Beitrag 6: Basistheoreme der Kriegsgesellschaftstheorie
Kriegsgesellschaftstheorie im hier verstandenen Sinn befasst sich mit durch Kriege ausgelöste Transformationen gesellschaftlicher Strukturen. Es geht also nicht um Ursachen, sondern um gesellschaftliche Wirkungen von Kriegen. Doch längst nicht jeder Krieg führt zu einer gesellschaftlichen Transformation. Ich habe im Beitrag 5 folgende Typen der gesellschaftstransformativen Kraft von Kriegen unterschieden: Kriegsgesellschaft (als Ergebnis kriegsbedingter gesellschaftlicher Transformation), antizipative Kriegsgesellschaft (ohne manifesten Krieg in Erwartung eines großen, tendenziell totalen Krieges), Kriegführende Zivilgesellschaft (ohne gesellschaftliche Transformation), Zivilgesellschaft im Krieg (Kriegsbeteiligung ohne eigene Streitkräfte, gleichbleibende Basisstrukturen wie Markt und Demokratie bei verändertem institutionellem Arrangement), reine Zivilgesellschaft (ohne Kriegsbeteiligung und Kriegsbedrohung). Ich möchte in diesem Beitrag sieben Basistheoreme der Kriegsgesellschaftstheorie kurz skizzieren.
Die Kriegsgesellschaftstheorie thematisiert also die gesellschaftlichen Wirkungen großer, langdauernder, tendenziell totaler Kriege. Pointiert kann man die Kriegsgesellschaftstheorie auf sieben Basistheoreme hin zuspitzen:
- Krieg als Mobilisierungswettlauf
Krieg wird aus kriegsgesellschaftlicher Perspektive als Mobilisierungswettlauf verstanden. Es geht um eine möglichst umfassende, effektive Mobilisierung menschlicher und materieller Ressourcen für den Krieg. Theoretisch betrachtet, gewinnt ceteris paribus die Kriegspartei, welche die meisten Soldaten und Arbeiter mobilisiert und diese am besten organisiert. Der Fokus der Kriegsgesellschaftstheorie liegt also nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf den mobilisierten kriegswichtigen Ressourcen. Eine derartige Sichtweise vertritt, ohne Bezug auf Spencer, Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte (1987), der den Ausgang der großen europäischen Kriege seit 1500 primär über die den Kriegsparteien zur Verfügung stehenden Ressourcen erklärt. Ein Beispiel wäre der amerikanische Sezessionskrieg 1861-1865, indem die besser geführten Streitkräfte der Südstaaten zwei Jahre lang militärisch erfolgreich waren, aber am Ende den überlegenen personellen und industriellen Ressourcen der Nordstaaten unterlagen.
- Der Mobilisierungswettlauf führt zu einer gesellschaftlichen Transformation
Die Transformation zu einer Kriegsgesellschaft erfolgt, weil fundamentale Strukturen einer modernen Gesellschaft, insbesondere Markt und parlamentarische Demokratie, sich in großen, langdauernden, tendenziell totalen Kriegen als suboptimal, ja inadäquat erweisen. Sie sind nicht geeignet, um eine Konzentration gesellschaftlicher Ressourcen für die Kriegsführung zu gewährleisten. Die Märkte sind nicht in der Lage, die kriegsbedingte Dynamik zu verarbeiten. Sie können die explodierende Nachfrage nach Waffen und Munition nicht bewältigen. Der Arbeitsmarkt droht zu kollabieren, weil Millionen Menschen als Soldaten eingezogen werden. Aufgrund der kriegsbedingten Verknappung von Lebensmitteln steigen die Preise, so dass die Grundversorgung der armen Bevölkerungsschichten nicht gewährleistet ist.
Niederlagen an der Front erzwingen eine Neuorganisation der Gesellschaft, eine kriegsgesellschaftliche Transformation.
- Zentrale Steuerung
In der Kriegsgesellschaft ist eine zentrale Steuerung zwingend notwendig, denn sie ist Voraussetzung für eine effektive Mobilisierung. Nur eine zentrale Steuerung gewährleistet die Konzentration der gesellschaftlichen Ressourcen für die Kriegführung. Sie ermöglicht eine maximale Mobilisierung von Soldaten und ihren koordinierten Einsatz im Krieg, die Konzentration der Rohstoffe zugunsten der Produktion von Waffen und Munition und die Loyalität einkommensschwacher Schichten durch Fixierung von Lebensmittelpreisen oder Mieten.
Die zentrale Steuerung betrifft insbesondere das Wirtschaftssystem, aber auch andere gesellschaftliche Teilsysteme. Die Wissenschaft wird für die Kriegsführung instrumentalisiert. Die Naturwissenschaften für waffentechnische Innovationen, z. B. im Zweiten Weltkrieg für die Erfindung der Atombombe. Die Geistes- und Sozialwissenschaften für Planung und Sinnstiftung. Das Erziehungssystem für vormilitärische Erziehung in der Schule.
Instrument der zentralen Steuerung ist die Bürokratie, so das große Kriege mit einer Bürokratisierung der Gesellschaft einhergehen. Zentrale Steuerung mithilfe von Verwaltung und Selbstmobilisierung von unten schließen sich jedoch nicht aus.
- Tendenziell diktatorische Spitze
In großen, langdauernden, tendenziell totalen Kriegen ist die Herausbildung einer Spitze mit hoher Machtkonzentration notwendig, um die Mobilisierung und Allokation der gesellschaftlichen Ressourcen für den Krieg zu gewährleisten und rasche Entscheidungen zu ermöglichen.
Das parlamentarische Prozedere ist für große, langdauernde, tendenziell totale Kriege ungeeignet, weil viel zu zeitaufwendig und zu schwerfällig. Als Konsequenz bilden demokratische Staaten in Kriegen parteiübergreifende Kriegskabinette, die nur aus wenigen Mitgliedern bestehen und rasche, sachgerechte Entscheidungen gewährleisten sollen. An der Spitze steht ein Regierungschef mit außerordentlichen Vollmachten, z. B. Beispiel in Großbritannien im Ersten Weltkrieg Lloyd George (1916-1918), im Zweiten Weltkrieg Winston Churchill (1940-1945).
Traditionelle Monarchien, diktatorische und autoritäre Systeme sind besser, weil strukturell adäquater für den Kriegsfall aufgestellt als Demokratien.
- Patriotische Vergemeinschaftung
Je weniger und schwächer interne Konflikte, desto größer die Erfolgschancen einer Kriegsgesellschaft. Die Devise der Kriegsgesellschaften im Ersten Weltkrieg war daher „Burgfrieden“ und „union sacrée“. Die Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition ist weitgehend aufgehoben, Regierungen der nationalen Einheit werden gebildet. Klassenkämpfe, Streiks und politische Konflikte werden suspendiert. Partikulare Interessen werden dem kollektiven Kriegserfolg untergeordnet.
- Kriegsgesellschaftliches Dilemma
Die militärische und ökonomische Mobilisierung für den Krieg geht zu Lasten der Versorgung, insbesondere der zivilen Bevölkerung. Je mehr Soldaten, Waffen und Ausrüstung mobilisiert werden, desto weniger bleibt für die Versorgung. Mobilisierung droht daher, auf Dauer die physische und psychische Basis der Kriegführung zu untergraben. Je stärker an der Mobilisierungsspirale gedreht wird, desto wahrscheinlicher sind ceteris paribus Desertationen, Rebellionen und Revolutionen. Ich bezeichne das als kriegsgesellschaftliches Dilemma. Das Dilemma besteht darin, entweder die militärische Kraft nicht voll zu entfalten – mit der Konsequenz der militärischen Niederlage – oder elementare Grundbedürfnisse zu vernachlässigen und damit Desertationen, Unruhen und Revolutionen der erschöpften, hungernden Soldaten und Zivilisten zu riskieren. Das kriegsgesellschaftliche Dilemma führte im Ersten Weltkrieg zum inneren Zusammenbruch Russlands, Österreich-Ungarns und Deutschlands. Kriegsgesellschaften sind parasitäre Systeme.
- Zivilgesellschaftliche Re-Transfomation
Nach dem Ende eines „großen“ Krieges, z. B. nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, kommt es in den beteiligten Gesellschaften zu einer zivilgesellschaftlichen Re-Transformation. Insbesondere demokratisch-rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Strukturen bilden sich wieder heraus, allerdings oft mit im Vergleich zur Vorkriegszeit veränderten institutionellen Arrangements. So wird z. B. nach den Weltkriegen das Wahlrecht verändert bzw. erweitert. Insbesondere das Frauenwahlrecht wird während des und nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt.
Moderne Gesellschaft als Doppelgestalt von Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft
Kriegsgesellschaftstheorie im hier verstandenen Sinn ist dadurch charakterisiert, dass sie, anders als häufig in soziologischen Theorien, moderne Gesellschaft nicht mit (kriegsfreier) Zivilgesellschaft gleichsetzt. Vielmehr versteht sie moderne Gesellschaft als Doppelgestalt von Zivil- und Kriegsgesellschaft.
Man kann die hier präsentierten sieben Theoreme der Kriegsgesellschaftstheorie durch weitere ergänzen, z. B. zur kulturellen Dimension. Man kann sie auch komplexer formulieren. Sinnvoller erscheint mir, Komplexität über vergleichende Beobachtung und Analyse historischer Einzelfälle einzubringen. So gesehen ist das, was ich als Kriegsgesellschaftstheorie bezeichne, eine Heuristik zur historisch-soziologischen Beschreibung und Analyse, aber kein Schema, in das die historische Wirklichkeit gepresst wird.
Kriegsgesellschaftliche Transformation kann man historisch am besten studieren am Fall des Ersten Weltkriegs. Der folgende Beitrag analysiert, wie und warum es im Ersten Weltkrieg zu einer kriegsgesellschaftlichen Transformation kann.