Zum Valentinstag 2016 gab Eva Illouz in einem Essay in der Tageszeitung Haaretz den Rat, man möge doch statt der Liebesbeziehung zu huldigen lieber Freundschaften feiern. Sie argumentiert dabei folgendermaßen: Liebe – im Gegensatz zu Freundschaft – ist an ekstatische Gefühle gebunden, deren Grundlagen – seien diese (neuro-)biologisch, (neuro-)psychologisch, sozial konstruiert oder all dies gleich- und wechselseitig – zur Unkontrollierbarkeit neigen, zur Obsession. Dabei, so Illouz, sei eine gewisse Dringlichkeit zu beobachten, etwa wenn wir die andere Person begehren, berühren wollen und uns dafür in Autos und Züge setzen, das Land verlassen und den Schlaf vergessen. Diese führe final zu Schmerz. Der Schmerz orientiert sich in der Ausdrucksform am Status der eingegangenen Liebesbeziehung. Zu Beginn äußere er sich in Unsicherheit, dann in Eifersucht, zuletzt bestehe immer die Gefahr der Trennung. Illouz wünscht sich daher eine höhere Wertschätzung der Freundschaft, schließlich sei sie frei von Eifersucht, von Tragödie und böte sich damit auch nicht zur lächerlichen Darstellung in Komödien an. Freundschaft – so Illouz‘ kritischer Schluss – sei kapitalistisch nicht verwertbar: „friendship is a feeling experienced in freedom“. Nun ist Illouz nicht die einzige, die sich mit dem Spannungsfeld zwischen Liebe – ob romantisch oder partnerschaftlich – und Freundschaft beschäftigt und sich auf die eine oder andere Seite schlägt. Häufig essayistisch wird mal die Lebensweise als Single einem dichten Netzwerk aus Freundschaftsbeziehungen beschworen, wird thematisiert, wie sich aus Freundschaft endlich Liebe entwickelt oder Konflikte zwischen Freundschaft und Liebe beschrieben. Aber sind die Beziehungsformen wirklich so konträr? Wo sind aus soziologischer Perspektive nun also die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten?
Strukturell betrachtet sind sich die Formen von Liebes- und Freundschaftsbeziehung sehr ähnlich: In beiden Fällen handelt es sich um eine primär dyadische Konzeption. Georg Simmel machte in seiner Arbeit zur quantitativen Bestimmtheit der Gruppe (1908) deutlich, welche Konsequenzen die strukturelle Formation der Dyade auch auf qualitativer Ebene haben kann. Die Zweierbeziehung ist aufgrund ihrer numerischen Begrenzung in stärkerem Maße als Dreier- oder höherteilige Gruppenbeziehungen auf die Individualität ihrer Mitglieder zurückgeworfen. Fällt eine der beteiligten Personen aus – sei es durch Scheidung, Trennung, Streit oder Tod – so ist die dyadische Beziehung unwiderruflich zerstört. Diese zunächst einigermaßen banale Feststellung verändert jedoch nach Simmel auch das Bewusstsein der beteiligten Individuen: So wie das Sterben eine „von vornherein dem Leben einwohnende Qualität“ (S. 82) sei, so wissen auch die Mitglieder der Dyade um die potentielle Endlichkeit ihrer Beziehung, Simmel versteht es als „eine Modifikation unsres Seins“ (ebd.). Diese Modifikation, die andauernde Gefahr des Verlustes, führt zu einer Notwendigkeit der Überhöhung des Individuums – nur ebenjene Person und keine andere könne dieses Gefühl auslösen, so nah sein, so besonders sein. Diese Leistungserwartung an das Individuum beinhaltet nach Simmel das Risiko der Trivialität, denn dort, wo die Individualität das Besondere verspricht, fallen sowohl das Ausbleiben als auch die Wiederholung auf. Nun ist Simmels Analyse wahrhaftig kein optimistischer Blick auf die Zweierbeziehung – wobei man fairerweise betonen muss, dass er mit der Zweierbeziehung noch recht gnädig ist, wenn man bedenkt, wie er sich zur Geburt von Kindern und den Konsequenzen für die Dyade äußert – aber sein Fokus auf Strukturmerkmale und die sich daraus ergebenen Folgen für die Liebes- und Freundschaftsbeziehung sind auch bei einem etwas wohlwollenderen Blick auf die Dyade von großem Nutzen.
Freundschafts- und Liebesbeziehungen zeichnen sich neben ihrer Formation durch zahlreiche weitere Parallelen aus. Beide sind (zumeist) freiwillig und daher – so die Vermutung – von hoher Qualität. Viele andere Beziehungsformen sind im Kontrast dazu nicht wählbar, wie beispielsweise Familien-, Arbeits- oder Nachbarschaftsbeziehungen. Mittlerweile befreit von klassen- oder schichtspezifischen Zwängen, wird die dyadische Beziehung scheinbar nur aufgrund des individuellen Gefallens eingegangen. Dabei gilt natürlich zu beachten, dass die Freiheit von eben genannten Zwängen nicht unbedingt auch zu einer Emanzipation auf der Ebene der Praxis führt, gesucht wird die Wahlverwandtschaft des Habitus (Bourdieu 1982, Schütze 2008). Insbesondere an Freundschaften lässt sich eine deutliche Präferenz für homogame Beziehungen zeigen. Die dyadischen Partner*innen gleichen sich üblicherweise in Alter, Geschlecht und insbesondere bzgl. ihres sozialen Status. Klassenübergreifende Freundschaftsbeziehungen sind bekannt, aber selten. Dies galt für Liebesbeziehungen lange Zeit nicht, was deutlich wird, wenn man sich die zugehörigen Institutionalisierungsmuster anschaut. Insbesondere Frauen konnten ihren sozialen Status über Heirat deutlich verbessern, weil klassische heterosexuelle Partnerwahlmuster nicht nur einen Altersunterschied von mehreren Jahren zuließen, sondern auch Differenzen im Bildungsabschluss. Die Bildungsoffensive in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte zwar zu einer Erhöhung der Anzahl von Abiturientinnen, Studentinnen, promovierten Frauen und einer verstärkten Einbindung in den (hoch) qualifizierten Arbeitsmarkt, jedoch passten Frauen ihre Partnerwahlmuster nicht denen der Männer an. Immer noch wählen sie – falls möglich – Partner, die über einen höheren Bildungsstand verfügen als sie selbst oder aber eben über einen zumindest ähnlich hohen und binden sich damit hyper- oder homogam. Dieser Trend führt im nicht-wissenschaftlichen Bereich dann schon mal zu der These, dass das erhöhte Bildungsniveau von Frauen zu einem Anstieg von sozialer Ungleichheit führe – eine etwas eigenwillige Lesart der Ergebnisse von Gleichstellungspolitiken.
Kapitalismuskritische Perspektiven auf moderne Liebesbeziehungen wie beispielsweise von Eva Illouz (2011) sehen in der theoretischen Nichtwirksamkeit von Klassengrenzen, gekoppelt mit in der Praxis dann aber doch vorherrschenden Präferenz von homo- oder hypergamen Beziehungen, einen potenzierten Nachteil für Frauen. Die vormals durch Klassengrenzen strukturierte Partnerwahl entwickelt sich zum anonymen Warentausch. Im „sexuellen Feld“ agieren Akteur*innen jedoch mit ungleicher Ausstattung an Attraktivität, der feldspezifischen Ressource. Als attraktiv gilt, wer – ganz marktförmig – die eigene Verfügbarkeit verknappt und Autonomie demonstriert. Dies scheint Frauen weniger gut zu gelingen als Männern. So führt die Praxis der Homo- und Hypergamie zu einer künstlichen Verknappung potentieller Partner*innen, während Männer aus einer größeren Gruppe von Frauen wählen können, die gleich alt oder jünger und ähnlich oder weniger gebildet sind. Zudem sind sexuelle Erfahrungen mit vielen Partner*innen eine wichtige Komponente vieler Männlichkeitskonstruktionen, „serielle Sexualität“ läuft partnerschaftlicher Verbindlichkeit jedoch zuwider. Zwar haben sich auch die Sexualpraktiken von Frauen deutlich verändert, sie seien jedoch aufgrund biologisch ausgerichteter vergeschlechtlichter Narrative in der Auslebung begrenzt: Einerseits gilt für sie ein enges zeitliches Fenster körperlicher Attraktivität, während andererseits die Endlichkeit ihrer Fertilität die „kulturellen Wahrnehmungen […] prägen, die Frauen von ihren Körpern und ihren Paarungsstrategien haben“ (Illouz 2011: 147). Die Entscheidung zu sexueller Ausschließlichkeit und der Wunsch nach partnerschaftlicher Verbindlichkeit dient somit der erfolgreichen Reproduktion, insbesondere dann, wenn scheinbar gilt, dass die „biologische Uhr tickt“. Man muss Illouz‘ Analyse an einigen Punkten kritisieren, beispielsweise die Fokussierung auf heterosexuelle, hochgebildete Milieus in einem engen Altersrahmen oder ihre Konzentration auf Geschlechterunterschiede, die insbesondere in späteren Werken klassenspezifische Muster ausblendet. Dennoch weist sie in ihrer kapitalismuskritischen Perspektive auf Marktmechanismen bei der Partnerwahl hin, die sich für Freundschaften so nicht zeigen lassen.
Auch wenn Personen gezielt nach Freundinnen und Freunden suchen, so sind doch die Anforderungen, die an diese Personen gestellt werden, weniger strikt als solche, die an eine Partnerin oder einen Partner gestellt werden. Tatsächlich scheinen wir von Freundinnen und Freunden weniger zu erwarten, obwohl das freundschaftliche Ideal – die Tönniessche „Gemeinschaft des Geistes“ (1887), die in seinem Werk übrigens vor allem jungen Männern vorbehalten ist – im gesellschaftlichen Narrativ womöglich noch stärker überzeichnet ist als das Liebesideal. Freund*innen sind einander emotional zugewandt, sie sind loyal, sie vertrauen einander, überstehen aber auch räumliche wie emotionale Distanz. Sie sind verbunden und dennoch frei. Die Empirie zeigt zudem, dass Freundschaften Partnerschaften häufig überdauern und Freundinnen und Freunde im Falle von Trennung und Tod des Partners bzw. der Partnerin eine wichtige Unterstützungsquelle darstellen. Freundschaft und Liebesbeziehung können sich gegenseitig ergänzen, sie können in Konkurrenz zueinander stehen oder sich gar subsituieren.
Und selbst die Sexualität ist nicht mehr allein der Liebesbeziehung vorbehalten. In den frühen soziologischen Freundschaftskonzeptionen war Sexualität noch ausgeschlossen (z.B. Werking 1997), eine Freundschaft zwischen Männern und Frauen wurde vor allem als Möglichkeit der Anbahnung einer Partnerschaft wahrgenommen, weil – ganz im Sinne des Hollywood-Narrativs zu „Harry und Sally“ – eine dyadische gemischtgeschlechtliche Beziehung ohne Liebe und Erotik einfach nicht vorstellbar war. An dieser Stelle hat sicherlich irgendwann die Empirie die Theorie überholt, und das übrigens, ohne die immerwährende These wirklich beantworten zu können. Auf die Frage „Können Männer und Frauen wirklich miteinander befreundet sein?“ reagiert die neuere Freundschaftsforschung daher mit lässigem Schulterzucken und dies tut sie, weil sie Konzepte wie „friends with benefits“, also Freundschaften mit gelegentlichen sexuellen Kontakten, nicht ignorieren kann (Bisson/Levine 2009).
Ein Punkt, in dem sich Freundschaften und Liebesbeziehungen häufig sehr deutlich unterscheiden, ist jedoch das Konzept der Exklusivität. Sexuelle wie emotionale Ausschließlichkeit stellen für viele Liebesbeziehungen dominante Normen des Zusammenseins dar. Freundschaften hingegen sind in ihrer Anzahl nicht begrenzt und können parallel existieren. Ausschließlichkeit entsteht, sie ist kein natürlicher Zustand. Sie kann durch ein bestimmtes Moment initiiert werden, beispielsweise den ersten Kuss, sie kann die natürliche Konsequenz der Entscheidung ein Paar zu sein darstellen, oder sie kann zu einem spezifischen Zeitpunkt ausgehandelt werden. Letzteres wird in den USA mit „we had the talk“ bezeichnet und wenn man sich entsprechende Ratgeberseiten (z.B. hier) ansieht, scheinen sowohl Zeitpunkt als auch Art und Weise der Exklusivitäts-Verhandlung äußerst sensible Themen zu sein, die in der stereotypen Aufarbeitung der Praxis vor allem Frauen zugeschrieben wird, die hier zahlreiche Möglichkeiten haben, in der Auseinandersetzung mit der Ausschließlichkeitsvereinbarung ihre Attraktivität als autonomes Subjekt zu demontieren. Und um dies direkt ganz deutlich zu sagen: Auch die Ablehnung von Exklusivität in beispielsweise polyamoren Beziehungskonstellationen ist mit Aushandlungen verbunden (Schadler/Villa 2016). Das Konzept der Ausschließlichkeit beeinflusst die Beziehung also in jedem Fall. Ist die Exklusivitäts-Norm erst einmal installiert, so heißt dies – das ist sowohl anekdotisch als auch wissenschaftlich bekannt – für die Praxis erst einmal gar nichts, wohl aber für die Sanktionierung im Falle der Normverletzung, also des Fremdgehens.
In Freundschaften ist diese Form der Ausschließlichkeit nicht bekannt. Zwar zeigen sich in der Empirie im Falle der Kombination Freundschaft und Pflege als beziehungsstabilisierende Exklusivitätskonstruktionen (Hahmann 2013) und auch das Konzept der „besten“ Freundschaft deutet auf eine ebensolche hin, aber diese scheinen sich eher aus der freundschaftlichen Praxis heraus zu entwickeln: Weil eine Person besonders liebenswert und passend ist, verbringen wir mehr Zeit mit ihr, teilen ihr unser Leben stärker mit und schon aufgrund dieser alltäglichen Dominanz verfestigt sich die besondere Intensität der Dyade. Bestenfalls überlebt sie dann sogar Streits, die sich aus dieser Nähe ergeben können. Üblich ist jedoch die Gleichzeitigkeit diverser Freundschaftsbeziehungen, die in ihrer Intensität und Hierarchisierung variieren. Freundschaften überleben auch, wenn sie eine Zeit lang wenig gepflegt werden – in Interviews ist dies sogar ein dominantes Motiv, um die besondere Qualität einer freundschaftlichen Beziehung hervorzuheben: „Wir sehen uns nur einmal im Jahr, aber dann passt alles sofort“. Die fehlende Exklusivität hat auch zur Folge, dass wir uns von Freund*innen nicht offiziell trennen müssen. Tatsächlich ist ein offener Bruch in Freundschaften selten, die Forschung kennt hier eher Praktiken des Auslaufenlassens, die weniger Kontakt und damit auch weniger Austausch und emotionale Nähe bedeuten. Dies ist jedoch nur möglich, weil ein Individuum nicht frei und ungebunden sein muss, um eine neue Freundschaft einzugehen. Hier wird der Unterschied zwischen Liebes- und Freundschaftsbeziehung also sehr deutlich: Strukturell betrachtet ist Freundschaft immer unsicher.
Insgesamt zeigt die aktuelle Forschung intimer dyadischer Beziehungen neben der eindeutigen Freundschaft und der eindeutigen Liebesbeziehung eine Vielzahl an Graustufen zwischen den beiden Beziehungstypen, sei es das Konzept der „friends with benefits“ oder seien es polyamore Beziehungen jeglicher Art. Dabei ist auch ganz deutlich die Wissenschaft zu kritisieren, die gemischtgeschlechtliche Freundschaften argwöhnisch betrachtete und auf sexuelle Komponenten hin untersuchte und damit in heteronormativer Manier gleichgeschlechtliche und „platonische“ Freundschaften als Ideal stilisierte. Und z.B. übersah, dass der Freundschaftsbegriff im Alltag auch verwendet wurde, um verbotene, beispielsweise homosexuelle, Liebes- und Paarbeziehungen zu schützen (Schobin 2013). Aber auch die Erkenntnis, dass viele langjährige Partnerschaften in Ideal wie Praxis viel stärker Freundschaften ähneln als Liebesbeziehungen, mit dem von Eva Illouz beschriebenen emotionalen Auf und Ab, zeugt davon, dass die Beziehungsformen sich in vielen Bereichen überschneiden und aus analytischer Perspektive kaum voneinander zu unterscheiden sind.
Zu guter Letzt ist Liebe aber eben doch mehr als eine Beziehungsform und ein Produkt sozialer Konstruktion, anhand dessen sich tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen nachzeichnen lassen. Liebe ist auch ein Zustand, der Menschen glücklich machen kann, nach dem sie sich sehnen. Das Verlangen und Begehren, die Obsession, die daraus entsteht, wünschen wir uns nicht nur im sexuellen Kontakt der Verliebtheit, sondern auch in der Verstetigung, die wir uns aus einer Liebesbeziehung versprechen. Und dass es dann beim Scheitern umso schmerzhafter ist, das sollten wir vielleicht hinnehmen. Wir haben schließlich Freund*innen, die uns trösten können.
„Liebe ist auch ein Zustand, der Menschen glücklich machen kann, nach dem sie sich sehnen. Das Verlangen und Begehren, die Obsession, die daraus entsteht, wünschen wir uns nicht nur im sexuellen Kontakt der Verliebtheit, sondern auch in der Verstetigung, die wir uns aus einer Liebesbeziehung versprechen.“
Das ist dann aber doch recht amatonormativ, nicht? Ja, Liebe – romantische Liebe! – kann manche Menschen glücklich machen, und manche Menschen sehen sich danach. Andere aber nicht. Die angebliche Universalität der (sexuellen) Liebessehnsucht, die in dem all-inklusiven „wir“ ihren Ausdruck findet, existiert so nicht, namentlich nicht für asexuelle Personen, die eben nicht nach dem Verlangen und Begehren der sexuellen Verliebtheit streben, wohl aber ggf. nach Liebesbeziehungen. Sie existiert auch nicht für aromantische Personen, die eine solche Anziehung nicht empfinden, oder Personen, die aus verschiedenen Gründen überhaupt erst keine Liebesbeziehung eingehen wollen.
Tatsächlich exkludiert dieser Absatz aromantische und asexuelle Menschen, danke für Ihren Hinweis, Julia Maria Zimmermann! Amatonormativität verstehe ich aber anders, denn erstens steht da auch „Liebe ist auch ein Zustand, der Menschen glücklich machen *kann*“ und zweitens schließt er Polyamorie nicht aus. Zumal in Kombination mit den vorherigen Absätzen, die deutlich machen, wie ähnlich sich Freundschaft und Liebesbeziehung sind.
Wenn die Soziologie sich zu einer Wissenschaft entwickeln würde, die diesen Namen verdient, könnte der Ausgangspunkt jenseits emotional-ideologischer Moralismen auf der Basis des von mir angedeuteten „methodologischen Strukturalismus“ so aussehen, wie ich es in meinem Blog „Die Soziologie des Unbewussten“ formuliert habe:
„Die SOZIOLOGIE der Beziehung
oder
Warum sind die meisten Morde Beziehungsmorde?
Kurze Vorab-Antwort: Weil die WIRKlichkeit der Beziehung „an sich“ nicht realistisch begriffen wird!
Der von mir angedeutete „methodologische Strukturalismus“ basiert im Gegensatz zur intersubjektivistischen Soziologie (inklusive der Systemtheorie) auf einer objektiven, ontologischen Konzeption von sozialen STRUKTUREN. Sie steht im Gegensatz zu den üblichen konstruktivistischen Fassungen der sozialen Beziehung, die von der subjektiven Wahrnehmung bzw. der intersubjektiven Kommunikation ausgehen.
Dem konstruktivistischen Verstand ist die Vernunft abhanden gekommen, die notwendig ist, um die WIRKlichkeit realistisch zu begreifen!
Diese STRUKTUREN, die das TYPISCHE oder, verteilungstheoretisch ausgedrückt, das wahrscheinliche Verhalten in einem sozialen System determinieren, reichen von der kulturellen Ebene wie beschrieben bis zur Beziehungsebene und darüber hinaus bis zur Persönlichkeitsstruktur.
Es geht um eine ontologische Hierarchie, die unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung existiert, oder anders formuliert, der subjektiven Wahrnehmung vorausgeht.
Am Beispiel der sozialen Beziehung zwischen zwei Menschen, die ich am Beispiel der Ehetherapie skizziert habe, wird deutlich, dass sich durch die Interaktion eine unbewusste WIRKlichkeit entwickelt, die unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung UNBEWUSST entsteht, sich verselbständigt und die TYPISCHEN Verhaltensweisen innerhalb der Beziehung STRUKTURELL beWIRKT.
Meine wissenschaftstheoretische Position wird philosophisch mittlerweile durch den „NEUEN Realismus“ gestützt, der eine fundamentale Kritik am postmodernen Konstruktivismus, der auf Kant und seine erkenntnistheoretische Position allerdings epigonenhaft verkürzt) zurückgeht, darstellt.
So formuliert Maurizio Ferraris das Verhältnis von Ontologie und Epistemologie, zum Beispiel bezogen auf den Aufforderungscharakter der realen, objektiven Umwelt, so:
„Daher hat alles – einschließlich der Wirtschaftsunternehmen, symbolistischen Gedichte und kategorischen Imperative – seinen Ursprung in der Aufforderung, die die UMWELT ausspricht. Eine Höhle spricht verschiedene Wesen an und fungiert als Zuflucht, eben weil sie ganz bestimmte Charakteristika hat und andere nicht.. Ökosysteme, staatliche Organisationen, ZWISCHENMENSCHLICHE BEZIEHUNGEN (Herv. GAS): in jeder dieser STRUKTUREN (Herv. GAS), die unendlich komplexer sind als eine Höhle, wiederholt sich die Struktur der Widerständigkeit und der Aufforderung. Ich definiere eine Umwelt als jeden Bereich, in dem solche Interaktionen stattfinden, von der ökologischen Nische bis zur SOZIALEN WELT (Herv. GAS), wobei selbstverständlich jeder Bereich seine eigenen Charakteristika hat. Im Umfeld ‚ergibt sich‘ der Sinn, er steht uns nicht zur vollen Verfügung. Der Sinn ist ein Modus der Organisation, wodurch etwas irgendwie erscheint, aber in letzter Instanz eben nicht von den Subjekten abhängt.“
(Maurizio Ferraris „Was ist der Neue Realismus? Vom Postmodernismus zum Realismus“ in Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus, Suhrkamp Berlin 2014, S.66)
Im Gegensatz zu Luhmanns Systemtheorie ist die Basis des sozialen Systems „Beziehung“ NICHT die intersubjektivistisch angelegte Kommunikation, die bei ihm der Grundbaustein aller sozialen Systeme darstellt, sondern die objektivierbare WIRKlichkeit des unbewussten PRODUKTS der Kommunikation.
Die KAUSALE Wirkung (im Sinne eines statistischen Syllogismus) der BEZIEHUNG auf das Verhalten der Individuen im System eröffnet den Zugang zu einer WISSENSCHAFTLICH-soziologischen Erfassung von Sozialität jenseits der intellektualistisch-konstruktivistischen und funktionalistischen Metatheorie Luhmanns.
Der intellektualistische und selbstverliebte Take-Off Luhmanns und seiner Epigonen kann wieder in den Landeanflug auf die soziale WIRKlichkeit übergehen.
Die biologische Dimension des symbolischen Tiers „Mensch“, die die Systemtheorie betont, kann mit Hilfe der Kategorie des Unbewussten zu einem ganzheitlich-realistischen Fundament erweitert werden , das endlich die Anschlussmöglichkeit für eine kausal-wissenschaftliche Soziologie jenseits emotional-ideologischer Einseitigkeiten bietet.
Heuristisch bleibt die metatheoretische Systemtheorie selbstverständlich anregend. Sie kann an vielen Stellen genutzt werden, um wissenschaftlich-soziologische Theoriestücke und Hypothesen im Rahmen des „methodologischen Strukturalismus“ und der „Soziologie des Unbewussten“ zu formulieren.
Ein Beispiel auf der Ebene einer Zweierbeziehung mag diese Perspektive verdeutlichen, aus Brooks „Der Mensch, das soziale Tier“:
„Eine Ehe ist ein emergentes System. Francine Klagsbrun hat beobachtet, dass sich bei einer Paartherapie -neben dem Therapeuten- immer DREI (Hervorh.GAS) Personen im Raum befinden, der Mann, die Frau und DIE EHE SELBST ( Hervorh. GAS ). Die Ehe ist die lebende Geschichte all der Dinge, die zwischen Mann und Frau passiert sind. Sobald sich Muster herausgebildet und in ihren beiden Gehirnen verankert haben, beginnt die Ehe selbst ihr individuelles Verhalten zu PRÄGEN (Hervorh. GAS). Obgleich sie in dem Raum zwischen ihnen existiert, hat sie einen ganz eigenständigen Einfluß.“
(Brooks 2012: 176)