In feministischen Reaktionen auf die antisemitischen Massaker des 7. Oktober und den darauffolgenden Krieg in Gaza wird häufig ein intersektionales Grundverständnis bemüht, nach dem Feministinnen nicht die Augen vor anderen Unterdrückungsformen verschließen dürften. Auffällig ist dabei, dass der Antisemitismus weitgehend ausgeblendet wird, insbesondere jener der Hamas. Daraus und aus weitreichender Unkenntnis der Geschichte resultiert, dass im Rahmen zahlreicher Kontextualisierungen des 7. Oktober Israel als vorgeblicher Siedlerkolonialstaat delegitimiert und die antisemitisch-misogynen Taten der Hamas als Widerstandshandlung zumindest implizit legitimiert werden.[1] Meine Frage ist nun, was ein intersektional-feministischer Zugang braucht, um die Ereignisse des 7. Oktober angemessen in ihrer antisemitischen und misogynen Dimension zu analysieren und kritisieren.
Zunächst besteht das Problem, dass mit dem klassischen Intersektionalitätskonzept, das mit der Trias race – class – gender arbeitet, zwar Rassismus und Sexismus in gegenseitiger Verkopplung analysiert werden können, Antisemitismus mit diesem Konzept jedoch kaum erfasst werden kann. Grund dafür ist, dass er nicht so konkret auf die Diskriminierung und Ausbeutung einer bestimmten Gruppe durch eine andere rückführbar ist wie Rassismus oder Sexismus. Analytisch gilt es, grundlegende Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus zu berücksichtigen, um beide in Relation miteinander erkennen zu können. Während sich im Rassismus das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis auf die Spitze getrieben manifestiert – er legitimiert die Überausbeutung rassifizierter Menschen jenseits bürgerlicher Arbeitsvertragsverhältnisse[2] –, geht es im Antisemitismus nicht um die Ausbeutung von Juden:Jüdinnen, sondern darum, sie für alle Übel des Kapitalismus und der Moderne verantwortlich zu machen. Der Antisemitismus projiziert das Unrecht der kapitalistischen Gesellschaft auf die Juden – sie stünden als Strippenzieher hinter der Ausbeutung (rassifizierter) Menschen und würden davon profitieren.
Dieser Mechanismus des modernen Antisemitismus wiederholt sich heute über den Umweg der pauschalisierenden „Israelkritik“, die dem Staat der Holocaustüberlebenden und ihrer Nachkommen das Existenzrecht abspricht. Israel wird dabei seitens der Nachkommen der Nazis ebenso wie seitens der Nachkommen ehemaliger Kolonialisten als Siedlerkolonialstaat, Apartheitsstaat und rassistisches Projekt delegitimiert. Ähnlich wie beim antisemitischen Slogan, dass Zionisten Nazis seien, hat auch die falsche Kolonialismus- und Apartheitsanschuldigung eine entlastende Funktion. Israel wird alle Schuld aufgebürdet, welche die ehemaligen Kolonialstaaten historisch auf sich geladen, jedoch nicht aufgearbeitet haben.
Die Verschwörungsideologie ist dem Antisemitismus so zentral, dass er im Grunde nicht ohne sie auskommt. Davon zeugt heute die Ideologie vom großen Austausch im identitären Milieu, nach der Juden bzw. Israel die Migrationsbewegungen vom Nahen Osten nach Europa steuern würden mit dem Ziel, die Kultur des Abendlandes zu zerstören. Solche Verschwörungsmythen sind Kernbestandteil des Antisemitismus, dem Rassismus hingegen sind sie völlig fremd.
Dieser fundamentale Unterschied ist auch ein Grund für die Leerstelle Antisemitismus im Intersektionalitätsparadigma. Intersektionalität erklärt, warum und wie Menschen in die gesellschaftliche Position der Minderwertigkeit gedrückt werden und welche Auswirkungen das auf ihre Lebenssituation und ihre Identität hat. Antisemit:innen aber sehen Jüdinnen:Juden nicht als minderwertig, sondern als übermächtig. Auch in intersektionalen Zusammenhängen werden Juden:Jüdinnen häufig nicht als sozial und ethnisch diverse, aber gleichwohl global verfolgte Minderheit mit special interests gesehen, sondern ausschließlich als Verterter:innen einer hegemonialen weißen westlichen Ordnung, welche den Globalen Süden unterdrückt. Der gegen Israel gerichtete Antisemitismus kann daher sogar als ein legitimer Aufschrei der Unterdrückten legitimiert werden. Eine solche ideologische Gemengelage tritt seit dem 7. Oktober insbesondere an westlichen Universitäten in den Vordergrund und bedroht die Sicherheit von Jüdinnen:Juden. Intersektionalität wird deshalb zunehmend als ein politischer Slogan zur Delegitimierung jüdischer/israelischer Identitäten gesehen.
Antisemitismus als intersektionale Ideologie
Dabei entpuppt sich der Antisemitismus bei näherer Betrachtung selbst als intersektionale Ideologie, indem er sich insbesondere mit sexistischen und homophoben Momenten vermischt. Für solche Analyse bedarf es einer veränderten Perspektive auf Intersektionalität – eine, die ich „Intersektionalität von Ideologien“ genannt habe.[3] Dabei folge ich der frühen Kritischen Theorie, insbesondere Theodor W. Adorno und Else Frenkel-Brunswik, die Ideologien als miteinander verbunden erkannt haben. In den Studien zur Authoritarian Personality[4], durchgeführt in den 1940er Jahren in den USA, wurde die von Black Feminists in den 1970er Jahren formulierte Idee des intersektionalen Ineinanderwirkens von Herrschafts- und Diskriminierungsmomenten[5] auf gewisse Weise vorweggenommen. Die Studien kamen zu dem Schluss, dass Ideologien nicht getrennt voneinander auftreten, sondern innerhalb des autoritär-antidemokratischen ideologischen Einstellungssyndroms aufeinander verwiesen sind. Dieser Erkenntnis folgend betrachte ich Ideologien als intersektional: Sie durchdringen und verstärken sich gegenseitig und reformulieren und reaktivieren sich in diesem Prozess beständig neu.[6] Der Antisemitismus erscheint insofern als intersektionale Masterideologie, als er ein ganzes Weltbild beinhaltet, das mit sexistischen, homophoben, nationalistischen oder auch postnationalistischen Momenten operiert und kapitalistische und koloniale Ausbeutung in den Juden personifiziert.
Das Ineinandergreifen von Antisemitismus und Sexismus lässt sich am Beispiel des Islamismus verdeutlichen. Wie im europäischen Antisemitismus stehen auch im Islamismus Jüdinnen:Juden und Zionist:innen für jene Transformationen der Moderne, die abgelehnt werden, weil sie traditionelle, religiös verwurzelte Lebensweisen auflösen.[7] Dazu gehören zentral die traditionellen Geschlechterverhältnisse, die durch Frauenemanzipation und das Streben nach individueller sexueller Selbstbestimmung im Kern erschüttert werden[8] – auch dafür wird der Zionismus verantwortlich gemacht. In der Islamischen Republik Iran bilden eliminatorischer Israelhass und die Geschlechterapartheid, ausgedrückt etwa im Kopftuchzwang, den Kern der Ideologie. Es ist ebenso wenig vorstellbar, dass das Mullahregime das Existenzrecht Israels anerkennt, wie dass es den Kopftuchzwang aufgibt.[9]
Auch die Hamas betont in den Artikeln 17 und 18 ihrer Charta die Bedeutung islamischer Geschlechterverhältnisse für den Jihad und sieht im Zionismus eine zersetzende Kraft. Er würde muslimische Frauen durch Geld und Medien, durch Informationskampagnen, Filme und Lehrpläne manipulieren und vom Islam abbringen. Daher müssten zionistische Organisationen, d.h. Israel, als Feinde des Islam vernichtet und die Sexualität von Frauen und ihre Lebensbereiche strikt kontrolliert werden.[10]
In der Ideologie der Hamas hängt die Rettung der Welt von der Auslöschung Israels und vom sexistisch-homophoben Sexualitäts- und Geschlechterregime ab. Das manifestiert sich in den Vergewaltigungen der Hamas als Ausdruck eines dreifachen Hasses: auf die Jüdinnen:Juden, auf Israel und auf Frauen.
Die Verschmelzung von Sexualität, rigiden Männlichkeitskulten und nihilistischer Todesverehrung ist ein zentrales ideologisches Muster in Sexismus, Antifeminismus, Homophobie oder Transphobie. Diese Ideologien verschränken sich regelmäßig mit Antisemitismus. Der Hass der Hamas richtet sich gegen individuelle Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, Gleichberechtigung der Geschlechter und den Wunsch und das Streben nach Emanzipation und Glück der Einzelnen. Dieser Hass drückt sich in der Ermordung von Jüdinnen:Juden ebenso aus wie in der Ermordung von emanzipierten Frauen und LGBTIQ – sie stehen für diese verhassten Ideale von Freiheit und Glück. Im Antisemitismus, Antifeminismus und Homophobie wird der Wunsch nach Freiheit und Emanzipation selbst ausgerottet. Intersektionale Ideologiekritik macht dies deutlich.
Ich denke, dass eine solche intersektionale Ideologiekritik als Ausgangspunkt einer feministischen kritischen Theorie dienen kann, die patriarchal-islamistische Geschlechterverhältnisse nicht kulturrelativistisch idealisiert und weder den Antisemitismus der Hamas noch das Grauen, das Palästinenserinnen und Palästinenser durchleben, ignoriert. Wir brauchen eine feministische kritische Theorie, die wirklich intersektional ist, damit Antirassismus, Antisexismus und der Kampf gegen Antisemitismus nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden. Das wäre ein wichtiges Signal sowohl für die israelischen Opfer des Hamas-Terrors als auch für die Palästinenser:innen, die frei vom islamistischen Terror der Hamas leben wollen.
Diesen Fragen widmen wir uns bei der diesjährigen Tagung des Arbeitskreises Antisemitismus in der DGS am 21. September 2024 in Kooperation mit dem Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien der Katholischen Hochschule NRW in Aachen.[11]
[1] Exemplarisch seien hier genannt: Palestinian Feminist Collective https://actionnetwork.org/user_files/user_files/000/098/772/original/All_Out_Palestine_Toolkit_3.0.pdf?fbclid=IwAR3e-fON7vRJz560yXzlL-G86FGNsfl8vto1cK4OlvuxNZ- DBS3ZY8_pYE0; Statement by the AG Intersectional Anti-Discrimination UdK Berlin: https://synthmeetfilms.wixsite.com/udkpsg; „Open Letter to the Israeli and U.S. Governments and others weaponizing the issue of rape“ https://stopmanipulatingsexualassault.org [15.7.2024]
[2] Marz, Ulrike (2023): Wut auf Differenz. Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus. Bielefeld: transcript Verlag.
[3] Stögner, Karin (2017): „Intersektionalität von Ideologien“ – Antisemitismus, Sexismus und das Verhältnis von Gesellschaft und Natur. In: Psychologie & Gesellschaftskritik, 41 (2), S. 25-45.
[4] Adorno, Theodor W., Frenkel-Brunswik, Else et al. (2019). The Authoritarian Personality. London/New York: Verso.
[5] The Combahee River Collective Statement (1978) https://www.blackpast.org/african-american-history/combahee-river-collective-statement-1977/ (15.07.2024).
[6] Stögner, Karin (2014): Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen. Baden-Baden: Nomos.
[7] Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. (1997): Elemente des Antisemitismus. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 192-234.
[8] Mernissi, Fatima (1987): Geschlecht, Ideologie, Islam. München: Frauenbuchverlag.
[9] Maani, Sama (2024): “What Israelis should know about Iranians”. Die iranische Gesellschaft und der Antisemitismus des Regimes. In: Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Berlin: Querverlag, S. 111-119, S. 116.
[10] Hamas Covenant (1988): The Covenant of the Islamic Resistance Movement, 18.08.1988, https://avalon.law.yale.edu/20th_century/hamas.asp (15.07.2024).
[11] https://katho-nrw.de/fileadmin/media/foschung_transfer/forschungsinstitute/CARS/Programm_SoAK_2024_E04.pdf