Das letzte Mal habe ich angekündigt, dass ich von dem Projekt berichten möchte, dass Axel Philipps gemeinsam mit dem L3S – dem Web Science Institut – an unserer Uni durchgeführt hat. In meinen vorangegangenen Ausführungen habe ich unsere Begegnung mit den Kolleg_innen vom L3S und unsere Überlegungen zur Bildersuche geschildert, um beispielhaft darzustellen, welche theoretischen und methodischen Probleme auftreten können. Keineswegs möchte ich mit meinen Berichten beanspruchen, Antworten und Lösungen parat zu haben, ganz im Gegenteil will ich eher unbewältigte Herausforderungen benennen. Allerdings vermute ich, dass auch andere Soziolog_innen, die das Web als Forschungsgegenstand erschließen wollen, mit diesen und ähnlichen Problemen konfrontiert sind.
Gewiss mögen sich einige von Ihnen fragen, ob es ok ist, dass ich mir erlaube, über das Forschungsprojekt eines Kollegen zu schreiben. Selbstverständlich wird Axel meine Schilderung lesen, bevor ich sie online stelle, und selbstverständlich habe ich ihn vorher gefragt, ob er damit einverstanden ist, dass ich über sein Projekt „Zur Sichtbarkeit von Streetart in Flickr“ schreibe. Hierzu greife ich zudem vorwiegend auf einen Vortrag zurück, den ich – im Namen von Axel – letztes Jahr auf der Digital Humanities Tagung in Passau gehalten haben. Leider waren dort nur sehr wenige Soziolog_innen, darüber vielleicht später mal mehr.
Den theoretischen Hintergrund fasse ich hier kurz, weil ich den Schwerpunkt auf die methodische Umsetzung und die Überlegungen zu einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit von Soziologie und Web Science legen möchte, von der beide Seiten profitieren. In der Forschung zu Streetart wird die These vertreten, dass das Web wesentlich zur Sichtbarkeit von Streetartists beiträgt. Nicht nur durch spezifische Internetseiten über Streetart, sondern ganz generell wäre dort Streetart sichtbar und nicht nur Kunstverständige, sondern ein breites Publikum würde sich dort an der Etablierung von Streetartists beteiligen. Diese These sollte empirisch überprüft werden. Als Quelle wurde Fickr gewählt, weil dieses Bildarchiv allgemein zugänglich ist und dort viele Bilder mit „art“ („street“ und graffiti“) verknüpft sind.
Die Kolleg_innen vom L3S haben die Suche und Sammlung der Daten in Flickr nach dem Stichworte „Streetart“ in verschiedensten denkbaren Schreibweisen etc. organisiert. Für den Untersuchungszeitpunkt fanden sie ca. 2,1 Mio. digitale Bilder. Sie waren so nett, eine Filterung der Daten und die Bildung einer reinen Zufallsstichprobe vorzunehmen und sie haben eine Arbeitsoberfläche entwickelt und programmiert, die eine soziologische Kodierung der Bilder erleichterte. Und schließlich haben sie eine automatische Sammlung der Ergebnisse des Kodierprozesses und der Aufbereitung der Daten für eine statistische Auswertung möglich gemacht.
Was waren nun die Ergebnisse? Zunächst ein bestätigendes Ergebnis. Fast alle zufällig ausgewählten digitalen Bilder zeigen tatsächlich Formen von Streetart. Also kann man sagen, dass internetbasierte Fotoarchive wie Flickr zur Sichtbarkeit von Streetart ganz allgemein beitragen. Aber auch zur Etablierung als Kunst? Die Ergebnisse für Flickr sprechen eher dagegen, da nur ein sehr geringer Teil der Streetart-Reproduktionen mit dem Namen der Künstlerin oder des Künstlers bzw. einem Link mit Hintergrundinformationen zum Produktionskontext verknüpft ist. Mehr dazu können Sie nachlesen im Konferenzbeitrag „Chroniclers of Street Art on Flickr“ von Axel Philipps, Eelco Herder und Sergej Zerr.
Noch einige Worte zur Begegnung von Web Science und Soziologie. Aus unserer Sicht war dies eine erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit – jedenfalls für die Soziologie. Aber bei der gemeinsamen Arbeit ist auch deutlich geworden, dass die beiden Disziplinen unterschiedliche Forschungsinteressen haben: Die Kolleg_innen aus der Web Science sind an Methoden interessiert, die es möglich machen, Muster in großen Datenmengen zu visualisieren. Währenddessen wir an einer empirischen Überprüfung theoretischen Annahmen interessiert waren. Die Folge für dieses Projekt war, dass die Informatik für uns netterweise „Dienstleistungen“ erbracht und darauf verzichtet hat, forschungsrelevante Daten für die Web Science zu generieren. Ob dies für eine langfristige Zusammenarbeit ein gutes Fundament ist, kann man in Frage stellen. Am Günstigsten wäre es, wenn man eine gemeinsame Fragestellung behandelt. Vermutlich wären Forschungsprojekte mit getrennten Fragestellungen bei gegenseitiger Zuarbeit ebenfalls geeignet. Und genau so haben wir es schließlich gemacht. Nachdem die Kolleg_innen der Web Science uns bei der soziologischen Fragestellung und der methodischen Vorgehensweise unterstützt haben, haben die Kolleg_innen der Web Science die von der Soziologie erstellte Klassifikation der Streetart erhalten, die sie zur Erprobung und Prüfung informatischer Anwendungen nutzbringend einsetzen können. Es wäre schön, wenn jemand von seinen Erfahrungen berichten würde.
Sehr geehrte Frau Prof. Barlösius,
vielen Dank für den interessanten Einblick in die Forschungszusammenarbeit von Informatikern und Soziologen. In der Tat drängt sich bei der Schilderung jedoch der Gedanke einer reinen Dienstleistungsbeziehung auf.
Meine Nachfrage wäre nun sehr naiv und technisch gänzlich uninformiert:
Sie beschreiben, dass es das Interesse der Web Science ist, „Muster in großen Datenmengen zu visualisieren“. Für mich klingt eigentlich genau das nach soziologisch gewinnbringendem Material. Wären nicht die, zunächst möglicherweise unverständlichen, Muster ein Anreiz für die Soziologie, zu versuchen, diese Musterbildung, die man ja durchaus als Sinnverdichtung im Sinne eines operativen Strukturbegriffs verstehen könnte, genauer unter die Lupe zu nehmen und soziologisch erklären zu wollen? Ist das nicht ganz ähnlich, wie der Ansatz der unerreichten Studie Max Webers zur Protestantischen Ethik? Hier war der Ausgangspunkt ja zunächst auch nur eine statistisch auffällige, noch unerklärliche Akkumulation von Kapital und bestimmten (Bildungs-)Karrieren in vorwiegend protestantischen Gebieten. Woraus Weber dann die soziologisch wahrscheinlich gewinnbringendste Frage aller Zeiten ableitete…
Vielleicht können Sie mir als absolutem Laien erklären, um welche Art Mustersuche es sich beim Interessengebiet der Informatiker, mit denen Sie kooperieren, handelt und ob meine spontane Idee zu Ihrem interessanten Beitrag nur der Naivität eines digital immigrant (Kollegen würden mir selbst den Immigrations- bzw. Integrationswillen hier gänzlich absprechen) geschuldet ist, oder ob Sie evtl. in den, Ihre Kollegen aus der Web Science interessierenden, Mustern selbst interessante soziologische Forschungsansätze ausmachen konnten.
Herzliche Grüße,
Gina Atzeni
Der letzte Absatz zeigt für mich die Notwendigkeit auf, informatische Methoden der Datenauswertung auch in der soziologischen Lehre zu verankern, zumindest als möglichen freiwillig belegbaren Schwerpunkt.
In Amerika finden sich „computational sociology“ zunehmend an den Fakultäten. Deutschland ist in dieser Hinsicht noch Entwicklungsland.
Methodisch und vor allem forschungpraktisch viel herausfordernder erscheint mir die – m.E. notwendige und fruchtbare – Verbindung quantitativer und qualitativer Methoden, um herauszufinden, was Sichtbarkeit alltagsweltlich und alltagspraktisch für Street Art und Artists bedeutet.
Inhaltlich vielleicht von Interesse: http://locatingstreetart.com/