Ob bei der Finanzkrise oder den aktuellen Lebensmittelskandalen – immer wieder gewinnt man den Eindruck, dass moderne Gesellschaften dem Wirtschaftsgeschehen hilflos ausgeliefert sind. Auch die Politik erscheint angesichts der Globalisierung ohnmächtiger Spielball der Märkte. Was lässt sich hierzu aus (wirtschafts-)soziologischer Perspektive sagen?
Die Politik greift immer in die Wirtschaft ein – auch wenn sie scheinbar nicht eingreift
Der Ansatzpunkt aller wirtschaftssoziologischen Analysen von Märkten ist dabei, dass Wirtschaft – entgegen der Annahmen des neoklassischen Modells – nicht isoliert von Politik und Gesellschaft gesehen werden kann. Vielmehr sind Märkte institutionell eingebettet. Aus diesen Institutionen gehen formale Regeln, Normen, Werte, soziale Gewohnheiten usw. hervor, ohne die Märkte nicht funktionieren können, da sie den Rahmen für Markthandeln setzen und den Akteuren einen verlässlichen Orientierungsrahmen bieten. Innerhalb einmal etablierter Rahmenbedingungen verfügen Akteure über gewisse Handlungsfreiräume und können dort ihre eigenen Interessen verfolgen (Fligstein/Dauter 2007, Beckert 2007).
Diese Rahmeninstitutionen werden insbesondere vom Staat geschaffen (z.B. über Wirtschafts-, Handels-, Agrar-, Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltpolitik). Staatliche Politik beeinflusst weiterhin die Eigentumsrechte; die Art und das Ausmaß staatlicher Interventionen in die Wirtschaft; den Organisationsgrad, die Machtverteilung, die Rechte und Pflichten verschiedener Akteursgruppen auf dem Markt (Konsumenten, Arbeitnehmer, Unternehmensleitung, Investoren, Medien usw.); sowie typische Konfliktregelungsmechanismen. Die Politik ist damit ein zentraler Marktakteur.
Daran ändert sich auch nichts, wenn Politiker – ganz neoliberal – so tun, als ob das nicht so sei und deshalb nicht eingreifen: Es ist eine alte soziologische Binsenweisheit, dass auch Nicht-Handeln Handeln ist und dass man manchmal durch Nichts-Tun mehr erreicht als durch Tun. So verwies bereits Max Weber (1922) darauf, dass zum Handeln nicht nur „äußeres oder innerliches Tun“, sondern auch „Unterlassen oder Dulden“ gehört, d.h.: Der Staat kann gar nicht anders, als in wirtschaftliches Geschehen einzugreifen – auch jedes Nicht-Eingreifen ist eine (wenn auch nicht so offensichtliche) Form der staatlichen Regulierung des Wirtschaftsgeschehens. Und: Ob der Staat in bestimmte Ereignisse eingreift oder nicht – immer bevorzugt er gewisse Akteure gegenüber anderen (das ist ja einer der Gründe, warum wir in modernen Demokratien wählen, damit wenigstens klar ist, welche Akteure in der Theorie bevorzugt werden sollten). Das Ergebnis dieses (Nicht-)Eingreifens ist, dass nicht alle Akteure auf einem Markt dieselben Wettbewerbschancen haben.
Märkte sind folglich durch und durch von Macht durchdrungen. Besonders zwei Ansätze haben dieses Verhältnis von Markt und Politik, Wirtschaft und Macht näher beleuchtet: Während die Politische Ökonomie das Verhältnis von Politik und Markt vor allem aus der Perspektive der Politik betrachtet, beleuchtet der (Neo-)Institutionalismus (Dobbin 1994, Powell/DiMaggio 1994 Scott/Meyer 1994, Meyer/Rowan 1977, North 1992, Williamson 2000, Scharpf 2000), um den es heute gehen soll, diese Beziehung von der Seite des Marktes. So argumentiert etwa Neil Fligstein (2001), dass der Markt ein organisationales Feld sei, auf dem die Marktakteure ein komplexes Spiel auf zwei Ebenen spielen:
Komplexe Spiele der Macht
Um einen Markt neu zu etablieren, müssen sich die Marktteilnehmer laut Fligstein (2001) auf Spielregeln einigen und politische Akteure dazu veranlassen, diese Spielregeln politisch zu legitimieren. Es findet deshalb auf Märkten ein Wettbewerb um die Spielregeln, also ein Kampf um die Definitionsmacht dieser Spielregeln statt (Ebene 1). Zu den Marktregeln gehören u. a.
- die Marktgrenzen (Was ist ein Markt? Welche Güter dürfen auf diesem speziellen Markt abgesetzt werden?);
- die Unternehmenskontrolle;
- Eigentumsrechte;
- Governance-Strukturen (Gestaltung von Wettbewerb und Kooperation);
- Tauschregeln (Vertragsrecht, Zahlungsverkehr, Bank- und Kreditwesen, Versicherungswesen, Gesundheits- und Arbeitsschutzmaßnahmen).
Die politische Regulierung – und damit der Wettbewerb um die Spielregeln – ist auf dem Agrar- und Lebensmittelmarkt besonders groß, weil er aus der Sicht des Staates ein zentraler Markt ist: Versagt er, verhungern die Bürger. Deshalb griff der Staat schon immer stark in diese Märkte ein. Zu diesen Eingriffen gehören nicht nur die oben erwähnten Agrarsubventionen, sondern auch Kennzeichnungspflichten, Hygienevorschriften, Wettbewerbsordnung, Lebensmittelrecht usw. Zu beachten ist dabei, dass auch hier im Verlauf der vergangenen 200 Jahre eine Verlagerung stattfand von lokalen über regionale und nationale zu europäischen und internationalen Institutionen. So wie in Deutschland der Bund zunehmend die Entscheidungsbefugnisse der Länder aushebelt, werden agrarpolitische Entscheidungen zunehmend von der EU und der WTO getroffen.
Sind Märkte einmal etabliert, findet laut Fligstein (2001) innerhalb der gegebenen Spielregeln unter den Unternehmen, die auf dem Markt konkurrieren, ein Wettbewerb um Marktmacht statt (Ebene 2), d.h. die Marktteilnehmer müssen sich gegen ihre Wettbewerber durchsetzen. Entgegen dem neoliberalen Modell findet dieser Wettbewerb nicht nur (vielleicht sogar: kaum) über Preis und Produktqualität statt, d.h. es setzen sich eben nicht immer die „besten“ Unternehmen auf einem Markt durch. Vielmehr versuchen Produzenten, Marktmacht zu erringen (die ja genau so heißt, weil es eben nicht um Konkurrenz geht), d.h. sie versuchen, die Marktregeln zu bestimmen bzw. zu verändern. Kleine oder neugegründete Unternehmen („Challengers“) fordern die etablierten Unternehmen immer wieder heraus und gefährden so die Machtverhältnisse auf dem Markt. Die etablierten Unternehmen versuchen dagegen, den potenziellen Herausforderern den Marktzugang zu verwehren. In diesem Machtkampf müssen sich die Marktakteure nicht unbedingt an die Marktregeln halten.
Es hängt vom Staat und anderen Marktakteuren ab, ob und wie weit nicht regelkonformes Verhalten negativ sanktioniert wird. Bei der Finanzkrise war das politische Signal an die Märkte ja z.B. eindeutig: „Ihr braucht Euch nicht an klassische Kriterien der Wirtschaftlichkeit halten, sondern könnt machen, was Ihr wollt – Ihr seid so wichtig für uns, dass wir Euch schon nicht pleite gehen lassen.“ Dieses politische Signal hat völlig überraschend die Folge gehabt, dass Banken weiterhin riskante Geldgeschäfte eingehen und sich nicht wirklich etwas ändert. Umgekehrt gibt es Märkte, bei denen die Politik sehr wohl die Risiken nicht sozialisiert, sondern Unternehmen die Folgen ihres wirtschaftlichen Tuns auch ausbaden lässt – und das wirkt sich natürlich auch auf das Wettbewerbsverhalten aus.
Alternativ können die Akteure die als geltend anerkannten Marktregeln und -bedingungen nutzen, um sich Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Marktteilnehmern zu verschaffen. Ein Beispiel ist die Genpolitik: Während es in den USA mittlerweile fast unmöglich ist, eine genfreie Pflanze zu kaufen, verhält es sich in Europa genau umgekehrt. Entsprechend haben Unternehmen, die genveränderte Lebensmittel produzieren, in den USA bessere Wettbewerbschancen, in Europa schlechtere. (Hinzu treten natürlich kulturelle Unterschiede, die sich insbesondere in der Arbeits- und Konsummentalität niederschlagen. Nicht alle Produkte können nämlich in allen Ländern abgesetzt werden, und Produkte werden national unterschiedlich konsumiert.) Ein zweites Beispiel ist, dass in Deutschland sehr lange Getränke in Pfandflaschen aus Glas vertrieben werden mussten und damit Konkurrenz aus dem Ausland deutlich schlechtere Wettbewerbschancen hatte, da für sie die Transportkosten erheblich höher waren und sie häufig noch nicht einmal über Produktionsanlagen für Glasflaschen verfügten, weil sich in den meisten europäischen Ländern schon lange Plastikflaschen und Getränkedosen durchgesetzt hatten. Staatliche Regulierung beeinflusst stark die Machtverhältnisse auf einem konkreten Markt sowie, wie der Markt funktioniert.
Betrachtet man nun konkrete Märkte – etwa den Milch- und Joghurtmarkt – so sind die jetzigen Wettbewerbsstrukturen – mit all ihren Problemen und Risiken – auch ein Ergebnis früherer Regulierung – ein Punkt, den wir wegen unserer Geschichtsvergessenheit oft vergessen. Anbei einige Beispiele (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), wie die Politik in der Vergangenheit in den Milch- und Joghurtmarkt eingegriffen hat.
Schaffung von Märkten
Zunächst ist die Politik ganz wesentlich an der Schaffung von Märkten beteiligt. So war die (deutsche) Politik ganz wesentlich daran beteiligt, dass es den (deutschen) Joghurtmarkt als Markt in seiner heutigen Form überhaupt gibt.
Dazu muss man wissen, dass es überhaupt nicht selbstverständlich, sondern historisch unwahrscheinlich war, dass wir heute Joghurt in Supermärkten kaufen, also Geld für ein industriell gefertigtes Produkt zahlen, das sich sehr leicht und günstig in Eigenproduktion herstellen lässt. Der Vorgänger des Joghurts, die „saure Milch”, war nämlich in Europa traditionell ein beliebtes Alltagsgericht, das die Hausfrauen noch in den 1970ern selbst herstellten: Sie holten frische Milch (= Rohmilch) bei einem örtlichen Bauern oder der Molkerei, füllten die Milch in Tonkrüge und ließen über Nacht stehen. Rohmilch ist Milch, die weder erhitzt noch behandelt worden ist. Infolgedessen ist sie nur ein bis zwei Tage haltbar. Die Milchsäurebakterien der Luft lassen folglich die Milch über Nacht dick werden (Hoffmann 1993: 68). Im Gegensatz zum asiatischen Raum wurde in Europa saure Milch nicht so stark gewürzt und gesalzen. Man aß sie zu Bratkartoffeln oder brockte trockene Brotkrumen in sie hinein. Letztere Zubereitungsweise dürfte ein Vorläufer des Müslis gewesen sein. Sie eignete sich besonders für ältere Leute, die keine Zähne mehr hatten. Die saure Milch hatte die Funktion einer Zwischenmahlzeit oder eines leichten Abendessens. Oft aßen die verschiedenen Haushaltsmitglieder verschiedene Gerichte: Wer keine Lust auf das Hauptgericht hatte, konnte saure Milch essen. (Eigen-)Produktion und Konsum von saurer Milch waren demnach festetablierte Praktiken der deutschen Bevölkerung.
Staatliche Hygienevorschriften zum Schutz des Verbrauchers unterbrachen diese Tradition in den 1970ern abrupt: Da frische Kuhmilch ein empfindliches Produkt ist, das schnell verderben kann und ein idealer Nährboden für Bakterien ist, die Milch aber dennoch möglichst einwandfrei von der Kuh zur Molkerei gelangen soll, regelt die „Milch-Güteverordnung“ die Bewertung, Güteeinstufung und Bezahlung der Milch. 1980 wurden die Vorschriften der Milchgüteverordnung verschärft, und seit 1984 müssen sie bundesweit durchgeführt werden. Bedienstete der Molkerei entnehmen heute der Milch ohne Voranmeldung Proben, bevor die Milch auf dem Bauernhof in einen Sammeltankwagen kommt. Gesetzlich vorgeschrieben ist die Untersuchung folgender Merkmale: des Fettgehalts (min. dreimal im Monat); des Eiweißgehalts (min. zweimal im Monat); der bakteriologischen Beschaffenheit (min. zweimal im Monat); von Stoffen mit antibiotischer Wirkung (min. zweimal im Monat); und des Gehalts an körpereigenen Zellen (min. einmal im Monat). Stoffe mit antibiotischer Wirkung dürfen in der Milch nicht enthalten sein. Bekommt die Kuh ein Antibiotikum, darf ihre Milch min. fünf Tage nicht zur Molkerei geschickt werden. Körpereigene Zellen sind ein Hinweis für eine Euterentzündung. Sie machen die Milch zwar nicht gesundheitsschädlich, können aber bei der Weiterverarbeitung der Milch von Nachteil sein (Wirths 1985: 130-131; Goetz 1992: 28; Hoffmann 1993: 62). Biohöfe stellen höchste Qualitätsanforderungen an die Milchproduktion: Die Kühe müssen überwiegend mit hofeigenem Futter gefüttert werden. Futterzusätze wie Antibiotika und Masthilfsmittel sind nicht erlaubt. Wird das Tier krank, werden so weit wie möglich natürliche Heilverfahren angewendet. Die Tiere werden außerdem artgerecht gehalten. Dies schließt regelmäßige Weidegänge ein (Goetz 1992: 29). Rohmilch darf seitdem nur noch unter strengen Auflagen an Endverbraucher abgegeben werden
Parallel hierzu verdrängten Supermärkte die lokalen Tante-Emma-Läden und den Ab-Hof-Verkauf. Supermärkte verkauften mehr Produkte und hatten eine größere Logistikkette. Supermärkte setzten sich gegenüber den Tante-Emma-Läden zunächst nicht nur durch ihren niedrigeren Preis, sondern auch durch die größere Auswahl an Produkten und vor allem eine größere Lebensmittelsicherheit durch – ein Anspruch, der vom Kunden dann auch eingefordert wurde.
War man beim lokalen Tante-Emma-Laden bereit, ein verdorbenes Lebensmittel am nächsten Tag zu reklamieren und die Sache dann zu vergessen, fehlte dieses Vertrauen gegenüber den Ketten. Entsprechend gingen die Supermärkte auf Nummer sicher: Sie verkauften nur noch hitzebehandelte Milch. Diese eignete sich aber nicht zur Herstellung von saurer Milch: Die Rohmilch kam schon im Verdauungstrakt der Kühe mit Milchsäurebakterien in Berührung und wurde dadurch relativ sauer. Die Säuerung unterdrückte das Wachstum von Fäulnisbakterien. Heute dagegen kommt die Milch von alleine nicht mehr mit Milchsäurebakterien in Berührung, und wenn doch, dann wird deren Vermehrung durch Kühlung und Hitzebehandlung verhindert. Deshalb fault die Milch heute bevor sie sauer wird (Hoffmann 1993: 68).
Eine Maßnahme, die zum Schutz des Verbrauchers gedacht war, führt in Kombination mit Wettbewerbspraktiken der Supermärkte dazu, dass eine Eigenproduktion von sauer Milch nicht mehr möglich ist – es gab als eine Nachfrage, die aber nicht mehr wie bisher gedeckt werden konnte, was die strukturellen Voraussetzungen für den Markt schaffen konnte. Man darf dabei nicht vergessen, dass hierbei auch mit hineinspielte, dass dem Verbraucher Hygiene bei Lebensmitteln damals (vermutlich auch heute noch) wichtiger war als die Möglichkeit der Selbsterzeugung.
Die saure Milch verschwand damit zwangsweise aus der deutschen Küche. Die Menschen aus den Balkanländern, dem Nahen Osten und Asien wussten zwar, wie man aus hitzebehandelter Milch Joghurt herstellt – heute gibt es auch hierzulande entsprechende Anleitungen. Deutsche Hausfrauen kannten diese Methoden aber in den 1970ern noch nicht (und es gab ja auch noch kein Internet, wo man das hätte leicht nachschlagen können). Noch bevor sie dieses Wissen erlernen konnten, belieferten findige Molkereien Supermärkte mit Joghurt in Bechern und Gläsern. Gleichzeitig stellten sie den Joghurt in einen anderen Ernährungskontext als in Asien (und grenzen sich damit implizit von potenzieller ausländischer Konkurrenz ab): Statt als sauer-salzig-würzige Beilage zum Hauptgericht oder Grundnahrungsmittel, das zum Kochen verwendet wurde, wurde Joghurt in Europa gesüßt und mit Früchten vermischt und als günstige und gesunde Zwischenmahlzeit bzw. Dessert vermarktet. Damit knüpften die Hersteller an mehrere europäische Traditionen und veränderte Bedürfnisse aufgrund der größeren Erwerbsbeteiligung von Frauen an. Die ersten Joghurts schmeckten allerdings noch nicht besonders gut: Sie schmeckten künstlich, ihre Konsistenz war seltsam, und sie enthielten auch keine lebenden Kulturen. Die Deutschen aßen sie als Ersatz für die saure Milch, die sie nicht mehr selbst herstellen konnten. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an den Geschmack des neuen Produktes, die saure Milch geriet in Vergessenheit. Im Laufe der Zeit verbesserten die Molkereien dann auch den Geschmack und die sonstigen Eigenschaften des Produktes, weshalb es heute tatsächlich sehr schwer ist, privat einen Joghurt herzustellen, der so gut schmeckt, wie der industriell gefertigte.
Definition der Marktgrenzen
Weiterhin leistet die Politik einen wesentlichen Beitrag zur Definition von Märkten und zur Marktabgrenzung. So unterteilen sich Milcherzeugnisse nach dem deutschen Lebensmittelrecht, insbesondere der Milcherzeugnisverordnung (MilchErzV), in gesäuerte Milcherzeugnisse, Sahneerzeugnisse, Kondensmilcherzeugnisse und Molkenerzeugnisse. Hinzu kommen Milchmischerzeugnisse (vgl. z.B. aid 1994: 4-9; Hoffmann 1993: 68-69).
Joghurt gehört etwa neben Sauermilch (Dickmilch), saurer Sahne, Sahnedickmilch, Crème fraîche, Kefir und Buttermilch zu den gesäuerten Milcherzeugnissen. Gesäuerte Milcherzeugnisse werden aus Milch mit unterschiedlichem Fettgehalt unter Zugabe verschiedener Fermente hergestellt. Fermente lassen die Milch gerinnen und geben ihr den sauren Geschmack. Von anderen gesäuerten Milchprodukten unterscheidet sich Joghurt in der Art des zugegebene Ferments: Während bei Joghurt Bakterienkulturen zugegeben werden, sind es bei Kefir (auch) Pilze und bei Quark und Käse Säuerungskulturen und ein Enzym. Joghurt gibt es dabei in vier Fettstufen: Magermilchjoghurt enthält höchstens 0,3 % Fett, fettarmer Joghurt enthält zwischen 1,5 % und 1,8 % Fett, Joghurt (= Vollmilchjoghurt) enthält min. 3,5 % Fett, und Sahnejoghurt enthält min. 10 % Fett. In allen Fettgehaltstufen ist auch „Joghurt mild“ erhältlich. Dieser säuert im Gegensatz zum traditionell hergestellten Joghurt durch Verwendung anderer Kulturen nicht nach. Des Weiteren gibt es Joghurt – wie alle gesäuerten Milcherzeugnisse – sowohl als Standardsorte als auch als Gruppenerzeugnis. Bei Gruppenerzeugnissen ist im Gegensatz zu Standardsorten eine Wärmebehandlung nach der Säuerung gestattet. Deshalb können bei Gruppenerzeugnissen andere Milchsäure-Kulturen verwendet werden sowie Milcheiweiß, Stärke, Speisegelatine und andere Verdickungsmittel zugesetzt werden. Wesentlich bedeutender für den Markt als Naturjoghurts sind jedoch Joghurts, denen geschmacksgebende Lebensmittel und Vitamine zugesetzt wurden, also insbesondere die allseits beliebten Fruchtjoghurts. Diese Joghurts gehören der Gruppe der Milchmischerzeugnisse an. Das deutsche Lebensmittelrecht unterscheidet drei Fruchtjoghurterzeugnisse: Fruchtjoghurt (= Joghurt mit Früchten) enthält min. 6 % Frischfrucht bzw. 2 % Frischfrucht bei besonders geschmacksintensiven Früchten (z.B. Zitrone). Joghurt mit Fruchtzubereitung enthält min. 3,5 % Frischfrucht bzw. 1,5 % Frischfrucht bei besonders geschmacksintensiven Früchten. Joghurt mit Fruchtgeschmack enthält weniger als 3,5 % Frischfrucht bzw. 1,5 % Frischfrucht bei besonders geschmacksintensiven Früchten.
Das Lebensmittelrecht schreibt weiterhin vor, dass Verpackungsmaterialien für Lebensmittel so beschaffen sein müssen, dass von ihnen keine gesundheitlich bedenklichen Bestandteile auf die Lebensmittel übergehen können. Für Joghurts werden üblicherweise entweder Kunstoff- oder Glasbehälter verwendet. Des Weiteren sind die Volumina und Abmessungen, in denen Joghurt verkauft werden darf, vom Lebensmittelrecht vorgeschrieben (Wirths 1985: 139-140).
Ebenso schreiben die Gesetze zur Warenkennzeichnung vor, dass die folgenden sieben Angaben des Herstellers auf Packungen von Milchprodukten stehen müssen:
- Verkehrsbezeichung (Joghurt, Trinkjoghurt, Fruchtjoghurt usw.),
- Mengenangabe in Gramm,
- Fettgehalt in Prozent Fett im Milchanteil,
- Art der Wärmebehandlung,
- Mindesthaltbarkeitsdatum,
- Zutatenliste in absteigender Reihenfolge der Gewichtsanteile und
- Name und Anschrift der Molkerei.
Der Punkt dieser etwas ausführlicheren Ausführungen soll sein, dass das Lebensmittelrecht genau definiert, welche Produkte wie hergestellt werden müssen, um überhaupt verkauft werden zu dürfen, und in welche Produktkategorie sie gehören, d.h. wie diese Produkte deklariert und verkauft werden müssen bzw. dürfen. Damit definiert die Politik nicht nur, welches Produkt in welche Marktnische gehört, sondern reguliert auch den Produktionsprozess. Weiterhin will sie Sicherheit und Vertrauen (Polanyi et al. 1957; Beckert 2007) beim Verbraucher schaffen, ohne die die Aufrechterhaltung der Produktionskette auf modernen Massenmärkten gar nicht möglich wäre. Das Lebensmittelrecht soll dem Verbraucher folglich helfen, informierte Entscheidungen zu treffen, was er genau kauft und ihn vor Betrug schützen. Insofern ist die Deklaration von Bio-Eiern als normale Eier und von Meerrettich als Wasabi ein klarer Verstoß gegen deutsches Lebensmittelrecht, über das wir uns zu Recht aufregen – v.a., weil solche Verstöße uns als Verbraucher daran hindern, informierte Entscheidungen zu treffen.
Beeinflussung der relativen Marktmacht anderer Marktakteure (Produzenten, Handel und Verbraucher)
Die Politik schafft nicht nur Märkte und definiert die Marktgrenzen, sie beeinflusst auch ganz wesentlich die relative Marktmacht anderer Marktakteure, im Fall des Milchmarktes von Verbrauchern, Handel, Molkereien und Bauern. Der Milchmarkt ist übrigens ein gutes Beispiel für unerwünschte Nebenfolgen politischen Handelns. Gerade durch politische Eingriffe haben diejenigen Marktakteure, die durch sie am meisten geschützt werden sollen (Verbraucher und Landwirte) am Ende am machtlosesten sind. Konkret hat die EU-Agrarpolitik das Ziel, den EU-Landwirten einen fairen Lebensstandard zu sichern und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Verbraucherpreise (bei möglichst großer Lebensmittelsicherheit) nicht zu hoch sind.
Der Milchsektor ist weltweit (also nicht nur in der EU) einer der am stärksten subventioniertesten. Subventionen nehmen dabei zwei Formen an: einerseits die Form von heimischen Subventionen, die die Produktion einschränken und / oder hohe lokale Preise sichern; andererseits die Form von Exportsubventionen, die die Lücke zwischen den hohen lokalen Preisen und den weitaus niedrigeren Weltmarktpreisen schließen (Bailey 1997: 225). Zu den wesentlichen Säulen der EU-Agarpolitik gehören dabei erstens Stützkäufe und Mindestpreise; zweitens Angebotsmanagement; und drittens Außenhandelsmaßnahmen. Kernstück der EU-Agrarpolitik ist dabei der Zielpreis: Um sicherzustellen, dass die Marktpreise nahe dem Zielpreis liegen, wurde ein System entwickelt, das auf variierenden Importzöllen, Interventionskäufen und Exporthilfen basiert. Mit Hilfe variierender Importzölle werden Importe von Nicht-EU-Staaten begrenzt. Der Zoll beläuft sich dabei auf die Differenz zwischen Zielpreis und dem Weltmarktpreis. Damit können Milchprodukte nur zu europäischen Preisen in die EU importiert werden. Hierdurch werden Importe begrenzt, und gleichzeitig wird der EU-Milchmarkt von Preisschwankungen auf dem Weltmarkt abgeschottet. Mit Hilfe der Interventionskäufe wird eine Untergrenze der Milchpreise gehalten. Damit werden auch indirekt Untergrenzen für die Preise von Milchprodukten gesetzt.
Gleichzeitig gibt es eine gewissermaßen staatlich verordnete Überproduktion von Milch: Da die Stützkäufe seit Anfang der 1970er zu einem enormen Überschuss an Milch geführt hatten, griff die EU neben den bereits genannten Exportsubventionen zu Produktionsbeschränkungen: 1977 wurde der „Milchpfennig“ eingeführt: Produzenten mussten sich an den Kosten der Beseitigung überschüssiger Milch beteiligen. Der Milchpfennig betrug 0,5 % bis 3 % des Zielpreises. 1984 wurden dann die Milchquoten eingeführt, um die Zahl der Milchkühe und damit die gesamte Milchproduktion zu beschränken: Jedem Mitgliedsland wurden Milchquoten zugewiesen (Bailey 1997: 227-228). Diese wurden zwar im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte immer wieder gesenkt, sind aber viel zu hoch insofern, dass immer mehr Milch produziert wird, als innerhalb von Europa verbraucht werden kann. Die Agrarpolitik der EU animiert also durch zu hohe Milchquoten eine permanente Überproduktion des Rohstoffes Milch. Da die Lagerung von Milch teuer ist, Milch schwer transportiert werden kann und da Milch ein leicht verderblich ist, ist eine Folge der Überproduktion, dass Milchproduzenten (Landwirte) gegenüber Milchverarbeitern (Molkereien) und Milchverarbeiter gegenüber dem Handel in einer relativ schwächeren Position sind. Dadurch ist die Politik eine der Hauptverantwortlichen für das Machtungleichgewicht zwischen Produzenten und Handel und damit für die marktzerstörenden Preiskämpfe.
Die Qualitätsillusion
In meiner Diskussion um die Rolle des Handels bei Preiskämpfen auf dem Lebensmittelmarkt habe ich geschrieben, dass es bereits eine seltsame und erklärungsbedürftige Frage ist, wie Verbraucher auf die Idee kämen, dass Lebensmittel überhaupt gleich sein können – dies ist nämlich eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Lebensmittel untereinander in den Wettbewerb treten und damit marktförmig vertrieben werden können. Auch wenn ich es nicht direkt nachweisen kann, so ist doch meine Vermutung, dass die oben skizzierten gesetzlichen Regelungen, die z.B. genau definieren, was ein Naturjoghurt ist, in Kombination mit Lebensmittelkontrollen und den Verbraucherschutz eben genau zu dieser Illusion der Kommensurabilität führen – also dazu, dass er sich um Qualität und Sicherheit von Lebensmitteln wenig Gedanken machen muss, sondern dass er nur noch auf den Preis achten muss, weil Alles, wo „Naturjoghurt“ draufsteht, auch Naturjoghurt (von gleicher Qualität) ist. Und genau das tut der Verbraucher. (Neben der Politik leisten übrigens die Marketingstrategien von Produzenten und Handels ihren zu dieser Qualitätsillusion – aber das nur am Rande.)
Die Lebensmittelskandale legen nun dreierlei zutage:
Erstens ist die Qualitätsillusion eben eine Illusion, also in der Praxis nicht durchhaltbar, was zum Teil durch die Komplexität der Produktionskette und zum Teil durch bewussten Betrug zustande kommt. Es ist also eben nicht Alles, wo „Naturjoghurt“ draufsteht, auch Naturjoghurt – zumindest nicht von gleicher Qualität.
Zweitens hält die Politik ihr Versprechen insofern nicht ein, als dass zur politischen Regulierung nicht nur das Erlassen von Gesetzen gehört, sondern auch die Überwachung deren Einhaltung – sei es durch Lebensmittelkontrollen, sei es durch Verbraucherschutz. Gerade letzterer wird durch zunehmende Europäisierung und Globalisierung immer mehr Verbraucherschutz und Verbraucherorganisationen untergraben. Zu den Lebensmittelkontrollen gibt es nur zu sagen: Bei jedem Lebensmittelskandal der vergangenen Jahren gab es zumindest eine Konstante, nämlich dass sich im Nachhinein herausstellte, dass Lebensmittelkontrollen nicht in der Dichte und in dem Ausmaß stattfinden, wie sie gesetzlich vorgeschrieben und – vor allem – dem Verbraucher suggeriert werden.
Ein weiteres grundsätzliches Problem der Politik in der Verlust des ganzheitlichen Denkens in der Politik: Am Beispiel des Lebensmittelmarktes zeigt sich, dass so viele Politikbereiche ineinandergreifen (zumindest Landwirtschafts-, Verbraucher-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik), und gleichzeitig streiten sich Politik auf nationaler und EU-Ebene um Zuständigkeiten, dass man den Eindruck gewinnt, dass etwas der Überblick verloren gegangen ist und die Implikationen gewisser Regelungen nicht wirklich durchdacht ist – genau dieser Verlust des ganzheitlichen Denkens war übrigens eine Horrorvision der Begründer der sozialen Marktwirtschaft (Baur 2008). Wie wichtig dies ist, zeigt sich gerade dann, wenn es verloren geht – dass nämlich im Regelungs-Chaos unerwünschte Nebenfolgen, Gesetzeslücken oder einfach schlicht Chaos entstehen.
Der Finanzmarkt, der Wassermarkt und die Politik
Abschließend zwei Bemerkungen zu zwei anderen Märkten – dem Finanzmarkt (Baur 2013a, 2013b, 2013c) und dem Wassermarkt. Dass die Politik bei der Bankenkrise den großen Finanzunternehmen scheinbar hilflos ausgeliefert ist, ist ebenso wie viele aktuelle Probleme auf dem Milch- und Joghurtmarkt eine Folge politischer Regulierung – die (deutsche) Politik hat sich hier in der Vergangenheit bewusst dafür entschieden, diesen Markt nicht zu regulieren. Damit stehen wir übrigens in guter deutscher Tradition – so sehr die USA dazu neigen, Märkte sich selbst zu unterlassen, so sind sie bei den Anti-Trust-Gesetzen und der Regulierung (ihrer eigenen) Finanzmärkte immer recht rigoros. Man denke daran, dass es die Amerikaner – nicht die Europäer – waren, die nach der Finanzkrise eine Bank haben in Konkurs gehen lassen (wenn auch die, die für den amerikanischen Markt am unbedeutendsten waren). Gerade in Deutschland hat die starke Verflechtung von Finanzwesen und produzierendem Gewerbe bei starker Dominanz der Banken eine lange Tradition (Windolf 2006, Ziegler 1984, Windolf/Beyer 1995, Windolf 2002). Die Politik möge also bitte nicht behaupten, sie könne nichts machen – sie will nur nicht (oder ihr fehlen die Konzepte).
Dass die Verbraucher – die sonst immer für so unmündig gehalten werden – dies sehr genau begreifen, sieht man an den gegenwärtigen Bürgerinitiativen gegen die Privatisierung der europäischen Wasserwerke.
Literatur
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Bailey, Kenneth W. (1997): Marketing and Pricing of Milk and Dairy Products in the United States. Ames: Iowa State University Press
Baur, Nina (2008): Konsequenzen des Verlust des ganzheitlichen Denkens. In: In: Struck, Olaf/Seifert, Hartmut (Hrsg.) (2008): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Kontroversen um Effizienz und soziale Sicherheit. Wiesbaden: VS-Verlag. 189-229
Beckert, Jens (2007): Die soziale Ordnung von Märkten. In: Beckert, Jens et al. (Hrsg.) (2007): Beckert, Jens/Diaz-Bone, Rainer/Ganßmann, Heiner (Hrsg.) (2007): Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt a. M./New York: Campus43-62
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