Heute melde ich mich zum letzten Mal. Ich möchte in meinem letzten Beitrag nochmals das Thema der Infrastrukturen aufnehmen und ein bisschen erweitern. Infrastrukturen werden bislang kaum soziologisch beforscht, obwohl sie gesellschaftlich und politisch gegenwärtig viel Aufmerksamkeit erfahren. Blättert man politische Verlautbarungen, Medienbeiträge, Forschungsausschreibungen, Feuilletonbeiträge etc. durch, gewinnt man schnell den Eindruck: So viel Infrastruktur gab es nie. Offenbar Beliebiges wird zur Infrastruktur erklärt. Nicht nur klassische Einrichtungen wie Eisenbahn, Brücken, Wasserleitungen und die Nahversorgung mit Lebensmittelgeschäften rubrizieren darunter, auch Friseure, Tankstellen, Dorfgasthäuser, Zeitungshändler oder „Schlecker“-Filialen werden immer häufiger als „daseinsvorsorgende Infrastruktur“ (Kersten et al. 2012) qualifiziert. „Mentale“ und „intellektuelle Infrastrukturen“ sind neuere Wortschöpfungen des Feuilletons, worunter dort „betonierte Bahnen“ des Denkens verstanden werden, die nicht nur in der Gegenwart wirken, sondern auch die Denkbarkeit von Zukunft beschränken würden.
Ich könnte diese Liste nach Belieben verlängern, das Ergebnis bliebe gleich, der Begriff Infrastruktur wird zunehmend unpräzise und konturenlos. Dies geschieht nicht grundlos oder zufällig, vielmehr dokumentiert sich darin ein fundamentaler Wandel des Verständnisses und der Praxis von Infrastrukturen (vgl. Barlösius/Neu 2012; Barlösius/Spohr 2014). Mit diesem geht eine grundlegende Änderung der sozial-räumlichen Ordnung durch Infrastrukturen einher, in welcher der Übergang – so meine These – von der industriellen Wohlfahrtsgesellschaft zur globalisierten Wissensgesellschaft aufscheint. Wenn diese Annahme stimmt, dann wären wissenschaftliche Infrastrukturen, mit denen ich mich in den vorangegangenen Beiträgen befasst habe, eben nicht nur eine Thematik für die Wissenschaftsforschung, speziell für die Wissenschaftssoziologie, sondern würden sich ebenso als Ausgangspunkt für eine soziologische Gegenwartsdiagnose eignen.
Auch die Science and Technology Studies (STS), die ursprünglich nur wissenschaftliche Infrastrukturen im Fokus hatten, haben dazu aufgerufen, sich zunächst mit der Geschichte jener Infrastrukturen zu befassen, die die Bahnen für die industrielle Wohlfahrtsgesellschaft ausgelegt haben. Aus diesen Studien ließen sich Forschungsperspektiven und Problemfelder herleiten, die ein besseres Verständnis wissenschaftlicher Infrastrukturen ermöglichen, als wenn diese vorrangig als Teil der Wissenschaft begriffen würden (Bowker et al. 2010).
Geht man diesen Weg in die Geschichte der Infrastrukturen zurück, wofür ich nachdrücklich die Arbeiten von Dirk van Laak empfehle, dann offenbart sich, welche enormen Vorleistungen Infrastrukturen sowohl für die soziale Integration und Vergesellschaftung wie auch für einzelne soziale Felder – zuvorderst das Feld der Ökonomie – erbracht haben. So waren der Aufbau und die Garantie von Infrastrukturen im 19. Jahrhundert eng mit der Industrialisierung, der Verstädterung und die Nationalstaatenbildung verbunden. Vor allem dienten sie dazu, die Anforderungen und Folgen dieser drei Prozesse zu bewältigen. Zudem bildeten sie wichtige „Scharniere“ zwischen diesen drei Prozessen und trugen damit zu ihrer Abstimmung bei (s. Barlösius et al. 2011). Die Infrastrukturen stellten gewaltige Vorleistungen für die industrielle Produktion bereit. Man denke beispielsweise an die Wasser-, Gas- und Stromversorgung, die Eisenbahn und die Kanalbauten, die Telegraphie und die Post. Analog zur industriellen Produktion waren sie mehrheitlich auf die Bewältigung großer Mengen und Massen ausgerichtet. Gleichermaßen wurden diese und weitere Infrastrukturen, insbesondere die Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen, zu Grundpfeilern des vorsorgenden Wohlfahrtsstaates entwickelt. Diese Art der infrastrukturellen Ausstattung trug wesentlich zur territorialen Erschließung und Markierung der sich formierenden Nationalstaaten bei. Somit repräsentierten Infrastrukturen materiell wie symbolisch die sich etablierenden Nationalstaaten ebenso wie die Transformation von der feudalen Agrar- zur industriellen Wohlfahrtsgesellschaft. Die Infrastrukturen bereiteten eine sozialräumliche Ordnung vor, die essentielle Vorleistungen für die industrielle Wohlstandsgesellschaft schuf.
Für jene Infrastrukturen, die sich später einmal als typisch für die „Wissensgesellschaft“ erweisen werden, beispielsweise die Informationsinfrastrukturen, liegen – das habe ich in meinem letzten Beitrag bedauert – bislang kaum empirische Studie vor. Aus diesem Grund kann ich hier nur einige Anhaltspunkte antippen. Kennzeichnend für
Informationsinfrastrukturen ist, dass durch sie Wissen transferiert und zugänglich gemacht wird. Davon leitet sich her, dass das durch die Informationsinfrastrukturen transferierte Wissen als Vorleistung aufgefasst wird, beispielsweise als Vorleistung für Forschung. Dies zeigt sich besonders in den vielen gegenwärtigen Bemühungen, data-sharing als wissenschaftliche Praxis verbindlich machen zu wollen. Weiterhin ist für die Informationsinfrastrukturen typisch, dass sie jenseits territorialer Grenzen verbinden, weshalb Kooperationen mit geographisch weit entfernten Personen näher liegen mögen als mit den Kolleg_innen auf der anderen Seite des Campus. Auch wenn die Informationsinfrastrukturen aufgrund ihrer überräumlichen Qualitäten einen ortsungebundenen Zugang ermöglichen, bleibt das Zugangsrecht doch oftmals an Institutionen gebunden und damit häufig örtlich. Lassen Sie mich einen letzten Anhaltspunkt benennen: Infrastrukturen bilden eigene Regelwerke aus, auch wissenschaftliche Infrastrukturen. Sie organisieren insbesondere den Zugang, die Bereitstellung sowie die Nutzung. Den Regelwerken entspricht ein bestimmter „sense of ownership“ (Jackson et al. 2007). Wenn wissenschaftliche Infrastruktur immer zentraler für die Forschung und Lehre werden, dann wird dies Folgen für die Art und Weise haben, welcher „sense of ownership“ in den Infrastrukturen praktiziert wird.
Ich belasse es bei diesen wenigen Andeutungen, an dieser Stelle möchte ich mit meiner Forschung einsetzen. Um diese zu konzeptualisieren, ziehe ich mich nun an einen stillen Ort zurück, einen Ort ohne Netzzugang. Ich möchte mich bei Ihnen fürs Lesen und Kommentieren bedanken und übergebe an den/die nächste Blogger_in.
Barlösius, Eva/Keim, Karl-Dieter/Meran, Georg/Moss, Timothy/Neu, Claudia (2011): Infrastrukturen neu denken: gesellschaftliche Funktionen und Weiterentwicklung, in: Reinhard Hüttl, Rolf Emmermann, Sonja Germer, Mathias Naumann und Oliver Bens (Hrsg.): Globaler Wandel und regionale Entwicklung. Anpassungsstrategien in der Region Berlin-Brandenburg. Heidelberg: Springer 2011, S. 147-173
Barlösius, Eva/Neu, Claudia (2012): Sozialräumliche Ordnung durch Infrastrukturen, in: ZAA 60, 1, 2012, S. 8-10.
Barlösius, Eva/Spohr, Michèle (2014): Rückzug „vom Lande“. Die sozial-räumliche Neuordnung durch Infrastrukturen, in: Peter A. Berger, Carsten Keller, Andreas Klärner, Rainer Neef (Hrsg.): Urbane Ungleichheiten. Neue Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie, Opladen: Springer 2014, S. 233-251.
Bowker, Geoffrey C.; Baker, Karen; Millerand, Florence; Ribes, David (2010): Toward Information Infrastructure Studies: Ways of Knowing in a Networked Environment, in: Jeremy Hunsinger, Lisbeth Klastrup, Matthew M. Allen (Eds.): International Handbook of Internet Research. Opladen: Springer, S. 97-117.
Jackson, Steven J.; Edwards, Paul N.; Bowker, Geoffrey C.; Knobel, Cory P. (2007): Understanding Infrastructure: History, Heuristics, and Cyberinfrastructure Policy, in: First Monday, Vol. 12, No. 6.
Kersten, Jens/Neu, Claudia/Vogel, Berthold (2012): Demographische De-Infrastrukturalisierung. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 60, Heft 1. S. 39-55.
Ein Gedanke zu „Infrastrukturen als gesellschaftliche Weichensteller“
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