Im Gegensatz zu seinem zweifelhaften Ruf wird das Frankfurter Bahnhofsviertel von Migrant*innen, Diasporagemeinden und ihre Kinder mit unterschiedlichen hybriden Sprachen, Kulturen, Religionen und geteilten Minderheitenidentitäten häufig als ein sicherer Rückzugsort angesehen. Der jüdische Geschäftsmann Steinberg (alle Namen geändert), dessen Großvater seine Karriere als Zigarettenverkäufer im Bahnhofsviertel der 1950ziger begann, sagte dazu: „Das ist das Erstaunliche am Bahnhofsviertel. Jeder weiß, dass wir Juden sind, aber es ist nie ein Thema […] Es ist der einzige Ort, an dem ich mich ganz normal fühle, viel mehr als in diesen bürgerlichen, deutsch dominierten Orten, wo man sich immer ein bisschen anders fühlt“.
In einem ähnlichen Gespräch während eines gemeinsamen Mittagessens eines jüdisch-muslimischen Freundeskreises in der Münchener Straße erzählt Mustafa, dass „Yitzhak und Jakub unsere jüdischen Abis [türkisch für ältere Brüder] aus der Münchener Straße waren“. Er betont: „Wir gingen auf die schlechteste Schule der Stadt und wohnten in diesem überfüllten Haus. Wir waren richtige ›Hosenscheißer‹, aber sie haben uns immer mit Würde behandelt.“ Yitzhak bestätigt dieses Gefühl gegenseitiger Fürsorge und erinnert sich an ein Gespräch mit einem Rabbiner, der ihn fragte, wo er seine Kinder lassen würde, wenn es in der Familie einen Notfall gäbe. Ohne zu zögern antwortete Yitzhak: „Natürlich zu den Türken [gemeint waren die Familien von Mustafa und Ahmet]. Die lassen mich immer rein, auch um drei Uhr morgens.“ Tatsächlich hat ein muslimischer Jugendlicher viele Jahre lang auf Jakubs Kinder aufgepasst.
Im Rahmen meiner Untersuchung im Frankfurter Bahnhofsviertel konnte ich beobachten, dass religiöse Unterschiede und kulturelle Grenzen in den muslimisch-jüdischen Freundschafts- und Kooperationsnetzwerken eine untergeordnete Rolle spielen. Dies lässt sich anhand von Anekdoten wie der oben geschilderten verdeutlichen. Die Analyse der symbolischen Grenzen kann ein hilfreicher Ansatz sein, um das Zusammenleben von Muslimen und Juden besser zu verstehen.
Symbolische Grenzen in muslimisch-jüdischer Beziehungsarbeit
Seit Fredrik Barths sozialanthropologische Studie „Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Culture Difference” von 1968 gilt: Ethnische, religiöse und kulturelle Gruppen entstehen nicht durch angeborene Identitäten, sondern durch Grenzziehungsprozesse. Symbolische Grenzen sind dabei das Ergebnis klassifikatorischer Aushandlungen von Akteuren in der sozialen Welt, die (1) kategoriale und klassifikatorische Dimensionen (z.B. wir gegen die) und (2) kognitive und verhaltensbezogene Dimensionen haben. Je nach strukturellem Kontext, verfügbaren Ressourcen und Netzwerken können Akteure unterschiedliche Strategien anwenden, um symbolische Grenzen im Hinblick auf ihre politische Bedeutung, soziale Geschlossenheit oder Offenheit und Dauerhaftigkeit im Zeitverlauf zu verändern. Verschiedene Aspekte symbolischer Grenzen können zu unterschiedlichen Zeiten relevant werden, abhängig von situativen Bedürfnissen und Spannungen. Um zu verstehen, wann ein solcher Aspekt einer jüdisch-muslimischen Grenze relevant wird, muss der Analyse der strukturellen und institutionellen Ordnung und der Verteilung von Macht und Ressourcen innerhalb bestimmter sozialer Räume oder Netzwerke besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Grenzziehungsprozesse können dabei über einen längeren Zeitraum auf der Makroebene verfolgt werden, aber auch in kurzen Zeitabständen, z.B. in Alltagssituationen, auftreten. In den letzten 20 Jahren, insbesondere seit dem 11. September 2001, aber auch jetzt wieder im anhaltenden israelisch-palästinensischen Konflikt, haben symbolische Grenzen als religiöse Kategorien an Bedeutung gewonnen, wobei insbesondere Juden und Muslime in einem anhaltenden Prozess des Othering gegeneinander ausgespielt werden. Deshalb ist eine weitere, langfristige, analytische Betrachtung zum jetzigen Zeitpunkt von großem Interesse. Durch die Berücksichtigung von Erkenntnissen aus der Grenzziehungsanalyse lässt sich das Verständnis muslimisch-jüdischer Beziehungsarbeit im lokalen Kontext vertiefen. Dies ermöglicht eine präzisere Erfassung der komplexen Muster religiöser Diversität in urbanen Räumen, die über ein gruppenbezogenes und essentialistisches Denken hinausgeht.
Meine in der amerikanischen Fachzeitschrift „Comparative Studies in Society and History“ publizierte Untersuchung zu langjährigen jüdisch-muslimischen Freundschaftsnetzwerken im Frankfurter Bahnhofsviertel steht in engem Zusammenhang mit dem Forschungsansatz des Heidelberger Max-Weber-Instituts für Soziologie. Unter der Leitung von Professor Matthias Koenig hat sich das Institut in jüngster Zeit intensiv mit symbolischen, sozialen und institutionellen Grenzziehungsprozessen in verschiedenen von internationaler Migration geprägten Gesellschaften auseinandergesetzt.
Muslimisch-Jüdische Vielfalt und Distanz im urbanen Raum
Von 2021 bis 2024 war die Universität Heidelberg zusammen mit dem Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen Teil des DFG-geförderten Forschungsprojekts ENCOUNTERS (Muslim-Jewish Encounter, Diversity and Distance in Urban Europe: Religion, Culture and Social Model). In diesem Kontext konnte ich meinen langfristig angelegten symbolischen Grenzziehungsansatz zur Erforschung von jüdisch-muslimischen Begegnungen in Deutschland weiterentwickeln. Im Rahmen meiner ethnografischen Forschung war es mir möglich, die muslimisch-jüdischen Beziehungen im Frankfurter Bahnhofsviertel zu untersuchen. Seit Ende der 1960er Jahre lassen sich dort interreligiöse und intergenerationelle Kontakte beobachten, die zunächst von den Nachkommen jüdischer „Displaced Persons“ und türkisch-muslimischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten getragen wurden. In der Folgezeit überlagerten sich diese Kontakte mit Kontakten zu postsowjetischen jüdischen Flüchtlingen („Kontingentflüchtlingen“) sowie Neuzuwanderern aus dem Iran, Aserbaidschan, Marokko und Afghanistan. Im Rahmen meiner Feldforschung in Geschäften, Bars, Restaurants, Kulturvereinen und religiösen Gemeinden konnte ich die Verwischung sowie auch Verhärtungen der symbolischen und sozialen Grenzen innerhalb der muslimisch-jüdischen Netzwerke analysieren. Insgesamt konnte die Studie zeigen, wie einige Juden und Muslime, die im Frankfurter Bahnhofsviertel leben und arbeiten, symbolische Grenzen verwischen und teilweise überwinden, indem sie eine singuläre Grenzziehung bestimmt durch Ethnizität, Kultur und Religion ablehnen und stattdessen andere lokale Prinzipien und plurale Identitäten betonen.
Lokale Solidarität
Erreicht wurde diese Aufweichung von sozialen Grenzen durch die Betonung gemeinsamer Erfahrungen als Minderheit im Nachkriegsdeutschland, ein lokales Gemeinschaftsgefühl und multiethnische Freundschafts- und Geschäftsnetzwerke, aber auch durch Diskurse religiöser Verbundenheit. Die Akteure des Bahnhofsviertels versuchten auch jüdisch-muslimische Grenzen zu überwinden, indem sie die Sprache, Codes und Gewohnheiten des jeweils anderen erlernten, was häufig mit sozialem Aufstieg und guten Geschäftspraktiken verbunden war. Wie das Beispiel eines „Jiddisch sprechenden Muslims“ zeigt, der viele Jahre in jüdischen Geschäften gearbeitet hat, konnte dies zu einem bemerkenswerten Maß an Grenzüberschreitung und Verwischung der Grenzen zwischen den Generationen führen.
Eine wichtige Erkenntnis dieser Forschung ist, dass die jüdisch-muslimische Grenzarbeit, die historische Vergleiche und Empathie in Bezug auf den Holocaust, religiöse Gemeinsamkeiten oder gemeinsame Minderheitserfahrungen umfasst, nie den jeweiligen städtischen Eliten oder religiösen Autoritäten in formellen Kontexten vorbehalten war. Tatsächlich war die lokale Zusammenarbeit in marginalisierten Stadtteilen wie dem Bahnhofsviertel den formellen interreligiösen und interkulturellen Dialogen nach dem 11. September 2001 um Jahrzehnte voraus. Während religiöse Identifikationen und klare Grenzziehungen durch nationale Diskurse an Bedeutung gewonnen haben und politisch und sozial als trennend verstanden werden, insbesondere zwischen Juden und Muslimen seit den frühen 2000er Jahren bzw. nach dem 7. Oktober 2023, hat mein ethnographischer Grenzziehungsansatz in Frankfurt zu gemischten Ergebnissen geführt: Erstens ist Religion nicht immer der dominante Bezugspunkt, um Jüdischsein oder Muslimsein zuzuschreiben, den soziale und andere lokale Merkmale sind im Alltag oft wichtiger. Zweitens haben religiöse Diskurse und Praktiken – entgegen der landläufigen Erwartung – relativ weiche Grenzen zwischen den beiden Gemeinschaften und eine Form von positiv konnotiertem Sozialkapital geschaffen. Drittens haben etablierte jüdisch-muslimische Netzwerkmitglieder manchmal gemeinsam klare Grenzen gezogen, um Neuankömmlinge auszuschließen, wodurch statische jüdische und muslimische Kategorien zugunsten anderer Grenzen relativiert wurden.
Auf lokaler Ebene waren symbolische Grenzen Teil von alltäglichen Gesprächen zwischen Juden und Muslimen im Bahnhofsviertel, was sich in Sprachkreuzungen und Austausch über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg manifestierte. In diesem Kontext wurden symbolische Grenzen zu konstitutiven Faktoren, die in den jüdisch-muslimischen Freundschaftsnetzwerken trotz zeitlicher Verwischung, Überschreitung und Infragestellung aufrechterhalten wurden. Durch diese dynamische und situative Grenzarbeit über mehrere Jahrzehnte hinweg wurden Ethnizität, Kultur und Religion im Mikrokosmos des Bahnhofsviertels trotz der Polarisierung auf der gesellschaftlichen Makroebene um jüdisch-muslimische Gegensätze und transnationale Konflikte auch nach dem 7. Oktober 2023 selten zu Hauptkonfliktquellen. Zwar stellten die Ereignisse rund um den Israel-Gaza-Krieg seit 2023 die symbolischen Grenzziehungsprozesse im Frankfurter Bahnhofsviertel auf eine harte Probe. Doch die tief verwurzelten Beziehungen zwischen jüdischen und muslimischen Bewohnern erwiesen sich als widerstandsfähig und verweigerten sich einer politischen Instrumentalisierung. Die Krise führte somit auch zu einer Neudefinition der symbolischen Grenzen und stärkte die Bedeutung etablierter sozialer Praktiken. So gedachten jüdische und muslimische Geschäftsleute, Moscheevorstände und Anwohner in verschiedenen Erklärungen aller Opfer, verurteilten Antisemitismus und Rassismus und betonten den integrativen und interreligiösen Charakter des Bahnhofsviertels, um sich nicht von der Politik gegeneinander ausspielen zu lassen.
Heute werden Juden und Muslime der ersten und zweiten Generation nach 1945 in der deutschen Öffentlichkeit oft als passiv und wenig konstruktiv (insbesondere im Hinblick auf Fortschritte in der jüdisch-muslimischen Dialogarbeit) wahrgenommen. Die Aufmerksamkeit von Politik und Medien richtet sich demgegenüber eher auf neue (in Deutschland geborene) Generationen postmigrantischer Identitätsstifter*innen und interkulturellen Aktivismus. Vor diesem Hintergrund ist die Wiederentdeckung der intergenerationellen Weitergabe jüdisch-muslimischer Themen und vergessener Geschichten nachbarschaftlicher Geselligkeit und symbolischer Grenzüberschreitungen seit den 1970er Jahren ein wichtiger Beitrag zu einer ansonsten hitzig geführten Debatte.
Über den Autor:
Arndt Emmerich ist Kultur- und Religionssoziologe und Juniorprofessor (Lecturer) in Soziologie an der britischen University of Hertfordshire, Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften sowie wissenschaftlicher Referent beim jüdisch-muslimischen Bildungswerk Maimonides in Mainz. Er promovierte 2018 in Oxford zum Thema muslimische Minderheiten. Seine Bahnhofsviertelstudie ist Teil des internationalen Forschungsprojekts „Encounters“, das urbane Begegnungen zwischen Juden und Muslimen in sechs westeuropäischen Städten, darunter Paris und London, untersucht. Emmerichs Forschungsergebnisse wurden in Fachzeitschriften wie Comparative Studies in Society and History, Politics and Religion, Social Compass, Journal of Muslims in Europe, Entangled Religions, Journal of Ethnic and Migration Studies, Asian Survey sowie in der Presse veröffentlicht, u.a. in der BBC, Al Jazeera, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Deutsche, Welle, Times of India, Süddeutsche Zeitung, Der Stern und im Podcast Religion Inside des Bayerischen Rundfunks. Emmerich ist Autor der Monographie “Islamic movements in India: Moderation and its Discontents” (Routledge, 2020).
Referenzen
Barth, Fredrik. 1968. Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Culture Difference. Waveland Press
Emmerich A. Jewish-Muslim Friendship Networks: A Study of Intergenerational Boundary Work in Postwar Germany. Comparative Studies in Society and History. 1-29.
Koenig, Matthias. 2023. Religious Diversity, Islam, and Integration in Western Europe—Dissecting Symbolic, Social, and Institutional Boundary Dynamics. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 75, sup. 1: 121–47