„Von uns selber reden wir“ (frei nach M. Kohli)

1981 veröffentlichte der Soziologe Martin Kohli einen Aufsatz zu Wissenschaftler(auto)biografien: „Von uns selber schweigen wir“. Wissenschaftler als Personen kämen in solchen biografischen Texten kaum vor, lautete seine zentrale These. Der Grund: „Es ist für die Selbstdeutung der modernen Wissenschaften zentral, daß es in ihnen um die ‚Sache‘ gehe und nicht um die ‚Person‘. Daraus erwächst für diese — strenggenommen — eine Schweigepflicht; zumindest ist das Reden von sich selber problematisch“. In einem Film des Instituts für den wissenschaftlichen Film in Göttingen kann man dieses Schweigegebot regelrecht sehen. Das Institut hatte mehrere Historiker vor die Kamera gebeten, 1965 unter anderem den alten Gerhard Ritter. Der saß steif vor der Kamera und las hölzern seinen Text vom Papier. Ein Blatt fiel ihm unterdessen auf die Erde. Und sein Credo lautete: „Ein Professor soll durch seine Schriften wirken, die für sich selbst sprechen müssen, nicht aber sich selbst gewissermaßen auf die Bühne stellen und vor unbekannten und unsichtbaren Betrachtern produzieren. Das Persönliche ist unwichtig, das wissenschaftliche Werk allein wichtig“.

Diese Haltung lässt sich wissenschaftshistorisch erklären, weil in der Frühen Neuzeit wissenschaftliche Aussagen vom sozialen Stand der Sprecher und der Autorität der Traditionen befreit werden und ausschließlich auf empirischer Basis gründen sollten. Dazu kam die strikte Trennung von Genese und Geltung eines Werks. Wissenschaftlerbiographien widmeten sich deshalb lange Zeit der Darstellung abgeschlossener Werke, da hatte die Person nicht mehr viel zu suchen, nur ihr Geist (Intellekt).

Heute gilt wohl eher: Von uns selber reden wir. Aber wie? Der Historiker Peter Schöttler hat den Hang beklagt, sich zunehmend in Vorworten und Danksagungen auf eine geradezu lächerliche Art autobiografisch zu vermarkten, zum PR-Unternehmer seiner selbst zu werden. Und Jürgen Kaube spekulierte in der FAZ (9.9.2008), dass Wissenschaftler zunehmend primär von sich erzählten. Die Frequenz der Wortverwendung „ich“ nehme zu, das Postulat der „Objektivität“ drohe dabei auf der Strecke zu bleiben. Es gibt in der Tat wenigstens zwei Beispiele, wo sich Historiker, Philipp Sarasin bzw. Götz Aly, von der „Zeit“ ein regelrechtes image styling gefallen ließen. Ulrich Raulff hat in einem launigen Buch seine Lektüre-Sozialisation in den 19870er und 80er Jahren skizziert, Uwe Pörksen ein eigentümliches, eindrückliches Buch über das Wissenschaftskolleg zu Berlin geschrieben, das mich an die Tagebücher von Fritz J. Raddatz erinnert — nur dass in Berlin alles zwei, drei Nummern weniger irre war als in Hamburg. War ja auch Wissenschaft und nicht Feuilleton.

Man kann diese Autoren sicherlich als die neuen „Ichlinge“ der Wissenschaft kritisieren. Aber in Wahrheit handeln diese Texte doch viel zu wenig vom Ich. Denn was alles erfahren wir nicht? Wenn die Wissenschaftssoziologe ihre Aufgabe ernst nimmt, die sozialen Grundlagen der (wissenschaftlichen) Wissensproduktion zu analysieren, dann müssen natürlich die Produzenten dieses Wissens in den Blick genommen werden, Akteure, genauer gesagt: Personen. Und zu Personen gehört das Persönliche. Es gibt einen schönen Bildband über einige Mitglieder der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (G. Bersch, ForscherLeben, 2005). Die Fotografien zeigen die Wissenschaftler an ihren akademischen Wirkungsstätten, in den Privatwohnungen und vereinzelt in bildungsbürgerlich konnotierten Räumen. Im Hintergrund immer wieder Büsten von den Größen der jeweiligen Fächer und Bücherwände. Die Texte (von Kollegen) sind persönliche Portraits der Abgebildeten. Sie handeln von der intellektuellen Arbeit, bildungsbürgerlichen Tätigkeiten und der Fähigkeit, das Leben bei einer Flasche Wein und gutem Essen zu genießen. Bei den Frauen spielen Kochkünste und der Einsatz für andere (Frauen) eine gewisse Rolle, bei den Männern ist es tendenziell eher das Intellektuelle; in kurzen Viten werden geballt Rufe, Erfolge und internationale Auszeichnungen der Portraitierten aufgelistet.

Ist das nun „persönlich“? Die Betonung hedonistischer Qualitäten ist zweifellos dem 21. Jahrhundert geschuldet, das auch an der Wissenschaft nicht spurlos vorbeischrammt. Und auch die Art der Darstellung ist erprobt. Sie überhöht in auserlesenen Schwarzweiß-Fotografien ausgewählter Akademiemitglieder und lobpreisenden Ehrungen den Habitus des seriösen Wissenschaftlers, der geistig jedoch nicht verengt ist, der Wissenschaftler ist und nicht Funktionär des Wissenschaftsbetriebs, der nicht allein Wissenschaftler, sondern auch „Mensch“ ist, dem Leben und der Kunst zugetan. Auch im Grunewald hat die erste Fellow-Generation des Wissenschaftskollegs munter gesoffen und viel gelacht. Vor allem aber kreiste sie auf eine ganz befremdliche Art in ihrem eigenen Kosmos umher, ständig die Geistestitanen der westlichen Ideengeschichte untersuchend, referierend und zitierend. Man bat den Kollegen, Texte vor die Tür legen zu dürfen, las sich gegenseitig aus den eigenen Werken vor. Lebenskrisen und Alltagssituationen waren ohne Verweise auf Goethe, Nietzsche oder Platon offenbar kaum zu bewältigen; Raulff spiegelt sein Leben ebenfalls in Anspielungen und Zitaten.

Ichbezogen ist all das sicherlich. Die großen Namen treffen sich und parlieren, über welche großen Namen sie forschen, fast geradezu, als gebe es keinen Bezug mehr zur Außenwelt. „Hauptsache lustig“ (U. Pörksen), und unter ihresgleichen. Das „Ich“ aber fehlt. Denn es bleibt verschleiert, wie die herausragenden Gelehrten im ganz normalen Alltagsbetrieb der Wissenschaft funktionieren, welche Rolle die Mühle der Professionen und Institutionen für ihre Existenz als Wissenschaftler spielt bzw. inwieweit sie selber diese Mühle durch ihre Alltagspraktiken am Laufen halten. Es wird nicht aufgedeckt, wie sie sich zu spezifischen Subjekten bilden, die es lernen, den Grat zwischen Konformität und Originalität zu gehen, zum „Vf.“ zu werden, die wissenschaftliche Markierung eines Subjekts, das sich von einem Irgendjemand erfolgreich zu einem individuellen, depersonalisierten Autor geformt hat, um als Wissenschaftler anerkannt zu werden und erst dadurch eine „Position des Sprechers“ (M. Foucault) zu erlangen, die ihren wissenschaftlichen Aussagen überhaupt Gewicht verleiht.

Denn ohne eine regelrecht körperliche Präsenz als Wissenschaftler, so behaupte ich, ohne Performance wird man schwer in die Riege der Großmeister aufsteigen, deren Wort Bedeutung für den wissenschaftlichen Diskurs besitzt. Diese Theatralität des Wissenschaftsbetriebs kann man aus den Texten der Pörksens und Raulffs durchaus präparieren. Aber den letzten Schubs muss man selber geben: Die wohligen Erinnerungen in Wissenschaftssoziologie zu verwandeln. Insoweit gilt: Von uns selber reden wir wohl immer mehr, und schweigen doch noch immerzu.

Das war’s mit meinen Beiträgen zum Blog. Ich wünsche einen guten Rutsch ins Neue Jahr!

Literaturhinweise:

Schöttler, Peter: Die autobiographische Versuchung, in: Lüdtke, Alf/Prass, Reiner (Hg.): Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln 2008, S. 131-140

Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013

2 Gedanken zu „„Von uns selber reden wir“ (frei nach M. Kohli)“

  1. Lieber Thomas Etzemüller,

    das war ein wunderbar kluger und kurzweiliger Blog in den letzten zwei Monaten. Vielen Dank.

    Beste Wünsche für 2015 – und weiterhin viel Erfolg, Spass und Präsenz im wissenschftlerischen Kosmos.

    Claudia Honegger

    1. Liebe Claudia Honegger,

      das freut mich. Mir hat es Spaß gemacht.

      Viele GRüße
      Thomas Etzemüller

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