„Man darf sich nie von seinem Gegner den Grad der Radikalität des eigenen Denkens und Handelns vorschreiben lassen“. Hans Paul Bahrdt und die „68er“-Bewegung. Ein Gespräch mit Wolfgang Eßbach (Teil 1)

Römer:

Lieber Herr Eßbach, im Rahmen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) werden Sie über den Kriegsheimkehrer und Soziologen Hans Paul Bahrdt reden und Bahrdts Weg zur Soziologie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg skizzieren. Bereits im Wintersemester 2015/16 haben Sie einen autobiographisch orientierten Vortrag über Ihre Zeit in Göttingen von 1966 bis 1986 gehalten, in dem auch Bahrdt eine wichtige Rolle spielte. Es liegt deshalb nahe, in einem Gespräch auf die Verknüpfungen zwischen beiden Vorträgen etwas ausführlicher einzugehen. Bahrdt selbst war ja in den 1960er Jahren neben dem aus Wilhelmshaven gekommenen Max Ernst Graf zu Solms Roedelheim das professorale Gesicht des Göttinger Soziologischen Seminars. Zugleich hatte Bahrdt schon in den späten 1950er Jahren mit den gemeinsam mit Heinrich Popitz, Ernst August Jüres und Hanno Kesting durchgeführten empirischen Untersuchungen in der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets als Industriesoziologe auf sich aufmerksam gemacht – eine Untersuchung, die nicht nur wichtige methodologische Innovationen bot, sondern auch in der zwischen Soziologie, Sozialdemokratie und westdeutscher Linker ausgetragenen Diskussion über die Klassenstruktur der Bundesrepublik intensiv zur Kenntnis genommen wurde. Mit dem 1961 erschienenen Buch „Die moderne Großstadt“ wirkte Bahrdt über eine engere Fachöffentlichkeit hinaus in andere Berufsfelder wie zum Beispiel Architektur und Stadtplanung. Er machte Mitte der 1960er Jahre außerdem eine Sendereihe für das Fernsehen, um die Soziologie einem breiteren Publikum zu präsentieren und war Impulsgeber für die Gründung des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) in Göttingen.

Kurzum: Bahrdt war ein öffentlicher Soziologe, wie er im Bilderbuch steht, und in der Zeit, in der Sie nach Göttingen kamen, auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft und Bekanntheit. Aus Schilderungen von heutigen Studierenden der Soziologie weiß man, dass ProfessorInnen mit vergleichbarer öffentlicher Breitenwirkung für die unteren Semester jenseits der großen Vorlesungen nur noch schwer greifbar sind. Bahrdt, der sich auch mit dem Phänomen der „Massenuniversität“ kritisch auseinandersetzte und bereits in seiner Zeit die Humboldtsche Einheit von Lehre und Forschung durch ein „Bermudadreieck“ aus Forschung, Lehre und Verwaltung ersetzt sah, hat dieses Dilemma sehr viel früher als die meisten seiner Fachkollegen auf den Punkt gebracht. Umso spannender ist natürlich die Frage, wie Sie damals als Student im unteren Semester den Professor und akademischen Lehrer Bahrdt wahrgenommen haben?  Wie muss man sich die damaligen Verhältnisse im Soziologischen Seminar vorstellen? War Bahrdt für seine Studierenden ein wirklicher Gesprächspartner oder wurde er durch einen ganzen Verwaltungsstab an Assistenten gegenüber dem Lehrbetrieb abgeschirmt?

 

Eßbach:

Was Bahrdts Rolle als öffentlicher Soziologe angeht, so profitierte er davon, daß im Unterschied zur heutigen Situation die Sozialwissenschaften und das Fach Soziologie in den 1960er Jahren im Aufwind waren. Soziologie galt zumal in den Prägungen, die aus den USA kamen, als das ideale Fach zur Einübung in die Demokratie. Soziologie war schick und modern.  Attraktiv war die Generalthese, daß alle Missstände nicht darauf zurückzuführen waren, daß es unfähige, feige, faule oder bösartige Menschen gibt, sondern daß die Übel dieser Welt gesellschaftliche Ursachen haben.  In gewisser Weise konnte man sich in Verantwortungsfragen ein wenig entlasten und gesellschaftliche Ursachen verantwortlich machen. Es gab eine enorme Nachfrage nach den gesellschaftlichen Ursachen für dieses oder jenes. Bahrdt hat diesen Aufwind gut genutzt.

Persönlich habe ich Bahrdt als einen geduldigen Professor wahrgenommen, nicht nur, wenn es darum ging, zu verstehen, was in sozialen Prozessen vor sich geht, sondern auch, wenn er auf studentische Wortmeldungen reagierte. Er fragte dann nach: meinen Sie das so oder so? Er war zutiefst dialogisch orientiert, griff mögliche Einwände auf, er liebte es zu argumentieren, das Für und Wider abzuwägen. Für Thesen, die in den Raum gestellt wurden, verlangte er ein anschauliches Beispiel. Und Bahrdt verfügte über die vis comica, die Tugend des Humors.  Ein Höhepunkt im Semester war der Dienstag, weil meist an diesem Tage das Bahrdtsche Hauptseminar terminlich so gelegt war, daß man anschließend den Abend zusammen in der Kneipe verbringen und bis spät diskutieren und Erzählungen austauschen konnte.

 

Römer:

Vielleicht können Sie an dieser Stelle etwas zu Bahrdts Idee von Universität und Studium sagen? Eine Frage, die ja auch gerade deshalb von Interesse ist, weil das Fach Soziologie unter seiner Leitung die in dieser Zeit übliche Umstellung auf das Diplom nicht mitmachte – eine Weigerung, die in Zeiten von Bologna undenkbar ist!

 

Eßbach:

An Fragen der Reform der Universitäten hat sich Bahrdt intensiv beteiligt, in vielen Punkten durchaus im Einklang mit studentischen Forderungen. Die Universität hatte für ihn einerseits großbetriebliche Züge, andererseits war das Verhältnis von Hochschullehrern und Studenten keines, das auf Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen beruht. Demokratisierbar in einem technischen Sinn war die Universität für Bahrdt auch dann nicht, wenn alle, die in ihr leben, echte Demokraten sind. Wo Lernerfolge überprüft werden, sind hierarchische Strukturen unvermeidlich. Entschieden eingetreten ist Bahrdt für die Institutionalisierung von „Mitbestimmung“.

Was die konkrete Studiengangsplanung betraf, war Bahrdt eher zurückhaltend. Die Einführung der Zwischenprüfung hat er mitgemacht, aber eine Stufung, die über die Differenzierung Proseminar, Hauptseminar, Oberseminar hinausging, lehnte er ab. Manchmal kündigte er ein Seminar mit dem augenzwinkernden Zusatz „Für fortgeschrittene Anfänger“ an. Im Übrigen war er der Auffassung, Studenten kommen an die Uni und legen sich unter die Sonne der Wissenschaft. Die einen bekommen schnell einen Sonnenbrand, bei anderen dauert es länger, bis sie von der Soziologie entflammt sind. Bei wem das nicht klappt, der sollte etwas anderes studieren.

 

Römer:

Wenn wir über die Göttinger Soziologie in den 1960er Jahren reden, so dürfen wir über die westdeutsche Hochschulprotestbewegung natürlich nicht schweigen. Sie waren ja in dieser Zeit selbst im SDS engagiert und zudem in den Jahren 1967/68 Vorsitzender des Göttinger AStA. Von Bahrdt selbst wissen wir, dass er die Studentenbewegung in ihren Anfängen wohlwollend begleitete. Zu einem Bruch scheint es erst zu kommen, als ihm klar wird, dass die vom SDS Anfang bis Mitte der 1960er Jahre erhobenen Forderungen nach einer für Bahrdt ebenso notwendigen Reform von Universität und Studium durch die fundamentale Politisierung eines Generationenkonfliktes überformt werden – oder wie Bahrdt es selbst gesagt hat, „privates Elend durch politische Aktivität“ ausagiert wird.

 

Eßbach:

Darauf möchte ich ausführlicher antworten. Ende der 1970er und in den 1980er Jahren lautete Bahrdts spätes, überraschendes Urteil über die Studentenbewegung: Sie sei eine „zutiefst unpolitische Bewegung“ gewesen. Aber anfangs hat Bahrdt die studentischen Proteste nicht nur mit distanzierter Sympathie betrachtet, sondern die Funktion eines politischen Mentors übernommen. Auf der großen Demonstration am 5. Juni 1967 in Göttingen, an der mehrere Tausend Studenten teilnahmen, ging er in der ersten Reihe, und er gehörte zu den Rednern auf dem Platz vor dem Rathaus. Ende Juni 1967 hielt er im Hessischen Rundfunk einen Vortrag zum Thema „Taktische Ratschläge zur Politik der Studenten“. Es lohnt sich aus diesem Text ausführlicher zu zitieren. Im Stil von Clausewitz stellte er drei Regeln auf:

1. Regel: „Man darf sich nie von seinem Gegner den Grad der Radikalität des eigenen Denkens und Handelns vorschreiben lassen.“

2. Regel: „Der Grad der Radikalität oder Kompromißbereitschaft (…) bestimmt sich nach der Phase des politischen Prozesses. Es gibt vor allem 2 Situationen, in denen Radikalität geboten ist. Einmal wenn nach einer schweren politischen Niederlage auf lange Zeit keine Möglichkeit besteht, offensiv zu werden. Wenn nur noch zu hoffen ist, daß ein Häuflein der Aufrechten in irgendeiner Nische der Gesellschaft überwintern kann, dann ist es wichtig, nach Sektenart die ‚reine Lehre‘ zu hüten. (…) Die andere Situation, in der sich Radikalisierung empfiehlt, tritt kurz vor dem Sieg ein. Wenn der Sieg schon sicher, aber noch nicht errungen ist, muß man die Ziele entschiedener und radikaler formulieren, als man es sich vorher leisten konnte.“ Der erste Alternative dieser Regel hat sich denn auch zwei Jahre später nach der Niederlage der Studentenbewegung 1969 bewahrheitet. Es setzte die Phase der sektenartigen Verknöcherung ‚reiner Lehren‘ z.B. in den K-Gruppen ein. Von einem nahen Sieg, der eine Radikalisierung gerechtfertigt hätte, waren wir Studenten damals immer weit entfernt.

Die 3. Regel lautete: „Eine Massenbasis findet man nur dann, wenn man wenigstens ein Thema findet, das sowohl für den Kern der opponierenden Gruppe als auch für die breite Öffentlichkeit von zentraler Wichtigkeit und glaubwürdig ist. Wer auf der Suche nach Resonanz immer wieder neue Themen aufgreift, die alle für sich einen guten Grund zur Erregung abgeben mögen, entfacht nur ein eklektisches Dauerstrohfeuer.“ Nur „wenn sich die aktuellen anstößigen Ereignisse als Erscheinungsformen eines allgemeinen Mißtstandes einfach und einleuchtend interpretieren lassen, gewinnt man langfristig Vertrauen und kann vom hektischen Revoluzzertum zur kontinuierlichen politischen Strategie übergehen.“

Hier hatte Bahrdt ein Kernproblem der Protestbewegung getroffen. „Wir wollen alles“, dieser Titel einer Zeitschrift der 1970er Jahre brachte dies unverhüllt zum Ausdruck, es sollte buchstäblich Alles ganz anders werden.

 

Römer:

Was war denn seine Position ein Jahr später auf dem Höhepunkt des Jahres 1968?

 

Eßbach:

Dazu lohnt es sich Bahrdts Rezension des Bandes „Rebellion der Studenten oder die Neue Opposition“ mit Beiträgen von Dutschke, Lefèvre, Bergmann und Rabehl zu lesen, der kurz nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 erschienen war, und mit einer Auflage von über 130.000 Exemplaren auf der Spiegel-Bestsellerliste stand. Unter dem Titel Mangel an Augenmaß kritisierte Bahrdt, den Versuch zwei Themen miteinander zu verbinden, von denen ein jedes für sich genommen durchaus protestwürdig sei: die Kritik an der Universität und die Kritik am Vietnamkrieg.

Dem ersten Beitrag von Uwe Bergmann konzediert Bahrdt, daß er „zwar nicht unparteiisch, aber doch mit gewisser Distanz, einen historischen Überblick über die Berliner Ereignisse bis zum 2. Juni 1967“ gibt. Dem Leser werde vor Augen geführt, „wie gerade an der Freien Universität Berlin, einer politischen Gründung mit Reformprogramm, die inneruniversitären Konflikte exemplarische Schärfe gewinnen und sich auf eine Thematik ausweiten mußten, die die alten Ärgernisse der deutschen Universität weit überschreitet.“ Worum es bei dieser Ausweitung geht, das versuchten die Beiträge von Dutschke und Lefèvre zu zeigen. Die Vorgänge an den Universitäten seien für sie „nur Teil einer weltweiten Revolution, die mit dem Begriffsapparat der neueren marxistischen Revolutionstheorie erklärt wird.“

Bahrdt leistet in dieser Rezension zweierlei: Zum einen erklärt er den Spiegellesern geduldig, wie die Autoren des Bandes argumentieren, und „warum so intelligente Autoren mit einem ungewöhnlich anspruchsvollen Vokabular auch verhältnismäßig harmlose Sit-ins, Asta-Erklärungen und Spaziergangdemonstrationen mit der gleichen Leidenschaft erörtern wie die Vorgänge in Vietnam, im Kongo oder in Lateinamerika.“ Zum anderen kritisiert er den Mangel an Augenmaß, nicht ohne zu bemerken, daß die Autoren „nichts dafür können, daß sie in der Bundesrepublik noch nicht in eine wirklich revolutionäre Situation geraten sind und die deshalb über eine beschränkte Erfahrung verfügen“.

Zu Lefèvres Analyse der traditionellen Strukturen der deutschen Universität schreibt Bahrdt: „Wenn auch in einer kaum zulässigen Vereinfachung, so wird hier doch der Kern des gebrochenen Verhältnisses der deutschen Universität zur Politik getroffen.“ Auch die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg werden anerkannt. Sie seien „eine deutliche Willenskundgebung, die mit zahlreichen anderen Demonstrationen in aller Welt dazu beitrug, den Amerikanern, die gern geliebt werden, vor Augen zu führen, daß auch unter ihren treuen Bundesgenossen ihre Vietnam-Politik nicht gebilligt wird. Das ist nicht viel, aber es bedeutet für die ‚Tauben‘ in den USA eine gewisse propagandistische Unterstützung.“

Es ist der Zusammenschluß der Proteste gegen den unpolitischen Elfenbeinturm der traditionellen Universität mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg und die Einordnung in den imaginierten weltweiten revolutionären Prozeß, in dem Bahrdt einen gravierenden Mangel an Augenmaß sieht.

Gebe man den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg „eine Funktion in einem revolutionären Eskalationsprozeß, der angeblich in der Bundesrepublik schon begonnen hat, dann liegt eine völlige Fehleinschätzung der politischen Situation vor.“ Bahrdt kritisiert die Art und Weise, wie „die verschiedenen Formen und Eskalationsstufen studentischer Politik als ein politischer Lernprozeß, als ein Prozeß der Bewußtwerdung und damit auch als Vorstufen oder bereits als Frühphasen einer revolutionären Bewegung gedeutet“ werden, so etwa, wenn „die Ereignisse des 2. Juni 1967 bereits als bürgerkriegsähnlich gedeutet“ werden. Und Bahrdt fragte: „Hat durch den internen Kampf in der Universität wirklich ‚Vietnam viel von seiner scheinbaren Abstraktheit‘ verloren, wie Dutschke meint?“

Welche Wege könnte die Protestbewegung nach Auffassung des politischen Mentors der Protestbewegung einschlagen? Bahrdt skizziert drei Alternativen: 1. Mit der provokativen Entlarvungsstrategie, die der Selbstüberschätzung folgt, sich in einem revolutionären Prozeß zu befinden, kommt es zu Fehlinterpretationen „der Kurzschlußreaktionen unseres verängstigten Establishments“, und man riskiert „Blutbäder, bevor das System, das sturmreif gemacht werden soll, begonnen hat, seine Machtreserven zu mobilisieren, die natürlich sehr viel größer sind, als sie im Kuba Batistas waren.“ 2. Die studentische Opposition macht sich auf den Weg in das Getto des Sektierertums. 3. Die Protestbewegung trägt mit zur Bildung einer neuen Opposition bei, die die Verhältnisse ändert. Die Studenten könnten dabei „ohne Zweifel eine wichtige Rolle, in gewisser Hinsicht die einer Avantgarde, spielen. Immerhin haben sie gezeigt, daß außerhalb der Institutionen und etablierten Parteien bei minimalem Organisationsaufwand mit Massenaktionen zielbewußt politisch gehandelt werden kann.“ Und gegen mögliche Einwände von konservativer Seite fügt Bahrdt hinzu: „Mit ‚Vermassung‘ hat dies nichts zu tun, allerdings mit der Entstehung eines neuen plebiszitären Elements, auf das auch eine repräsentative Demokratie nicht verzichten kann. Hier haben sich die Väter des Grundgesetzes und unsere arrivierten Parteipolitiker geirrt.“ Für diesen Weg sei freilich „eine Wendung zu einer Volksfront- oder Koexistenzkonzeption“ erforderlich. Was die Autoren daran hindert sei, der „Systemzwang ihres Spätmarxismus“.