Das Oberthema des ISA-Kongresses in Toronto lautet „Power, Violence and Justice: Reflections, Responses and Responsibilities“. Und tatsächlich habe ich in den letzten Tagen zahlreiche Veranstaltungen besucht, mehr oder weniger bewusst aus den Dutzenden Möglichkeiten pro slot gewählt, die sich ausdrücklich insbesondere mit Macht und Gewalt befassten.
Sylvia Walby hat sich in ihrem Plenarvortrag „Theorizing Violence: Neoliberalism, Gender, and the Increase in Violence“ der Frage angenommen, ob Gewalt steige oder abnehme? Wie lässt sich dies messen? Welche Gewalt ist gemeint? In welchem Kontext? Mit diesen methodologsich-konzeptuellen und auch theoretisch fruchtbaren Dimensionen befasst sich die britische Soziologin seit Dekaden. Ihr zentrales Thema ist dabei geschlechtliche Gewalt, „gender-based violence“. Wird diese berücksichtigt – was in der Sozialstatistik wie in der soziologischen Forschung keinesfalls selbstverständlich ist – so kann von einer modernisierungs- oder zivilisationslogischen Abnahme von Gewalt (man denke nur an Elias) nicht ohne Weiteres die Rede sein. Zugleich aber wird Gewalt, auch sexualisierte oder vergeschlechtlichte, zunehmend geächtet, juristisch geahndet und politisch problematisiert. Insgesamt, so Walby in ihrer quantitativen Analysen, korreliert geschlechtliche Ungleichheit mit dem Ausmaß viergeschlechtlicher Gewalt.
Sylvia Walby hat übrigens einen der diesjährigen Anneliese Maier Forschungspreise gewonnen, sie wird beim 39. DGS Kongress 2018 in Göttingen eine Keynote halten.
Gewalt ist auch, womöglich vor allem, ein körperliches Phänomen, eine zwischenleibliche Dynamik – normativ und historisch konstituiert, innerhalb von Organisationen und Institutionen, innerhalb komplexer Verhältnisse. Um diese Unmittelbarkeit und Komplexität ging es in zahlreichen Vorträgen und Panels. Interessanterweise wurde dies vielfach über das Konzept der Intersektionalität (vgl. u.a. hier, hier, hier, hier) eingelöst, d.h. darüber, verschiedene Achsen von Ungleichheit und/oder Differenzen (und darüber gibt es in diesem Forschungsfeld eine andauernde Kontroverse) in ihrer wechselseitigen Verflechtung zusammen zu denken und zu erforschen. So ist z.B. „Gewalt gegen Frauen“ ohne die systematische Berücksichtigung empirischer Positionierungen wie Alter, ethnicity, Region schlecht möglich.
Hierüber hat Sonia Frías am Fall von Mexico, basierend auf großen repräsentativen Studien nuanciert präsentiert. Besonders ist sie auf die methodologischen Herausforderungen eingegangen, die empirische Komplexität enthält. Auch und gerade für die deskriptiven/quantitativen Methoden.
Klar wurde in vielen weiteren Beiträgen: soziale Komplexität ist so unmittelbar wie strukturell. Dafür ist das Konzept der Intersektionalität hoch produktiv und empirisch nützlich. Um „Identität“ oder ein sonstiges subjektiv-betroffenes So-Sein als ’schwarze Frau‘, ‚alter weißer Mann‘, ’schwuler Arbeiter‘ oder derartige Pappkameraden geht es dabei nicht.
Hallo Prof. Villa,
danke für Ihre Beiträge zur Soziologie-Messe in Toronto, mit der Sie die Weihnachtspause im Blog beendet haben!
Drei Fragen dazu!
1.) Gab es Vorträge/Seminare zum Thema „Macht/Gewalt“ als KONSTITUTIVES Element sozialer Prozesse und Strukturen?
2.) Wie wurde das Verhältnis von psychischer zu physischer Gewalt/Macht soziologisch-strukturell thematisiert?
3.) Wie wurde das ontologisch/epistemologische Thema „SozialREALISMUS/SozialKONSTRUKTIVISMUS“ behandelt?
HG Gerhard Schwartz
Meine Rezension zu „Theorien der Gewalt“ bei Amazon: https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=2153175093230554038#editor/target=post;postID=2100376775076067961;onPublishedMenu=overviewstats;onClosedMenu=overviewstats;postNum=11;src=postname