It’s this time of the year again: Morgen beginnt an der Universität Göttingen der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Irgendwo zwischen Sektionen, Festvorträgen, Mitgliederversammlung und Kongress-Party ist die Tagung ein jahrgangsübergreifendes Wiedersehen und Kennenlernen mit jungen und alten Soziolog*innen. Die Anmeldungen gehen in den vierstelligen Bereich, die Göttinger Hotelindustrie hat eine gute Zeit und heute und morgen begeben sich überall in Deutschland Personen mit Rucksack und Rollkoffer zum nahen Bahnhof.
Die meisten Kongress-Teilnehmer*innen reisen wahrscheinlich mit der Bahn – Bahnpendeln ist in akademischen Kreisen schließlich eingeübte Praxis, zwischen alter und neuer Arbeitsstelle, zwischen Wohn- und Arbeitsort, zu Beziehungspartner*innen, Verwandten, Kongressen, Workshops, Vorstellungsgesprächen usw. Dabei Bahnfahren ist in Wissenschaftskreisen längst Ideologie geworden; der Verweis, wie effizient man dort arbeiten könne, überdeckt die eigene Prekarität und Fremdbestimmtheit. Umso besser, wenn man nicht alleine ist: Auf den Bahnhöfen der Republik (und des nahen Auslands) treffen die Anreisenden neben Wochenendpendler*innen, Fußballfans usw. auch auf verwandte Akademiker*innen, genauer auf Politikwissenschaftler*innen und auf Historiker*innen. Zeitgleich mit der Soziologie halten diese beiden größten Nachbardisziplinen ebenfalls ihre (zwei-)jährlichen Kongresse ab. Der Verein für Politische Wissenschaften tagt in Frankfurt am Main, in Münster ist Historikertag. Im Hintergrund der Terminwahlen mögen wichtige Gründe und unabwendbare Sachzwänge stehen, vordergründig ist der Eindruck aber unglücklich. Während Interdisziplinarität bei Forschungsvorhaben groß geschrieben wird, zwingt der Kongressbesuch zur Entscheidung: Soziologin und Politikwissenschaftlerin sein – das geht dieses Jahr nicht. Personen und Projekte – etwa Forschungsverbunde – die sich in mehr als einer Welt sehen werden gezwungen, sich zu positionieren. Angesichts der Überschneidung werden sich nur wenige Kolleg*innen dieser beiden Disziplinen zum Soziologiekongress kommen – und vice versa. Das hat Konsequenzen: Der Blick von außen wird diesem Soziologiekongress in wichtigen Teilen eher fehlen. Die Erschütterung lieb gewonnener Entwicklungsnarrative durch historische Erforschung spezifischer Details etwa muss unterbleiben. Mehr noch: Die Beziehungen der Disziplinen untereinander werden in der kommenden Woche nicht zum Thema gemacht – in keiner Stadt. Die Frage, was wir eigentlich voneinander lernen könnten, unterbleibt. Doch während sich die Disziplinen in räumlicher Distanz üben, sind die Themen der Kongresse verwechselbar. Gespaltene Gesellschaften, Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen, Grenzen der Demokratie. Kein Motto verweist auf eine abgrenzbar soziologische, politikwissenschaftliche oder historische Thematik oder Methodik. Angesichts der Vielfalt innerhalb der Disziplinen braucht das nicht verwundern und es ist auch kein Ausdruck von Beliebigkeit, aber die Frage bleibt: Wenn wir uns so (vermeintlich?) ähnlich sind: Sollten wir es nicht schaffen uns häufiger zu sehen?
Auch, wenn sich die Soziologie auf ihrem Kongress mit Historischem beschäftigt, kann ein Selbstbezug festgestellt werden. Geschichte in der Soziologie ist vor allem Geschichte der Soziologie. Eine interessante Ausnahme bilden Beiträge zu außereuropäischen Räumen, die im Titel häufiger einen historischen Bezug aufweisen.
Ein Unterschied allerdings fällt bei der Durchsicht des Programms sofort ins Auge: Die Wahl des Gastvortragenden. Die Politikwissenschaft hat sich den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier gesichert während der Historikertag mit dem zweiten Mann im Staat, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vorlieb nehmen muss; Bettina Gaus hält den Eröffnungsvortrag beim DGS-Kongress und schreibt für die taz. Staatswissenschaft möchte die Soziologie nicht sein, die Bestätigung der eigenen Relevanz durch Repräsentanten der Herrschaft wird nicht gesucht. Dennoch ist es wichtig zu fragen: Für wen machen wir Soziologie und wer nimmt uns wahr? Die Sonderveranstaltung ‚Soziologie für alle‘ am Donnerstagabend beschäftigt sich mit diesem Thema. Anknüpfungspunkte an diese Frage bietet schließlich die Diskussion um die Akademie für Soziologie, die auch auf diesem Blog bereits geführt wurde, und die sich einerseits um Begriffe, wie Evidenz, Empirie, Objektivität und Wissenschaftlichkeit dreht, andererseits aber auch fragt, welche Rolle die Soziologie bspw. in der Politikberatung einnehmen soll. Obwohl diesen Fragen keine eigenen Panels gewidmet sind, haben sie das Potential zu einem präsenten Thema dieser Tagung zu werden – ob als Nachfrage in Sektionen oder immer wiederkehrendes Pausengespräch.
Gibt es ansonsten Megatrends in der deutschsprachigen Soziologie? Wahrscheinlich nicht. Die komplexen Dynamiken verweisen schließlich nicht nur auf die Welt da draußen, sondern auch auf die Komplexität und Vielgestaltigkeit nach innen. Die Antwort auf die Frage „Was macht eigentlich die Soziologie?“ wird am Freitag keineswegs einfacher oder gar kürzer ausfallen, vielleicht aber anders und eventuell sogar besser.