gesellschaft vom Recht her zu denken? Gerade in Zeiten, in denen Gesellschaften ihrer rechtsstaatlichen Grundlagen immer weniger sicher sein können? Denken vom Recht her – das hat einige gesellschaftsanalytische Vorteile.

Wer vom Recht her denkt, der bekommt erstens die normative Seite sozialer Ordnung in den Blick. Ohne normativen Rechtsbezug und ohne Rechtsverwirklichung bleiben die soziologisch beliebten Begriffe der Teilhabe, der Integration, der Solidarität leere Worte – das ist die Durkheim-Welt des soziologischen Nachdenkens über das Recht. Vom Recht her denken heißt zweitens, die Privilegien- und Statusordnung der Gesellschaft in den Blick zu nehmen: welche Art von Gleichheit, von Fairness werden in der Arbeitswelt, in den familiären Lebenswirklichkeiten oder in der Ordnung der Märkte hergestellt, ermöglicht und garantiert? Rechtsverhältnisse ordnen Status und Position, Titel und Stelle – das ist die Weber-Welt des soziologischen Nachdenkens über das Recht. Und vom Recht her denken bedeutet drittens, dass das Recht als Handlungsweise und Interesse sichtbar wird. Handelnde Personen treten auf, in ihrem Professionsverständnis, in ihrer „Generationenlagerung“, in ihrer sozialen Laufbahn und Herkunft: als Richterinnen und Richter, als Anwälte in law firms oder Justitiare in Betrieben und Gewerkschaften. Recht bildet einen spezifischen Habitus aus  – das ist die Bourdieu-Welt des soziologischen Nachdenkens über das Recht. Und, viertens: Vom Recht her denken ermöglicht es, zumindest ein Gefühl, eine Ahnung oder sogar ein Bewusstsein von den Hinterbühnen, den Grauzonen und den Illegalitäten des gesellschaftlichen Lebens zu bekommen – dort, wo Sozialforschung in der Regel nicht stattfindet.

3 Gedanken zu „Soziologie und Recht“

  1. Lieber Herr Vogel,

    die Gesellschaft vom Recht her zu denken, ist eine schöne Figur – nur, was soll das denn bedeuten? Warum vom Recht her? Wärs nicht auch schön, die Gesellschaft von der Ökonomie her zu denken? Gibt’s auch. Oder vielleicht von der Politik her? Ist die vielleicht verbreitetste Form. Denkbar wäre es aber auch, sie von der Religion her zu denken, oder vielleicht von der Wissenschaft her? Wäre Cicero Soziologe gewesen, er hätte sie von der Freundschaft her gedacht. All das kann man machen, in literarisch mehr oder weniger ansprechender Form, aber ist das soziologisch gehaltvoll?

    Sie bringen mehrere Beispiele und Fälle, die eine Unterminierung rechtlicher/rechsstaatlicher Standards/Regeln ansprechen. Dass es diese gibt, muss nicht besonders verargumentiert werden – das ist unbestritten.
    Was wollen Sie aber in den angedeuteten Fällen erreichen? Darauf hinweisen, dass in der Gesellschaft Möglichkeiten entstehen, gegen Rechtsstandards handeln zu können? Und dann die Gesellschaft vom Recht her denken, um das Recht durchzusetzen? Das klingt ein bißchen so, als wolle man Kriminalität am besten damit zu bekämpfen, sie zu verbieten – das ist, wie wir wissen, schon versucht worden.

    Was nötig wäre, ist das Gegenteil davon, die Gesellschaft vom Recht her zu denken. Nur wenn man das Recht von der Gesellschaft her denkt, kann man sich einen Eindruck davon erwirtschaften, warum es möglich ist, dass in der Gesellschaft gegen Rechtsnormen verstoßen wird, dass aus politischen Gründen das Recht gebeugt wird und dass Leute in der Lage sind, klug statt tugendhaft zu sein.

    Vielleicht braucht es dafür wenigstens eine Ahnung davon, was das Recht denn macht. Allein die Tatsache, dass Sie das beklagen können, wie Sie es in ihrem Beitrag tun, setzt doch bereits voraus, dass Rechtsnormen offensichtlich gelten. Normen sind ja nicht einfach Regeln, an die wir uns halten, denn wenn wir uns an sie halten, brauchts ja keine Normen. Normen treten doch erst dann in Erscheinung, wenn sie weiter gelten, obwohl Erwartungen enttäuscht werden. Wenn ich auf der Autobahn 120 km/h fahren darf, aber 160 km/h fahre, wird dadurch ja nicht die Norm außer Kraft gesetzt. Normen, insbesondere Rechtsnormen sind enttäuschungsstabil, d.h. sie nehmen einen normativen Erwartungsmodus in Anspruch, der auch bei Übertretung der Norm an der Norm festhält. Das ist ein Mechanismus, der in anderen bereichen der Gesellschaft nicht gilt. Einer wissenschaftlichen Wahrheit zum Beispiel sollte doch eher mit einem kognitiven Erwartungsstil begegnet werden – warum sonst mache ich mir hier die Mühe, Argumente zu formulieren?

    Aber d kann man nur sehen, wenn man das Recht von der Gesellschaft her denkt – also von seiner Funktion und seiner Leistung für die Gesellschaft her und nicht die Gesellschaft vom Recht her. Man kann ja die Abweichung von der alltäglichen common sense-Evidenz gerne als „Fingerübung“ bezeichnen – aber die simpelsten empirischen Evidenzen sollte man doch zu registrieren in der Lage sein. Wenn man die Gesellschaft vom Recht her denkt, dann müsste doch das meiste, was Gesellschaften ausmacht, gar nicht auf dem Bildschirm Ihrer Beobachtung auftauchen können. Zum Beispiel wäre das eine Gesellschaft, die Lernen ausschließt, weil alles über normative Erwartungsstile fundiert werden müsste. Es wäre auch eine Gesellschaft, die Intimität oder religiöses Erleben, auch ökonomische Kreativität irgendwie als Anomalie behandeln müsste.

    Sicher werden Sie nun entgegnen, dass es auch in Schulen und Universitäten, in Familien bzw. Liebesverhältnissen, in Kirchen oder in Unternehmen so etwas wie rechtlich geregelte Beziehungen bzw. Erwartungen geben kann und geben muss. Ja, das stimmt – nur gibt es das eben auch, neben Vielem anderen. Denn rechtlich regulieren muss man z.B. ökonomische Transaktionen deshalb, weil diese keine rechtlichen Operationen sind – und deshalb ist es so attraktiv, sich den Normen zu entziehen, etwa um des ökonomischen Gewinns willen. Das ist ebenso schlimm wie erwartbar – und mit einem kognitiven Erwartungsstil kann man lernen, unter welchen Bedingungen solches Verhalten wahrscheinlicher ist. Mit einem normativen Erwartungsstil kann man nur klagen. Und sehen kann man das aber nur, wenn man das Recht von der Gesellschaft her denkt und nicht umgekehrt.

    Ist das nicht das, was die Soziologie von den Reflexionstheorien der unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen unterscheidet? Dass wir deren unterschiedliche Mechanismen nicht absolut setzen, sondern ihr Zusammen- und Gegenspiel in den Blick nehmen, unterscheidet uns dann doch von diesen – aber dann muss man sich schon zumuten können, dass es unterschiedliche Formen der Ordnungsbildung innerhalb der Gesellschaft gibt – vielleicht ist das sogar das Grundcharakteristikum der Gesellschaft, die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem. Und wenn Sie Max Weber oder Durkheim in Anspruch nehmen für Ihr Argument, wird es noch unverständlicher, denn beide haben der Soziologie beigebracht, dass die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ordnungslogiken das ist, was gesellschaftliche/kulturelle Dynamiken ausmacht.

    Sie erzeugen einen merkwürdigen performativen Widerspruch, wenn Sie das Recht in Ihrem Argument einerseits enttäuschungssicher machen (sonst würden Sie ja nicht an der Geltung trotz Übertretung festhalten), es also von seiner gesellschaftlichen Funktion her beobachten, zugleich aber die Gesellschaft vom Recht her begreifen wollen. Das passt schon aus logischen Gründen nicht zusammen – und aus empirischen auch nicht, denn all die Dinge, die Sie zur Erforschung am Ende Ihres Beitrages vorschlagen, könnten angemessen nur ansichtig werden, wenn man das Recht in seiner gesellschaftlichen Funktion betrachtet.

    Ich fürchte, Sie werden dies für eine Fingerübung halten – nur, Fingerübungen sind die Grundbedingung dafür, an den Begriffen testen zu können, was sich ändert, wenn man etwas an den Begriffen ändert. Wenn man das nicht tut, dann sieht man nur den common sense – insofern ist das, was „vor unseren Füßen liegt“, womöglich nur eine Chiffre fürs Triviale. Interessanter wärs doch, anders hinzuschauen als all die, die auch ohne Soziologie schauen (was übrigens beileibe nicht für den wunderbaren Andreas Zielcke gilt!). Dann bleibt am Ende nur, dass man wirklich nicht widersprechen kann, wenn Sie sagen, dass der Rechtsstaat und seine Bedingungen wichtig sind – dieser Zuspruch ist leicht erwirtschaftet!

    Spannenderweise wird die Wichtigkeit des Rechtsstaatlichen übrigens nicht einmal von denen bezweifelt, die die Standards umgehen wollen – denn gerade sie profitieren davon, dass die Erwartungsstile normativ sind – und damit die Regeln für die anderen gelten, während sie sie brechen. Die Übertreter reagieren eher kognitiv, also lernbereit – das sollten wir auch.

    Herzliche Grüße
    Armin Nassehi

    1. Lieber Herr Nassehi,
      prima! Schön, dass Sie mit so viel Energie auf meinen Einwurf reagieren. Mein Beitrag ist ja vor allem eine (von Ihnen so viel zitierte) Fingerübung, zu der mich die Lektüre des interessanten Textes aus der Süddeutschen Zeitung angeregt hat.
      Wobei Ihre Energie an mancher Stelle verschwendet ist, denn mein Beitrags erregt sich ja weder über Rechtsverstöße, noch ist er die Idee zu einem Forschungsprogramm, im Sinne von: Wir denken nun die Gesellschaft vom Recht her, bedienen uns der Klassiker (Weber, Durkheim), würzen das mit einem Schuss Alltagsevidenz und vertreten dann die These, dass uns der Rechtsstaat abhanden kommt. Mit so kleinen Brötchen stelle ich mich gewiss nicht auf den Marktplatz.
      Der Hintergrund meines Einwurfs ist das Unbehagen, dass uns nach meinem Dafürhalten in der Soziologie der Begriff des Rechts abhanden gekommen ist, und dass wir aufgrund dieses Verlustes zeitdiagnostisch einiges verpassen. Dieses Unbehagen können Ihre Zeilen kaum beheben. Denn jenseits Ihrer freundlichen Polemik geben Sie mir keine Antwort, was es heißt, sich soziologisch einen Begriff vom Recht zu machen. Ihr Vorschlag scheint zu sein, die Figur umzukehren, also: das Recht von der Gesellschaft her zu denken. Einverstanden. Es wäre auch schön, die Ökonomie, die Politik oder die Freundschaft von der Gesellschaft her zu denken! Ich nehme das alles gerne zur Kenntnis, freue mich an Ihrem Beitrag, aber wie weiter?
      In Fortführung unserer Diskussion scheinen mir mindestens zwei Dinge doch interessant zu sein. Erstens: im Recht als Institution, als Prozess und als Verwirklichung gesellschaftlicher Interessen steckt Spannung und Konflikt – wir sehen auf der einen Seite die formative Kraft des Rechts, die nicht alleine auf dessen Funktionalität zu reduzieren ist; und wir sehen auf der anderen Seite die durch gesellschaftliche Ideen, Interessen und Institutionen formierte Gestalt des Rechts. Formative Kraft und formierte Gestalt – da könnte man doch etwas daraus machen. Jedenfalls könnte man mehr daraus machen als darauf hinzuweisen, dass (Rechts)Normen auch dann ihre Geltung nicht verlieren, wenn man sie nicht beachtet. Ein – um ihre Formulierung zu verwenden – leicht erwirtschafteter Gedanke! Zweitens: Das Recht scheint in Ihrer Argumentation ja einfach da zu sein – „es“ (das Recht) bildet eine Ordnung neben anderen, es ist – so behaupten Sie – „enttäuschungsstabil“ und ganz sicher auch funktional. Schön, und tolle Sache, dieses Recht. Aber: Wer trägt das Recht? Wer repräsentiert es? Wer verändert es? Wer geht Konflikte für oder gegen spezifische Rechtsnormen ein? Das Recht ist ja keine blutleere Veranstaltung, das zeigt ja gerade der Text von Andreas Zielcke in der Süddeutschen Zeitung! Diese Konfliktfelder der Rechtspraxis, der Rechtsverwirklichung und der Rechtsvermeidung soziologisch sichtbar zu machen, das wäre aus meiner Sicht keineswegs so trivial, wie Sie das offensichtlich vermuten.
      Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Stellungnahme, denn es wäre tatsächlich prima, in dieser Debatte weiter zu kommen. Entgegen Ihrer Vermutung empfehle ich daher: Immer weiter mit den Fingerübungen ;-)! Das fördert jedenfalls bei Klavierspielern die Geläufigkeit der rechten wie der linken Hand – Carl Czerny ist hier der Referenzpunkt!
      Beste Grüße
      Berthold Vogel

  2. Danke Herr Nassehi für Ihren Kommentar! Die Gesellschaft „vom Recht her denken“… ist das nicht im ganz im Sinne der Rechtspositivsten? Auch die NS-Ideologen hätten nichts dagegen gehab, die Gesellschaft vom Recht her zu denken. Die Frage ist bloß, wer das Recht setzt…

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