Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich versuchen, die Frage von Gina Atzeni zu beantworten. In ihrem Kommentar fragt sie, was es konkret heißt, dass das Interesse der Web Science darauf konzentriert ist, „Muster in großen Datenmengen zu visualisieren“. Zunächst basiert dieses Interesse auf der Annahme, dass sich durch die Auswertung großer Datenmengen Muster entdecken lassen, die bislang nicht sichtbar waren oder sich bei weniger großen Daten nicht „entdecken“ lassen. Für ein Beispiel, was mit solchen Visualisierungen „entdeckt“ werden kann, schauen Sie sich am besten ein Demo des L3S-Forschungszentrums an. Dort können Sie neben einer Visualisierung auch noch weitere Anwendungen studieren. Für spannende Forschungsfrage in diese Richtung finden Sie bei den Kolleg_innen vom L3S immer ein offenes Ohr. Sie forschen gerne zusammen mit Soziolog_innen und suchen nach Möglichkeiten, ihre Methoden mit interessanten soziologischen Forschungen zu verknüpfen.
Nun aber zu meiner Beobachtung, dass die Soziologie bislang bei den Digital Humanties wenig vertreten ist. Dies erklärt sich gewiss zu einem großen Teil daraus, dass die Digital Humanties aus den geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern heraus entstanden sind. Die Digital Humanities entwickeln „Werkzeuge“, IT-gestützte Methoden, mit deren Hilfe sich das Web aber auch alle anderen digital vorliegenden Quellen empirisch erschließen lassen. Dies ist für die Soziologie von großer methodischer wie auch methodologischer und theoretischer Relevanz. Denn – vergegenwärtigen wir uns nochmals das Interesse: Muster in großer Datenmengen mittels Visualisierung „zu entdecken“ – in dieses Interesse sind vielfältige theoretische und methodologische Annahmen eingeschrieben. Für andere Werkzeuge und Methoden gilt dies in ganz ähnlicher Weise. Wir sollten deshalb darauf achten, dass unsere, die soziologischen Qualitätsanforderungen bei der Entwicklung dieser IT-gestützten Methoden berücksichtigt werden, dass wir erfahren, welche theoretischen und methodischen Annahmen mit ihnen gesetzt sind.
Schließlich sollte man nicht außer Acht lassen, dass reichlich Fördergelder in die Entwicklung dieser Forschungsinfrastrukturen fließen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Förderschwerpunkt des BMBF eHumanities, auf den ich heute nicht weiter eingehe. Stattdessen möchte ich zwei große Initiativen kurz vorstellen, weil sie thematisch für die Soziologie attraktiv sind, jedoch nur wenige soziologische Fragestellungen mit eigenen Projekten in ihnen vertreten sind. Was aus meiner Sicht schade ist, weil dort „Werkzeuge“ entwickelt werden, die für die Soziologie prinzipiell interessant sein könnten, aber möglicherweise unsere theoretische und methodologische Qualitätsstandards zu wenig bedenken.
So entwickeln die CLARIN-D-Zentren Werkzeuge zur Analyse digitaler Textkorpora der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Webanwendungen stehen der gesamten Community zur Verfügung. Schaut man sich jedoch die Projektliste durch, dann ist man enttäuscht, wie wenig dort die Sozialwissenschaften vertreten sind.
Eine zweite große Initiative trägt den Namen: DARIAH-DE. Sie soll die Geistes- und Kulturwissenschaften mit digitalen Ressourcen und Methoden in Forschung und Lehre unterstützen. Scrollt man hier die Projektliste durch, dann fällt ein Projekt auf, dass sich mit
Diskursanalyse in Social Media (DaSoM) beschäftigt. Geleitet wird es von Prof. Dr. Stefan Stieglitz (Uni Münster). Ziel des Projekts ist es, zu erforschen, wie sich Themen im Internet verbreiten und wie dort Meinungsbildung stattfindet und vor allem „Werkzeuge“ zu entwickeln, solche Fragen wissenschaftlich bearbeiten zu können.
Aber auch auf Konferenzen der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum ist die Soziologie eher zurückhaltend präsent. Das letzte Mal habe ich von Axel Philipps‘ Projekt über Streetart berichtet, dass auf der Digital Humanties Konferenz in Passau 2014 vorgestellt wurde. Außer Axel und mir hat – falls ich nicht aus Versehen jemanden übersehen habe – nur noch eine weitere Soziologin vorgetragen: Susanne Friese. Sie sprach über die Anwendung von QDA-Software für die Analyse qualitativer Daten. Bei dieser Gelegenheit sei vielleicht erwähnt, dass die Forschungsförderer breit vertreten waren, auch solche, die explizit für die Soziologie zuständig sind.
Ich merke, dass heute ein wenig Unmut meinen Text durchzieht. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Eine solche Launigkeit schätze ich gar nicht, deshalb mache ich nun einen Punkt. Nur noch zwei Sätze zum Schluss: Die Soziologie ist in vielen Bereichen der Forschungsinfrastrukturen sehr gut – geradezu vorbildlich – aufgestellt, dazu gehören die großen Panelerhebungen, die FDZ und vieles mehr. Die Chance, „Werkzeuge“ für die Analyse des Web und anderer digitaler Quellen mit zu entwickeln, sollten wir aber ein bisschen stärker nutzen.
Vielleicht ist diese Publikation von Interesse (und sicher bereits in den Uni-Bibliotheken als eBook vorhanden):
Schirmer / Sander / Wenninger: Die qualitative Analyse internetbasierter Daten. Methodische Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien, Wiesbaden: Springer VS, 2015, ISBN 9783658062958, eISBN 9783658062965