Unter deutschen Intellektuellen herrscht (oder herrschte lange) eine gewisse Bilderfeindlichkeit. Die FAZ hat ja erst im September 2001 erstmals ein Foto auf der Titelseite abgebildet, davor galt der reine Text. Bei Historikern sieht es nicht anders aus. Die meisten Bücher: ohne Bilder. Wenn Bilder, dann zumeist als reine Illustration: so und so sah xy aus. Die waren sogar allen Ernstes in der Lage, Gemälde aus dem 18. Jahrhundert als Abbild vergangener Wirklichkeit zu verkaufen. Fast noch besser: Große, farbige Karten aus der Frühneuzeit werden auf Postkartengröße reduziert und schwarz/weiß abgedruckt — von renommierten Verlagen. Da „erkennt“ nur noch einen Brei von Graustufen, und den großen Unterschied: Das ist eine Karte und kein Portrait. Was für eine Missachtung des Bildes durch Autoren und Verlage gemeinsam. Langsam ändert sich das zum Glück (z.B. hier).
Mir ist immer deutlicher geworden, und das werde ich in einem späteren Projekt systematisieren, dass die industrielle Moderne eine Epoche der Sichtbarkeit ist. Bilder sind zentral, und zwar in einem weiteren Sinn: als images (um die Unterscheidung der Bildwissenschaft von picture [Bildträger] und image [Bild] aufzugreifen), als Narrative, als Metaphern und als „Gestalt“. Die These ist: Weil moderne Gesellschaften immer komplexer wurden, mussten immer mehr dem Auge bzw. kognitiv verborgene Prozesse sichtbar gemacht werden. Und da kamen dann die großen soziologischen Durchleuchtungen der Gesellschaft wie Albert Schäffles „Bau und Leben des sozialen Körpers“, oder Eadweard Muybridges Fotografien körperlicher Bewegungen, oder jene Grafiken, die Mikrobewegungen alltäglicher Praktiken ans Licht heben (siehe die Abbildung in meinem Beitrag zum social engineering). Sichtbar machen und Gestalt geben: das reduziert Komplexität und macht Phänomene erst verhandelbar.
Den Begriff des Bildes sollte man dabei in einem weiteren Sinne verstehen. Schäffle beispielsweise verwahrte sich dagegen, organizistische Metaphern zu verwenden, aber sein „Bau und Leben“ strotzt nur so vor organischem Denken. Durch das Narrativ und Metaphern wird die Gesellschaft in einer spezifischen Gestalt präsentiert, sie wird plötzlich greifbar, sie ist wie Du und ich. Man sollte also auch Texte als Bilder lesen, Narrative evozieren vor den Augen von Lesern images (der Text selbst ist das picture) und gehen dann Allianzen mit Metaphern und „wirklichen“ Bildern, Fotos, Grafiken usw., ein. Und bündeln lässt sich dieser Konnex eventuell im Begriff der „Gestalt“. Komplexität mutiert zur Gestalt und tritt uns als Wesen? Kommunikationspartner? gegenüber?
Bislang wurde ich immer vor dem Gestaltbegriff gewarnt. Der sei durch die Gestaltpsychologie der 1920er Jahre besetzt, da kaufte ich mir unkontrollierbare weltanschauliche Elemente ein. Aber warum sollte man nicht einen Begriff ganz frech okkupieren und auf die eigenen Bedürfnisse neu zurechtschneiden? Genau das werde ich versuchen. Ein Beispiel:
Im späten 19. Jahrhundert beklagten Ärzte den angebliche verheerenden Kaffeegenuss in Europa. Kinder würden zum Frühstück mit Kaffee abgefüllt und zugrunde gehen, Bauersfrauen zerstörten systematisch ihre Gesundheit, die fürchterlichen Auswirkungen des Alkohols würden durch die des Kaffees bei weitem übertroffen. Valide Daten hatten diese Ärzte nicht, entscheidend war die Massierung der Schauergeschichten, die das Bild eines kollektiven Niederganges entstehen ließen. Dann galt irgendwann die Milch nicht mehr als „white poison“, weil sie keimfrei gemacht werden konnte, und nun entstanden zwei charakteristische Gestalten der Moderne: Milch und Kaffee, mehr als nur zwei Flüssigkeiten, sondern die Inbegriffe konträrer moderner Lebensweisen.
Abbildung 1 zeigt den gesunden und starken Milch- sowie den schwachen und kümmerlichen Kaffeejungen. Die Abbildung stammt aus der schwedischen „Milchpropaganda“, die den Verzehr von Milchprodukten forcieren wollte. Das hatte natürlich geschäftliche Gründe, eingeschrieben wurde diese Propaganda aber in den Hygiene- und Gesundheitsdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts. Es wurden nicht nur gesunde Lebensweisen propagiert, sondern auch Versatzstücke aus der Eugenik mobilisiert: „Lasst uns alle A-Menschen werden“, lautete der Aufruf. „B-Menschen“ wurden nicht als „minderwertig“ imaginiert, aber ihnen würden die Ressourcen für die Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft fehlen (Abbildung 2). Der Gegensatz zwischen „gesund“ und „krank“ durchwob die Dichotomie von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, der für viele Kritiker der Moderne und Sozialingenieure deren „Ambivalenz“ ausmachte. Dieser Gegensatz von weiß/hell und dunkel/schwarz wurde auf Milch und Kaffee projiziert und dann visuell — eugenisch bzw. rassistisch aufgeladen — regelrecht verkörpert, im Milchjungen, dem A-Menschen oder dem blonden Mädchen (Abbildung 3). Alltagserfahrungen (Leistungsgesellschaft), Alltagspraktiken (Trinken), Sehnsüchte (Gesundheit), visuelle Evidenz (Körper) und Expertendiskurse (Gemeinschaft/Gesellschaft) verschmolzen narrativ/visuell zu einem Dispositiv, dem die Gestalt des A-Menschen entsprang.
Von so einem Befund ausgehend muss man Querbezüge, Parallelen und Homologien herausarbeiten, um die Existenz des Dispositivs empirisch genauer zu belegen — und um überhaupt die Wirkmächtigkeit von Gestalten herauszuarbeiten. Waren das bloß narrativ-visuelle Konstrukte, oder konnten sie wirklich das Handeln von Akteuren strukturieren? Wie entstehen solche Gestalten, welche Reichweite haben sie, wann vergehen sie wieder? Können auch technische Artefakte „Gestalten“ sein, etwa die leise surrenden Turbinen der Wasserkraftwerke, die aseptisch sauberen Schaltzentralen, die Concorde? Wenn man sucht, findet man viele Hinweise, dass es sich lohnt, Gestalten zu untersuchen, beispielsweise den Bamberger Reiter (eine Statue), als Synthese einer großartigen mittelalterlichen Vergangenheit und nationalsozialistischen Gegenwart (Wolfgang Ullrich) oder die „schwäbische Hausfrau“, die unlängst die deutsche Politik durchgeisterte und die fiskalpolitische Diskussion strukturierte. Natürlich verdichtet sich nicht jede Sichtbarmachung und Visualisierung in Gestalten, und vielleicht sollte man Gestalten als Spezialfall von Formungen begreifen.
Wie dem auch sei, in der Moderne, behaupte ich, spielen Bilder und Visualisierungsprozesse eine wichtige Rolle, um Interventionsbereiche überhaupt erst sichtbar zu machen und zugleich komplexe, abstrakte, nichtfassbare Zusammenhänge fassbar und lebendig zu machen, d.h. um Diagnosen und Wahrnehmungen überhaupt erst operationalisieren zu können: Die Moderne als Bild (die zeitgenössischen Bilder von der Moderne) und das Bild der Welt als Grundlage für die Gestaltung der Welt, könnte man überspitzt sagen. Die Stärke von Bildern ist das framing, also die Rahmung. Wie bei einem Gemälde werden Formate geschaffen, um Beobachtungen abzugrenzen, zuzuschneiden und zu rahmen. Dadurch wird in den Blick gerückt und zugleich ausgeblendet, und erst dadurch werden Verwerfungen identifiziert und bearbeitet. Die Ergebnisse können anschließend visuell als verbildlichtes Narrativ einer erfolgreichen Krisenbewältigung repräsentiert werden, d.h. Bilder machen Probleme und Lösungen sichtbar.
PS: Auch heute noch stellt Kaffee ein Problem dar: Oldelaf et Mr D: „Le Café“ (2007).
Literaturhinweise:
Schade, Sigrid/Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011
Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 22006