Zwei Diagnosen und eine Fünf-Jahres-Perspektive
Ein Gastbeitrag in zwei Teilen von Silke van Dyk und Tilman Reitz, Jena
Dies ist die Fortsetzung von Teil 1 vom 09. Juni.
Wettbewerbsregimes und akademischer Neofeudalismus
Inwiefern sind angesichts dieser gegenwärtig gebliebenen Vergangenheit soziologische Diagnosen der Refeudalisierung von Ökonomie und Klassenstruktur im Finanzmarktkapitalismus hilfreich, um Strukturen und Wandlungsprozesse im Wissenschaftsbetrieb zu analysieren? Einerseits scheinen sich Analogien aus zwei Gründen zu verbieten: Das akademische Feld funktioniert erstens aller Ökonomisierung zum Trotz nach anderen Maßgaben als die Sphäre des Finanzmarktkapitalismus; zweitens ist mehr als fraglich, ob mit Blick auf Statuspositionen, persönliche Abhängigkeiten und ständische Mitbestimmungsregeln überhaupt je von einer Ent-Feudalisierung des Wissenschaftsbetriebs die Rede sein konnte. Andererseits ist gerade angesichts der Gleichzeitigkeit von fortgesetzten Feudalstrukturen und zunehmendem Wettbewerb die Analyse des Hochschulsystems als Neo-Feudalismus reizvoll.
Sighard Neckel (2010, 2013) behauptet mit Blick auf die Rechtfertigungsordnungen des Finanzmarktkapitalismus eine Refeudalisierung der Werte: vom Wert der Leistung zum Wert des Erfolges (vgl. auch: Neckel 2008). Auf den ersten Blick scheint diese Akzentverschiebung für den Hochschulbetrieb kontraintuitiv, sind doch im Zuge von Leistungs- und Zielvereinbarungen die konkreten Leistungserwartungen an einmal berufene Professor*innen in der jüngeren Vergangenheit (gerade im Vergleich zu früheren Jahrzehnten) deutlich verschärft und in Kennziffern gepresst worden. Auf den zweiten Blick macht die Akzentverschiebung jedoch einen wichtigen Mechanismus sichtbar: Gerade die Persistenz feudaler Strukturen an Hochschulen und Universitäten, basierend auf Statusunterschieden, ständisch differenzierten Mitbestimmungsmöglichkeiten und persönlichen Abhängigkeiten (befristeter Mitarbeitender von Professor*innen), schafft in Zeiten verschärften Wettbewerbs Möglichkeiten für leistungslosen Erfolg. Auch wenn dies keine Zwangsläufigkeit darstellt und Ausnahmen wie immer die Regel bestätigen, wird der steigende, auf den Professuren lastende Wettbewerbsdruck doch regelmäßig (zumindest teilweise) nach „unten“ weitergereicht.
Nach außen unsichtbare Arbeit von nicht-professoralen Wissenschaftler*innen verschafft Professor*innen zum Beispiel Anträge für Drittmittel, die sie häufig nicht selbst geschrieben haben, aber unter ihrem Namen einreichen, da dies bei vielen Institutionen unterhalb der Professur nicht möglich oder nicht aussichtsreich ist. Und je bekannter ein Name, desto größer die Dividenden unterschiedlichster Gestalt, die allein dafür ausgeschüttet werden, den Namen für ein Projekt/Buch/Beitrag zur Verfügung gestellt zu haben. Das ist leistungsloser Erfolg par excellence. Über die Refeudalisierung der Werte heißt es bei Neckel: „Die Sucht nach Erfolg, vermessen in reinen Geld- und Statusbegriffen, wurde […] zur Subjektivierung einer Wettbewerbsgesellschaft, in er sich das Ranking auf vorderen Plätzen zu einer Art Privatreligion aufrichten konnte.“ (Neckel 2010: 6) Obwohl für ein ganz anderes gesellschaftliches Setting formuliert, könnte die institutionell geförderte, geforderte und befeuerte Jagd nach Drittmitteln, Rankingplätzen und Zitationen und die damit verbundene Quantifizierung wissenschaftlicher Kreativität kaum besser beschrieben werden. Der alte universitäre Feudalismus mag in seinen konkreten Auswüchsen hierarchischer und in seinen von „Ordinarien“ dominierten Strukturen exklusiver gewesen sein als das gegenwärtige Hochschulsystem, der Neo-Feudalismus aber begründet einen forcierten Statuswettbewerb der Professor*innen, dessen Kosten durch die praktische Indienstnahme der „abhängig Beschäftigten“ – zumindest in Teilen – externalisiert werden. Parallel zu dieser Kostenabwälzung ist die Praxis weitverbreitet, wenig prestige- und erfolgsträchtige Korrektur- und Betreuungsaufgaben im Lehrbetrieb auf unterschiedlichste Weisen – mehr oder weniger sichtbar, mehr oder weniger offiziell, mehr oder weniger entlohnt – an die Beschäftigten des Mittelbaus weiterzureichen.
In Zeiten, da auf eine stetig wachsende Zahl Beschäftigter im Post-Doc-Status eine weitgehend stabile bzw. nur leicht steigende Anzahl etatisierter Professuren kommt, funktioniert der Flaschenhals der Berufung im „The Winner-Takes-All“-Modus (vgl. Rogge 2015). Auch das ist ein Kennzeichen neo-feudaler Privilegierung: Während das Betreiben von Wissenschaft für die einen ein existenzielles Risiko darstellt, hat die privilegierte Professor*innenklasse nicht nur dieses Risiko hinter sich gelassen, sondern kann in den ständischen Universitätsstrukturen auch die Bedingungen ihres Erfolgs wesentlich ohne Intervention von Studierenden oder nicht professoralen Kolleg*innen bestimmen. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht uns nicht darum, die sich stetig weiter öffnende soziale Schere an den Hochschulen durch ein „Down-Grading“, d.h. durch eine Prekarisierung der Professuren zu schließen (wie sie ja mit der zunehmenden Befristung von W2-Professuren bereits ihren Anfang nimmt) – ganz im Gegenteil: Wir sind der Überzeugung, dass für eine Entprekarisierung wissenschaftlichen Arbeitens auf allen Ebenen und in all ihren Facetten die Entfeudalisierung der universitären Strukturen erforderlich ist, womit auch einige ständische Privilegien der Professor*innen fallen müssen. Dafür gibt es Modelle und Beispiele in den vielen Ländern, in denen der „Sonderweg des Ordinariats“ (Bunia 2016) nicht den universitären Alltag prägt, etwa in den sonst so gerne als Vorbild gepriesenen USA.
Wenn es keine alltägliche Lösungsstrategie mehr ist, einen Teil des Wettbewerbsdrucks auf diejenigen abzuwälzen, die sich aufgrund unsicherer Beschäftigungsverhältnisse und Zukunftsperspektiven nur schwer entziehen können, steht zu hoffen, dass die Kritik derjenigen, die in ihrer privilegierten Position als verbeamtete Professor*innen wesentlich freier agieren können, lauter, radikaler und praktischer wird. Bisher sind es häufig gerade die prekären wissenschaftlichen Laufbahnen und Karrierepfade (die ja fast alle durchlaufen haben), die die feudalen Privilegien absichern, weil diese als legitime Entschädigung für Jahre der Abhängigkeit, Unsicherheit und Ausbeutung betrachtet und deshalb nicht leicht wieder preisgegeben werden.
Wie soll es weitergehen? Was sofort bzw. innerhalb der nächsten fünf Jahre passieren kann
Mit diesen beiden analytischen Perspektiven auf den Wissenschaftsbetrieb zeigt sich, dass die Ansatzpunkte für eine radikale Umgestaltung des Hochschulsystems auf sehr unterschiedlichen Ebenen liegen: Einerseits ist die Abhängigkeit und Ausbeutung des Mittelbaus strukturell bedingt und damit auch nur durch eine grundlegend andere Finanzierungsstruktur sowie die Abschaffung des Lehrstuhl- oder Arbeitsbereichs- zugunsten eines Departmentprinzips zu überwinden; andererseits verleihen die ständischen Privilegien der Professor*innen im akademischen Neo-Feudalismus diesen aber auch eine konkrete, unmittelbare Verantwortung und beträchtliche Handlungsmöglichkeiten. So richtig es ist, strukturelle Probleme nicht zu individualisieren und zu einer Frage der Eigenverantwortung einzelner (mit Vorliebe auch der Beschäftigten des Mittelbaus) zu machen, so wichtig ist es, die für das akademische System relevante Umkehrung im Blick zu behalten: Wenn Professor*innen ihre Handlungsspielräume kleinreden, auf die problematischen Strukturen und den alles dominierenden akademischen Kapitalismus verweisen, dann tragen sie bei aller Berechtigung dieser Kritik doch wesentlich zu einem Verbalradikalismus bei, während sie im konkreten Arbeitsprozess häufig die ständischen Dividenden einfahren und das kritisierte System konformistisch reproduzieren. Anders als in der Diagnose Boltanskis und Chiapellos geht es hier weniger um die Vereinnahmung von Kritik durch das kritisierte (in diesem Fall Hochschul-)System, sondern um Kritik als unverzichtbares Element einer akademisch-gefälligen Selbstdarstellung als reflexive*r Wissenschaftler*in, die zu keinem Zeitpunkt darauf zielt, sich zu materialisieren bzw. an den kritisierten Strukturen tatsächlich etwas zu ändern.
Wie könnte dieses reibungslose Nebeneinander von Kritikproduktion und Reproduktion kurzfristig gestört und unterbrochen werden? Was ist bereits innerhalb der nächsten Jahre realisierbar, ohne dass ein einziges Gesetz geändert werden muss?
- Mitarbeiter*innestellen sind im gegebenen System zwar formal einzelnen Professuren zugeordnet, innerhalb der Institute kann aber mit der sukzessiven Überführung von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen in kollektiv organisierte Institutsstrukturen begonnen werden – in einigen kleineren Instituten wird Ähnliches bereits praktiziert. Auf Institutsebene wird ein Kodex guter wissenschaftlicher Arbeit verabschiedet, der die Maßgaben für die konkreten Beschäftigungsbedingungen im akademischen Mittelbau regelt und die Grundlage für gleichwertige Arbeitsbedingungen im ganzen Institut darstellt. In jedem Institut existiert eine Interessenvertretung der Mitarbeiter*innen, und es wird eine Ombudstelle für Beschwerden eingerichtet.
- Die Einführung einer Drittel- bzw. Viertelparität in den Gremien der akademischen Selbstverwaltung wird vorbereitet, indem Handlungsspielräume im Institutsalltag ausgeschöpft werden, um die formal vorgeschriebene Professor*innenmehrheit durch Konsultationen, Zusatzgremien und kreative Alltagslösungen faktisch zu durchkreuzen. Auf diese Weise kann aus der alltäglichen Praxis heraus die Demokratisierung der ständischen Strukturen in Angriff genommen werden.
- Es erfolgt eine kollektive Mittelverwaltung im Institut, und innerhalb der professoralen Arbeitsbereiche wird Transparenz über Berufungs- und Lehrstuhlmittel bzw. Dispositionsfonds hergestellt; die Zeiten, da Mitarbeiter*innen auf halben Stellen Konferenzreisen aus eigenen Mitteln finanzieren, während Professor*innen über Berufungsmittel im fünfstelligen Bereich verfügen, sind vorbei.
- Es werden keine unsichtbaren Arbeiten an Mitarbeiter*innen des Mittelbaus übertragen, die diese im Namen bzw. unter dem Namen ihrer Vorgesetzten ausführen. Dies umfasst das Korrigieren von Klausuren, das Schreiben von „Vorgutachten“ für Abschlussarbeiten, das Verfassen von Artikeln, deren Erstautor*innenschaft vom Professor/der Professorin beansprucht wird u.v.m.
- Institute lehnen die Einrichtung von befristeten Hochdeputatsstellen in der Lehre ab (auch das wird an einigen Orten bereits erfolgreich praktiziert).
- „Postwachstum in der Wissenschaft I“: Wer Forschungsergebnisse publiziert, vermeidet Pseudo-Autor*innenschaften sowie die mehrfache Wiederverwertung von Artikeln und Beiträgen und beschränkt sich stattdessen auf wenige, aussagekräftige Publikationen. Statt immer mehr zu publizieren, um etwaige Kennziffern zu erfüllen oder Hirsch-Indizes zu steigern, werden endlich wieder die – damit ja weniger werdenden – Artikel der Kolleg*innen gelesen. So wird eine tatsächliche Basis für kollektive Wissensproduktionen und Debatten geschaffen, während kollektives Forschen gegenwärtig in vielen strukturierten Förderformaten eher simuliert als praktiziert wird.
- „Postwachstum in der Wissenschaft II“: Die Beteiligung an Drittmittelwettbewerben wird radikal eingeschränkt, besonders dort, wo die Chancen für kleine und mittlere Standorte erkennbar schlecht sind und man nur erwartbare Gewinner*innen bestätigt. Dazu gehört auch, die Exzellenzinitiative nicht nur hinter vorgehaltener Hand zu kritisieren, wie es fast allerorten geschieht (vgl. Hörisch 2016), sondern Position zu beziehen gegen die vertikale Differenzierung des Hochschulsystems (vgl. van Dyk et al. 2016).
Vorschläge für Hashtags zum Weiterdiskutieren auf Twitter und Facebook: #SozBlog #GuteArbeit #GAidW #PrekäreWissenschaft #Exzellenzinitiative
Silke van Dyk, Prof. Dr., lehrt Politische Soziologie am Institut für
Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Arbeits- und
Forschungsschwerpunkte sind: Politische Soziologie, Soziologie der
Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats, Soziologie des Alters und der
Demografie, Soziologie sozialer Ungleichheit, Diskurstheorie und
Diskursforschung.
Tilman Reitz, Prof. Dr., lehrt Wissenssoziologie und
Gesellschaftstheorie am Institut für Soziologie der Universität Jena.
Seine Schwerpunkte sind Politische Theorie, Ästhetik, Ideologiekritik,
die Ökonomie des Wissens und (derzeit) vergleichende Hochschulsoziologie.
Literatur (Teil 2)
Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2006): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK.
Bunia, Remigus (2016): Hochschulreform: Der Sonderweg des Ordinariats, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.05.2016.
van Dyk, Silke/Möller, Christina/Reitz, Tilman (2016): Vertikale Differenzierung. Wissensentwertung durch Statuswettbewerb, in: Forschung & Lehre, 23/5, S. 388-389.
Hörisch, Jochen (2016): Exzellenzinitiative: Privat ein Laster, öffentlich eine Tugend, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2016.
Neckel, Sighard (2008): Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt/New York: Campus.
Neckel, Sighard (2010): Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischen Wirtschaftens, in: MPIfG Working Paper, S. 5-16.
Neckel, Sighard (2013): „Refeudalisierung“ – Systematik und Aktualität eines Begriffs der Habermas’schen Gesellschaftsanalyse, in: Leviathan 41, S. 39-56.
Rogge, Jan-Christoph (2015): The winner takes it all? Die Zukunftsperspektiven des wissenschaftlichen Mittelbaus auf dem akademischen Quasi-Markt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 67, S. 685-707.
Ein Gedanke zu „Projektförmige Polis und akademische Prekarität im universitären Feudalsystem (Teil 2)“
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