Verfügen öffentliche Güter über eine Klassenbasis, eine soziale Trägerschaft? Es ist vor allen Dingen die Mittelklasse, die ein Interesse an der Verfügbarkeit öffentlicher Güter, Institutionen und Infrastrukturen hat. In doppelter Hinsicht:
Zum einen erweitern öffentliche Güter die Ressourcen der Mittelklasse und erhöhen deutlich das Wohlstandsniveau. Eine Politik des Ausbaus öffentlicher Güter vermehrt den Zugang zu kollektiv verfügbarem Wohlstand – vom öffentlichen Schwimmbad über den Stadtpark bis zur Konzerthalle.
Zum anderen: öffentliche Güter bieten berufliche Perspektiven und Erwerbschancen. Vom Ausbau des Bildungswesens, der Krankenhäuser, der Wohlfahrtspflege, der Stromnetze, der Verwaltung usw., usf. profitieren die gut Ausgebildeten, die im kommunalen, staatlichen, aber auch in dem von öffentlichen Aufträgen abhängigen Privatsektor arbeiten. Der Ausbau öffentlicher Güter ist ein Expansions- und Wohlstandsvermehrungsprogramm für eine breite und differenzierte Mittelschicht!
Und so verwundert es auch nicht, dass sich weltweit die Konflikte einer jungen, gut ausgebildeten Mittelklasse an der Qualität öffentlicher Güter und an deren Ungleichverteilung entzünden. Die Türkei und insbesondere Brasilien sind in diesen Tagen sehr gute Beispiele …
Recht und Soziologie
Verantwortung und Haftung für Strukturen
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jecken (Kostümierungsfans),
da ich kein Lehrbeamter bin, der u.a. für die Produktion von Texten ein Pauschalhonorar erhält, und auch keine literarischen Ambitionen habe, habe ich lange gezögert, vor der Veröffentlichung meines Büchleins „Das Geheimnis der Smartphone-Affen. Die Soziologie des Unbewussten“ einen Kommentar abzugeben.
Aber warum sollte ich das Thema „Recht und Soziologie“ nicht zum Anlass nehmen, den möglichen Umgang einer Struktursoziologie mit dem Thema anzudeuten.
Ihr Gespräch über das Thema hat mich eher gelangweilt und mir wieder einmal gezeigt, in welchem Dilemma die Soziologie steckt.
„Die Soziologie ist abgestürzt wie ein Computer …“ (Wagner). Zwei Versuche, sie zu retten, verdeutlichen noch einmal, dass es sich um zwei Sackgassen ohne Ausweg handelt. Daran ändert auch das engagierte aneinander vorbei Reden nichts.
Einerseits die komplexitätsverliebte Systemtheorie mit ihrem literarisch anspruchsvollen konstruktivistischen Relativismus und andererseits der Hinweis auf Hans Paul Bahrdt, der immerhin noch „altmodisch“ Soziologie begreift, und Institutionen, Strukturen einen prominenten Platz theoretisch zuweist, jenseits systemtheoretischer Auflösungen. Sein Ansatz bleibt allerdings auch, wie alle Varianten des „methodologischen Individualismus“ und der interpretativen Soziologie, in der intersubjektivistischen Verkürzung soziologischer Themen stecken. Aus „Schlüsselbegriffe der Soziologie“: „Es liegt hier noch nicht eine Struktur vor, welche die Gesellschaft selbst hat, nämlich eine, die Gesellschaft selbst durch Verhalten und Handeln der Individuen immer wieder HERVORBRINGT (Herv.GAS).“ (S.108/109)
1979 habe ich mich für den Wechsel von der marxistisch dominierten Fakultät der FU Berlin zu Luhmann nach Bielefeld entschieden. Das habe ich nie bereut, obwohl ich damals selber marxistisch angehaucht war. Ich fasziniert von seiner genialen Relativierung der naiven, dogmatischen Versionen innerhalb der Soziologie.
Daraus hat sich leider bei den Epigonen ein fataler Relativismus entwickelt, der verheerende gesellschaftliche und soziologisch-wissenschaftliche Auswirkungen hat. Die Verantwortung für Strukturen und strategische Resultate ist theoretisch nachvollziehbar auf beiden Ebenen abhandengekommen.
Philosophisch und logisch werden der radikale Konstruktivismus und seine Konsequenzen zu Recht mit dem „Neuen ontologischen Realismus“ konfrontiert. Ich kann mich nur dem Philosophen Markus Gabriel anschließen, der in seinem Nachwort zu Boghossians „Angst vor der Wahrheit“ feststellt:
„Boghossians Buch zeigt in einem eleganten Aufriss, warum der Relativismus in der Form des Sozialkonstruktivismus und des epistemischen Relativismus so unhaltbar ist, dass er sich nur hinter aufgeblasener Rhetorik verbergen konnte.“ (Boghossian: 141)
Deshalb werde ich mich nicht zu Details ihrer Erörterungen äußern, sondern mich auf einen Hinweis zu meinem Thema „methodologische und theoretische Grundlagen der Soziologie“ beschränken.
Wichtig und heute unüblich ist es, schlicht noch einmal die WESENTLICHE Frage zu stellen (Theorie) und festzulegen WIE (Methodologie) sie SOZIOLOGISCH-wissenschaftlich beantwortet werden kann.
Wie könnte eine methodologische Grundlage für eine eigenständige, wissenschaftliche Soziologie aussehen, jenseits des „methodologischen Individualismus“, der interpretativen Soziologie und des systemtheoretischen Sozialkonstruktivismus?
Mein Angebot: Der methodologische Strukturalismus
„Was also sind Strukturen, soziologisch-idealtypisch begriffen?
1.) Es sind auf verschiedenen, emergenten Ebenen durch Relationierung entstandene Realitäten, die die VERTEILUNG und damit die Wahrscheinlichkeit individuellen Verhaltens (nicht das konkrete, individuelle Verhalten) auf der Basis primär unbewusster Prozesse determinieren. Sie bestimmen die relative Stabilität sozialer Ordnungen und die Möglichkeiten des Wandels durch abweichendes Verhalten. Es handelt sich um ontologische Realitäten „sui generis“, die sichtbar sein können im Falle z.B. von Gesetzen, Organisationsstrukturen, Verfassungen, Büchern, Eheverträgen, formalen Institutionen , Symbolen, Bildern aller Art oder unsichtbar bzw. bedingt sichtbar (Gesten, Gesichtsausdrücke in Relation zu ihrer verhaltenssteuernden Wirkung) wie im Falle einer Beziehungsstruktur oder einer kulturellen Struktur. In jedem Fall sind sie durch ihre Wirkungen (Bildung von Verteilungen des Verhaltens) empirisch nachweisbar und hypothetisch sinnvoll, wenn keine plausible anderweitige kausale Erklärung zur Verfügung steht. Die empirische Forschungsarbeit setzt an den Wirkungen (Verhaltensverteilung) an, erstellt Hypothesen zu den emotional relevanten Aspekten der relevanten Strukturen und beweist durch den Vergleich mit einer anderen Struktur und ihrer Wirkung die kausale Wirkung der untersuchten Struktur.
2.) Sie sind typischerweise, in der Regel aus nachvollziehbaren Handlungen von Individuen oder Gruppen entstanden, die von der Norm abweichen. In Ausnahmefällen und in einem fundamentalen Sinn können Strukturen auch als unintendierte Folgen von Handlungen entstehen (z.B. Sprache/Kultur(teilweise)/Markt/Selbstorganisation). Neue Strukturen entstehen soziologisch relevant typischerweise durch kreative Leistungen einzelner Persönlichkeiten und ihren Einfluss auf Gruppen und Gesamtgesellschaft.
3.) Die Verteilungen des Verhaltens werden durch die emotional relevanten Aspekte der Strukturen im Normalfall unbewusst erzeugt. Die Bedingungen für die Form der Verteilungen sind einerseits der Grad und die Intensität der emotionalen Wirkung (Symbole/Bilder/Wiederholungen) und andererseits die individuellen, persönlichen Differenzen in Bezug auf Beeinflussbarkeit, entstanden aus dem Wechselspiel von Veranlagung und Sozialisierung.
4.) Die sozialen Gesetze werden begründet durch die Verbindung und Beeinflussung des individuellen Unbewussten mit und durch kollektive Strukturen oder Intentionen (Searle).
5.) Empirisch relevant und Ausgangspunkt für empirische Untersuchungen sind die Verhaltensverteilungen (Explanandum), d.h. die Wirkungen der Strukturen, aus denen auf die strukturell relevanten, unbewusst determinierenden Variablen (z.B. Symbole/Bilder) als Explanans geschlossen werden kann.
6.) Voraussetzung für eine Erklärung durch soziale Gesetze ist eine begrifflich durchformulierte soziologische Theorie (z.B. mit dem Ausgangspunkt „Macht“ i.S. Webers als zentrales Konstituens jeder sozialen Beziehung und als Motor eines jeden sozialen Prozesses).
7.) Soziologisch relevante Strukturebenen können hierarchisch wie folgt unterschieden
werden:
a) Persönlichkeitsstruktur
b) Struktur einer Zweierbeziehung
c) Struktur einer Gruppe
d) Struktur einer formalen Organisation
e) Struktur einer formal organisierten Gesellschaft
f) Ideologische Strukturen/ Wissenssoziologie (z.B. Liberalismus/Faschismus)
g) Fundamental-religiöse Strukturen (Transzendenz)
h) Erkenntnistheoretische Strukturen (Wissenschaft/Philosophie/Religion)
Jede höher liegende Ebene prägt, idealtypisch betrachtet, die VerhaltensVERTEILUNG und die statistische Varianz der darunter liegenden Ebene.
Empirische Untersuchungen, z.B. historisch vergleichend, können von statistischen Wirkungen ausgehen und Veränderungen in der Verteilung an Hand von emotional relevanten Strukturdimensionen hypothetisch formulieren und untersuchen.“