Und die soziologische Lehre?

Der Kommentar von „Ein Soziologe“ regte das vorletzte Mal an, zu überlegen, welche Herausforderungen sich für die soziologische Lehre aus der Analyse des Webs und den Digital Humanities ergeben. Ob Studiengänge zu “computational sociology” – wie beispielsweise in den USA – zu entwickeln sind. Auch ich finde diese Frage wichtig, weil sie das disziplinäre Selbstverständnis der Soziologie berührt. Dies möchte ich heute an drei Aspekten, darunter die Lehre, verdeutlichen.

Wenn der Vorstand des Verbandes Digital Humanities Thesen vorlegt, in denen die Digital Humanities als „Epistemiologie und Methodik“ verstanden werden, dann sind die soziologische Theorie und Methodologie angesprochen. Ganz generell ist zu fragen, ob die im ersten Satz der Thesen angesprochene „Kombination geisteswissenschaftlicher und informationstechnologischer Denkmodelle“ wünschenswert ist. Das vorletzte Mal habe ich über das Projekt „Streetart im Web“ berichtet und hervorgehoben, dass bei diesem Theorie und Methodologie soziologisch begründet waren. Wenn soziologische und informationstechnologische „Denkmodelle“ miteinander kombiniert werden, dann rührt das an den theoretischen und methodologischen Grundlagen der Soziologie.

Hier schließt die Frage an, ob die Digital Humanities als „Hilfswissenschaft“ für geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen aufzufassen sind, ob sie eine „angewandte Informatik“ repräsentieren oder, ob sie eine eigene Disziplin bilden, die sich auf die digitalen Praktiken und Methoden spezialisiert und diese aus den „traditionellen“ Geistes- und Sozialwissenschaften herauslöst. Diese drei Varianten stammen keineswegs von mir, sie werden genauso in den Digital Humanities diskutiert. Mir ist es wichtig, darzulegen, dass damit der Gegenstandsbezug der Soziologie tangiert wird. Bei der ersten Variante findet kein Eingriff in den Gegenstandsbezug der Soziologie statt. Ebenso sind die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Soziologie auch für Analyse zum Web ausschlaggebend. Die zweite Variante lässt offen, wie Soziologie und Informatik zueinander finden werden. Und die dritte Variante würde heißen, dass die Theorie- und Methodenfragen um das Web herum vorrangig von einer eigenen Disziplin – den Digital Humanities – bearbeitet werden und damit dieser Gegenstand der Soziologie verloren gehen könnte.

Ich komme nun zur Lehre. Hier stehen sich aus meiner Sicht zwei Positionen gegenüber. Es gibt Bestrebungen, IT-Module in die grundständigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge zu integrieren, also die Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften mit einem „kleinen IT-Zertifikat“ auszustatten. Die andere Position plädiert dagegen dafür, dass zusätzliche IT-Qualifikationen für Geistes- und Sozialwissenschaftler/innen in der Forschung wichtig sind und auf Masterniveau die Möglichkeit bestehen sollte, sich solche Kenntnisse anzueignen. Für diese Position spricht aus meiner Sicht, dass voraussichtlich früher oder später Werkzeuge zur Analyse des Webs entwickelt sein werden, die ähnlich leicht wie SPSS, ATLAS.ti und MAXQDA zu bedienen sind. Für die Lehre ist nicht nur bedeutsam, die Anwendung dieser Programme zu lernen, sondern auch zu verstehen und beurteilen zu können, welche methodologischen Setzungen in diese Programme eingeschrieben sind. Vergleichbares wird für die neuen IT-Werkzeuge gelten.

Wer sich übrigens dafür interessiert, welche Studiengänge mit Lehrinhalten zu den Digital Humanities in deutschsprachigen Raum und angrenzenden Studienorten bereits existieren, dem empfehle ich die Broschüre „Digitale Geisteswissenschaften“. Sie werden erstaunt sein, es gibt mehr als man denkt. Der Titel „Geisteswissenschaften“ stimmt, zu den Sozialwissenschaften ist dort wenig zu finden. Vielleicht kann man dies auch als eine Antwort auf die Frage interpretieren, welchen Stellenwert die Digital Humanities für die Soziologie haben sollen: methodisches Werkzeug, welches sich nicht in die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Soziologie eingräbt und auch nicht ihre Gegenstände vorbestimmt.

Ein Gedanke zu „Und die soziologische Lehre?“

  1. Vielen Dank zunächst, dass Sie meine Anregung aufgegriffen haben.

    Ihre erste Frage lässt mich, ehrlich eingestanden, ratlos zurück, weil ich alle drei Varianten als mehr oder minder äquivalent auffasse. Die grundsätzliche Natur soziologische Fragestellungen wird sich durch die Verwendung neuer Methoden und Datenquellen nicht verändern. Es wird künftig, wie auch heute, ein Kontinuum geben, zwischen Forschungsfragen, die einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Sozialtheorie leisten wollen, und angewandten Fragen, die soziologische Theorien und Erkenntnisse aufgreifen, um sie etwa in einem informatischen Kontext in einem Unternehmen einzusetzen. Vielleicht habe ich den Absatz aber auch nur falsch verstanden.

    Bei der Lehre sehe ich es ähnlich. Es sollten alle Varianten versucht werden. Einige Soziologiestudiengänge können ihre verpflichten Methodenausbildung um die relevanten Fertigkeiten erweitern. Gleichzeitig sollten in den verbleibenden freiwillige Vorlesungen und Kurse angeboten werden. Zuletzt könnten sich zusätzlich eigene Studiengänge (vor allem auf Masterebene) herausbilden.

    Allerdings sollten Soziologen auch versuchen Einfluss auf die Lehre der anderen Disziplinen zu nehmen. Relevante soziologische Inhalte sollten als Seminare für Informatiker angeboten werden, insbesondere Theorien (z.B. Netzwerktheorie) und ein Grundverständnis der Methoden (Untersuchungsdesigns und Kausalmodelle).

    Fabio Rojas vom Blog „orgtheory“ hat einige Einträge zu diesem Thema geschrieben, z.B.:
    https://orgtheory.wordpress.com/2014/06/30/sociology-dont-screw-this-up-but-we-need-to-seriously-hook-up-with-computer-science/

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