Andreas Diekmann hat in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung [1] kurz vor dem letzten Soziologiekongress die provokante These aufgestellt, die Soziologie müsse sich ganz neu erfinden. Nanu, möchte man sagen, hundertzwanzig Jahre Soziologie einfach in die Tonne treten und neu starten? Was steckt dahinter? Als wichtigstes Argument führt Diekmann die technologische Entwicklung an, die inzwischen zu informatischen Strukturen geführt hat, in denen nahezu alle menschlichen Aktivitäten in Echtzeit Datenspuren erzeugen. Die Medien, die Wirtschaft und zunehmend auch die Wissenschaft sprechen dann von Big Data – eine wohl nicht ganz zufällige Anähnelung an die alte Dystopie vom Big Brother. Freizeitsportlerinnen messen ihre Leistungen und körperlichen Zustände, Kunden ergattern mit Payback-Karten geringfügige Rabatte und zahlen dafür mit ihren Konsumdaten, Strom- und Heizenergiezähler sammeln zunehmend auf digitalen Wegen Verbrauchsinformationen etc. So kommen auf den Servern großer Konzerne, aber auch bei Polizei, Sicherheitsdiensten und (öffentlichen wie privaten) Verwaltungen schnell sehr große Datenmengen zusammen, die dort zum Teil sehr systematisch für z.B. personalisierte Werbung genutzt werden.
Diekmann argumentiert nun: Was für ein großartiges Repertoire sozialwissenschaftlicher Daten, was ließe sich damit alles anfangen! Und andere würden schon beginnen, aus diesen Daten Honig zu saugen, z.B. Informatikerinnen. Die aber seien doch gar keine kundigen Sozialwissenschaftler, daher obliege es der Soziologie, sich mit verbesserten statistischen Verfahren dieser Daten anzunehmen. Die Soziologie aber, so seine Klage, drohe diesen Trend zu verschlafen, was sich schon darin zeige, dass sich im Vorstand der DGS niemand kundig damit befasse. Ob letzteres wirklich ein guter Indikator ist, um die Diekmanns These an der Realität scheitern zu lassen, sei einmal dahingestellt.
Jedoch hat Diekmann zweifelsohne Recht, wenn er auf neue, interessante Datenquellen in der Sphäre des Digitalen hinweist und richtig ist auch, dass es sinnvoll, wenn nicht notwendig ist, auch für diese Datentypen angemessene Analysemethoden zu erforschen. Das Problem an seinem Vorschlag ist aber der methodologische Konventionalismus, von dem aus er vorgetragen wird: Folgt man seiner Argumentation, dann geht es einfach darum, einen neuen Typ von Daten sozialwissenschaftlich relevant zu machen. In seiner Logik wären es Prozessdaten des Sozialen, die das Versprechen in sich bergen, unbeeinflusst von störenden Einflüssen sozialwissenschaftlicher Datengewinnungsprozesse Gesellschaftlichkeit in ihrem Prozessieren zu beobachten. Was in alten Methodenlehrbüchern als Verhaltensspuren beschrieben wird, wäre hier nun in einer ganz neuen Dimension zuhanden und würde einen Kosmos neuer Möglichkeiten eröffnen.
Doch das neue Eldorado der Sozialforschung hat seine Tücken, die man wohl am besten erkennt, wenn man die Erkenntnismöglichkeiten der guten alten Soziologie bemüht und die Weisheit eines – ja – Informatikers: Der KI-Forscher Hubert L. Dreyfuß machte schon 1972 darauf aufmerksam, dass Daten weit entfernt davon sind, roh zu sein [2]. Daten, also die Daten von Big Data, sind voraussetzungsreiche Konstrukte, das lernt die Soziologin spätestens, wenn sie sich im Rahmen einer quantifizierenden Studie mit dimensionaler und semantischer Analyse befasst. Denn Daten setzen Kategorien voraus, denen sie zuzuordnen, nach denen sie zu unterscheiden und auch zu vergleichen sind. Diese Kategorien sind immer auch der geronnene Ausdruck machtförmiger sozialer Prozesse, wie werden ausgehandelt – mal offen und mehr oder weniger formal, weit häufiger aber informell, sukzessive, im Verborgenen. Und ihre Gestalt hat soziale, politische, wirtschaftliche und oft auch psychische Konsequenzen. Der spezifische Zuschnitt von Kategorien ist entscheidend dafür, inwiefern wir die darunter versammelten Daten als gültige Referenten auf einen wie immer gearteten Ausschnitt der empirischen Welt anerkennen wollen. Sie ist auch verantwortlich dafür, in welchen Konturen wir diese empirische Welt zu sehen bekommen. Mit der Faktizität der so generierten und geordneten Daten ist es also so eine Sache, wie bereits George Herbert Mead wusste: »But facts are not there to be picked up. They have to be dissected out, and the data are the most difficult of abstractions in any field.” [3]
Vor (sicher erforderlichen) neuen ausgefuchsten statistischen Verfahren brauchen wir vor allem wissenssoziologische Studien, die Prozesse der Verfertigung und Geltendmachung jener Kategorien empirisch und theoriegenerierend untersuchen, unter denen fortlaufend Prozessdaten des Sozialen aggregiert werden. Welche normativen Vorstellungen stecken etwa hinter dem Body-Mass-Index (BMI), der vielen Fitness-Apps als wertendes Kategoriensystem für das Körpergewicht hinterlegt ist? Was verändert sich, wenn der Individualverkehr große Mengen online verfügbarer Prozessdaten generiert und in welchen Prozessen wird festgelegt, welche dieser Daten in welcher Form in welche anderen Prozesse Eingang finden? Wie verändern sich soziale Praktiken, wenn binäre Zuschreibungen (wie im Fall des x-ten Geschlechts) an Legitimation verlieren? Was bedeuten „Likes“ Facebook: Kann man sie als ‚valide‘ Daten behandeln? Und was wird aus der standardisierten Sozialforschung, wenn im Zuge der Digitalisierung große und heterogene Datenmengen mit relativ wenig Aufwand nach Mustern durchsucht werden können und dabei Zusammenhänge auftauchen, nach denen nicht gesucht wurde? Übernimmt dann die Serendipität der ad hoc-Hypothese? Obsiegt die Korrelation über die Begründung, wie es der Philosoph Klaus Mainzer befürchtet [4]?
Um auf den Ausgangspunkt zurück zu kommen: Neu erfinden muss sich im Angesicht der Digitalisierung des sozialen Lebens vor allem die standardisierte Sozialforschung, die vor diesem Hintergrund ihre Instrumente neu zu justieren, aber auch ihre wissenschaftstheoretischen Modelle zu überprüfen hat. Eine neue Soziologie braucht es dafür nicht, es genügt, wenn wir die alte aus der Mülltonne des Kollegen Diekmann befreien und damit frisch ans Werk gehen. Erste Anfänge sind längst gemacht [5] [6] [7].
[1] Diekmann 2016 Die Gesellschaft der Daten. Süddeutsche Zeitung vom 26.09.2016
[2] Dreyfus, H. L. (1972). What Computers can’t do : A Critique of Artificial Reason. New York.
[3] Mead, G. H. (1938). The Philosophy of the Act. Chicago, S. 98.
[4] Mainzer, K. (2014). Die Berechnung der Welt : von der Weltformel zu Big Data. München.
[5] Duttweiler, S. u.a. (Hg.). (2016). Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Bielefeld.
[6] Lampland, M., & Star, S. L. (2009). Standards and their Stories: How Quantifying, Classifying, and Formalizing Practices Shape Everyday Life. Ithaca.
[7] Passoth, J.-H., & Wehner, J. (Eds.). (2013). Quoten, Kurven und Profile. Wiesbaden.
Ein wichtiger Beitrag! Wenn ich Ihn richtig verstehe, dann gefällt Ihnen sicher auch folgender „Anfang“ (garantiert keine standardisierte Sozialforschung):
BIG DATA REALITY CHECK OF SOCIAL MEGA TRENDS. Results from the first global brain wave measurement: http://wp.me/pvO07-YZ
Ineressanter Artikel. Hubet Dreyfus, der übrigens erst in diesem Jahr verstorben ist, war allerdings kein Informatiker sondern Philosoph und noch dazu ein wichtiger!!! Evtl liegt hier eine Verwechslung mit seinem Bruder Stuart vor, der aber auch kein Informatiker sondern Mathematiker war
Lieber Herr Seising,
haben Sie herzlichen Dank für den Hinweis. Sie haben natürlich recht: Der Dreyfuss ist Philosoph, wenngleich einer, der damals über künstliche Intelligenz gearbeitet hat. Vielleicht hat er sich gelegentlich mit seinem Bruder beraten :-)
Mit besten Grüßen
Jörg Strübing
Hallo Herr Stübing, er hat sich sicherlich mit seinem Bruder beraten und beide haben ja zusammen viel — u.a. das wichtige Buch — geschrieben. Ichahbe den Kommentar auch nur deshalb geschrieben, weil die Betonung so auf „Informatiker“ lag, das hat er nicht verdient. Grüße, Rudi Seising
Herr Professor Strübing,
die meisten sozialwissenschaftlichen (im Gegensatz zu informatischen) „Computational-Social-Scientists“ (wie man das heute so nennt …) sind sich bewusst, dass auch „Big-Data“ und die darin zu findenden Kategorien etc. das Ergebnis sozialer Festlegungsprozesse sind (wenngleich sie unterschiedlich pragmatisch mit dem vorgefundenen Datenmaterial umgehen). Grundsätzlich können alle von Ihnen erwähnten Fragen gleichfalls mittels eben jener von Diekmann eingeforderten Methoden erforscht werden. Man kann versuchen zu rekonstruieren, wie die Algorithmen funktionieren, welche Nutzer klassifizieren, oder die Klassifikationen verschiedener Seiten vergleichen. Man kann die Daten mit anderen Quellen kombinieren und beobachten, wie gesellschaftliche Diskurse (in den „sozialen“ oder „klassischen Medien“ oder wo auch immer) die Ausbreitung von, beispielsweise, neuen Geschlechterkategorien anregen und fördern (oder welche Unternehmen, eingebettet in bestimmte soziale und wirtschaftliche Kontexte, zögerlich vorgehen).
Es ist auch keineswegs so, dass der Forschungsprozess beim Herunterladen der Daten beginnt. Freilich gibt es eine „explorative“ oder „hypothesengenerierende“ Phase, in welcher die Forscher ihre Vorannahmen zunächst mit sehr persönlichen Eindrücken des Feldes konfrontieren. Herr Professor Diekmann beschäftigt sich derzeit mit Märkten im „Darknet“ und erkundet das erst einmal auf ganz „qualitative“ Weise, wie seinen Präsentationen unlängst zu entnehmen war. Lediglich am Ende des Forschungsprozesses steht die formale Prüfung der Hypothesen, wenn die persönliche Einzelerfahrung nicht mehr ausreicht, um eine Theorie mit allgemeinem Inhalt zu falsifizieren.
Es ist ein nicht auszumerzendes Vorurteil, „quantitative“ Forscher gingen unreflektiert mit ihrem Datenmaterial um. Im Zusammenhang mit Fragebögen hört und liest man es auch immer wieder. Dabei wird ignoriert, wie viel Zeit in die Planung investiert und wie viel Wissen im Bereich der Survey-Forschung durch systematische Methoden gewonnen wurde. Auch dazu, wie Befragte spotan ihre Antworten und Einstellungen „konstruieren“ oder zur Wirkung von vorgebenen Kategorien.
Lieber Herr Weber,
ich hatte kaum zu hoffen gewagt, dass Max Weber sich an dieser Debatte persönlich beteiligen würde:-)
Aber Scherz beseite. Worum es mir in meinem Beitrag geht, ist nicht zu behaupten, dass der Kollege Diekmann sich keine Gedanken darüber macht, was es mit den Daten von Big Data auf sich hat. Ich wollte vor allem den Alarmismus kritisch konterkarieren, mit dem er seine Philippika vorgetragen hat. Es geht nicht darum, die Soziologie neu zu erfinden, sondern lediglich darum, die Verfahren quantitativer Sozialforschung nun eben auch auf dieses Feld und diese Datentypen bezogen weiter zu entwickeln. Der Hinweis auf die gegenwärtige Soziologie, die Diekmann zu überwinden vorschlägt, markiert, dass eben weit vor den von ihm angeregten Formen der Nutzung von Big Data-Strukturen für die Gesellschaftsanalyse viel empirische Arbeit zu leisten ist, um die damit verbundnen Phänomene angemessen verorten zu können. Dabei geht es z.B. um ethnographische, diskursanalytische oder auch konversationsanalytische Studien, die nicht explorative Vorstudien von dann als ‚eigentliche Forschung‘ verstandenen, standardisiert verfahrenden Studien zu verstehen sind, sondern eigene valide Ergebnisse erbringen, die keiner quantitativen Härtung bedürfen. Und es geht um weit mehr als um, wie Sie schreiben, „persönliche Einzelerfahrung“. Und ich halte es auch nicht für eine Neuerfindung, sondern eher für eine Verarmung der Soziologie, wenn man den „sozialen Kontext“ durch den Bezug auf Daten aus Geo-Informationssystemen glaubt angemessen erschließen zu können.
Mit besten Grüßen
Jörg Strübing
„Ich wollte vor allem den Alarmismus kritisch konterkarieren, mit dem er seine Philippika vorgetragen hat. Es geht nicht darum, die Soziologie neu zu erfinden, sondern lediglich darum, die Verfahren quantitativer Sozialforschung nun eben auch auf dieses Feld und diese Datentypen bezogen weiter zu entwickeln“
Ich finde den Artikel nicht alarmistisch, nur ehrlich. Es gibt erheblichen Nachholbedarf in vielerlei Hinsicht:
1.) Die Allgegenwart der digitalen Welt erfordert auch, dass Sozialwissenschaftler diese Welt verstehen. Schon so mancher Forscher (oder Journalisten – man denke nur an Schirrmacher) hat sich blamiert, weil er ohne ein Mindestmaß technischer Kenntnisse über „Algorithmen“ schwätzte. Soziologen machen sich regelmäßig durch die oberflächliche Behandlung von technischen Konzepten wie Kybernetik, Fuzzy-Logik oder Komplexitätsforschung lächerlich (wie viele Bücher über Komplexitätsforschung ohne eine einzige Formel kann man denn eigentlich schreiben?). Diese technische Seite – als grundlegende Gegenstandskenntnisse – darf man nicht ignorieren und wenn man an die Lehre in der Soziologie denkt, wird jene am besten in Semiaren und Projekten vermittelt, die tatsächlich auch informatische und/oder datenanalytische Anwendungselemente haben. Durch eine teilnehmende Beobachtung als Spieler in World of Warcraft auf Basis der „grounded theory“ gewinnt man wenig Einsichten in die Probleme der digitalisierten Welt (um auch mal einen plakativen Strohmann zusammenzubinden …).
2.) Es werden Verfahrungen und Methoden benötigt, die über das hinausgehen, was bislang in der Methodenausbildung gelehrt wird: von Web-mining über maschinelles Lernen, Simulation etc. Die Art der Daten ermöglicht die Analyse von Verhalten, das in der Regel vorher unbeobachtet blieb, weshalb keine einfache Übertragung bisheriger Forschungsansätze möglich ist.
3.) Schon fortgeschrittene Prinzipien der Kausalanalyse und andere methodische Inhalte, welche ganz unabhängig von „Big Data“ usw. notwendigerweise gelehrt werden sollten, fehlen häufig in der Soziologieausbildung. Insgesamt sind die Datenanalysekenntnisse vieler Soziologie-Absolventen eigentlich unwürdig für Personen, die angeblich ein wissenschaftliches Studium abgeschlossen haben. Da kann Hirschauer die Prüfungsordnungen und Lehrstuhl-Denominationen so buchstabentreu deuten wie er will, es reicht nicht aus, wenn der einzige Methodenprof zwar hauptsächlich quantitative Forschung lehrt, die Mehrzahl der anderen Seminare sich dann aber im Lesen von qualitativen Diskursanalysen erschöpft. So werden die Kenntnisse nie angewandt und sind am Ende nicht gefestigt. Zumal der durchschnittliche Soziologiestudent zwar mittelmäßig sprachbegabt ist, aber seine Oberstufenmathematik fast vollständig vergessen hat. Daher kämpfen alle Statistiklehrenden zunächst mit aus der schule geerbten Bildungslücken, ohne zu den eigentlichen neuen Inhalten fortschreiten zu können.
(Man könnte das alles noch weiter ausführen und Punkte ergänzen, die Diekmann in seinem ursprünglichen Kommentar anspricht …)
Es ist leider wahr: Die derzeitige Soziologie ist nicht gerüstet. Sie wird auch so wahrgenommen (schon einmal Nicht-Soziologen über Soziologie reden hören?) und zieht deshalb auch viele unterdurchschnittliche Studenten an, während die talentierten Informatik oder VWL studieren und dann ohne soziologische Bildung zu denselben Fragen forschen.
Lieber Herr Weber,
(warum habe ich nur das ungute Gefühl, mit einem Annonymus zu kommunizieren, der von einem temporären Account unter einem Pseudonym schreibt? … Egal.)
Sie werfen da sehr viele Aspekte zusammen, und ich bin mir nicht so sicher, dass sie in dieser Verbindung alle gut aufgehoben sind.
Zunächst: Dass es sinnvoll ist, die quantitativen Datenanalysemethoden mit Blick auf die neuen Erfordernisse einer Digitalisierung weiter Teile des sozialen Lebens weiter zu entwickeln, hatte ich doch gar nicht bestritten. Wohl aber die Vordinglichkeit, die im Text von Andreas Diekmann diesem Unterfangen eingeräumt wird. Wohin soll denn die Reise gehen? Das „Lesen von qualitativen Diskursanalysen“ aus dem Lehrplan streichen, um zusätzlich zur selbstverständlich im vollem Umfang völliig unverzichtbaren Ausbildung in Statistik und quantitativen Methoden auch noch Data Mining im Studienprogramm unterzubringen? Sollen wir „Neuere soziologische Theorie“ einem Schmalspur-Informatik-Studium opfern? Und meinen Sie wirklich, wir könnten eine zunehmend mit digitalen Infrastrukturen verwobene Sozialwelt nicht mehr verstehen, nur weil wir kein ordentliches Ingenieurstudium in unseren Lehrplan integriert haben? Ist das nicht ein bisschen viel Hype um Big Data? Hm.
Interessant ist, was Sie über die Methodenausbildung anmerken: Kann es wirklich sein, dass die Ausbildung in standardisierten Methoden in der Soziologie so schlecht ist, wie Sie sie beschreiben? Und das bei einer solchen Domnianz entsprechend ausgerichteter Lehrstühle und der großen Umfänge an Ressourcen, die die Institute dafür aufwenden? Dann würde da aber irgendetwas gewaltig schief laufen. Und zwar etwas, was sich kaum allein auf die mangelnden Mathematik-Kenntnisse der AbiturientInnen schieben lässt, denn um die Sprachkompetenz (z.B. für die von Ihnen offenbar wenig geschätzten Diskursanalyse, ganz zu schweigen von Konversationsanalyse oder Objektiver Hermeneutik) unserer Studienanfänger ist es oft nicht besser bestellt.
Ich wäre eigentlich schon ganz froh, wenn durchschnittliche Soziologie-Absolventinnen in der Lage sind, diejenigen sozialen Prozesse kompetent zu interpretieren und zu rekonstruieren, die sich vor ihren Augen abspielen. Geschweige dass sie sich überhaupt in die Gesellschaft hineintrauen und nicht vermeinen, Sozialität allein am Bildschirm einfangen zu müssen. Dass Sie mich nicht falsch verstehen: Ich bin selbst Techniksoziologe und weiß sehr wohl um die Bedeutung der Sachkompetenz für die (z.B. technischen) Gegenstände unseres forschenden Interesses. Aber wir müssen nicht selbst Physiker sein, um über Physikerinnen zu forschen.
Und dann schreiben Sie, die Soziologie sei „nicht gerüstet“ (für was genau eigentlich?) und werde „auch so wahrgenommen“. Keine Frage, es gibt immer Defizite, an denen es zu arbeiten gilt, aber dann gleich (und das meine ich mit Alarmismus) am Großen und Ganzen zu zweifeln, ist doch ein wenig übertrieben, oder? Ich sehe an vielen Instituten hervorragende junge Soziologen heranwachsen, die, jeweils spezialisiert und mit unterschiedlichen Kompetenzschwerpunkten, ausgezeichnete Forschungsarbeit leisten. Vielleicht sollten wir mehr darüber reden, statt das ganze Fach für inkompetent zu erklären, nur weil nicht alle der eigenen Spezialisierung folgen mögen? Was ‚die Leute so reden‘, z.B. über die Soziologie, das reden sie natürlich so daher, weil sie es von Vertreterinnen unseres eigenen Faches so vorgebetet bekommen. Und teilweise – gerade wenn es sich um Kollegen anderer akademischer Fächer handelt – messen diese Kritiker die Soziologie an den Kriterien ihrer eigenen Profession. Volkswirte beklagen, dass Soziologen nicht rechnen können, aber bitteschön: Wir haben auch nicht das Ziel Versicherungsmathematiker auszubilden (und wer hat eigentlich die Bankenkrise nicht prognostiziert…?). Sozialarbeiterinnen beklagen, die Soziologen würden nur reden und analysieren, aber die Gesellschaft nicht verändern. Aber ist es nicht das Merkmal einer stark funktional differenzierten Gesellschaft, dass nicht alle das Gleiche machen und gesellschaftliche Aufgaben arbeitsteilig bewältigt werden?
Und über das ‚Beobachten‘ „auf Basis der grounded Theory“ müssen wir auch noch einmal reden – aber erst, wenn Sie mir Ihren Namen verraten.
Nichts für ungut
Jörg Strübing
Beim Lesen (nicht nur) dieser Diskussion drängt sich mir dir Frage auf, ob die fachliche Ausdifferenzierung innerhalb der Soziologie nicht so weit fortgeschritten ist, dass eine Einheit des Fachs in Form eines gemeinsamen Forschungs- und Diskursraums schon gar nicht mehr realistisch ist?
Wenn eine mindestens zur Hälfte quantitativ ausgerichtete Methodenausbildung nicht ausreicht, um im Soziologiestudium die nötige Expertise in diesem Gebiet zu vermitteln, Theorieveranstaltungen hier teilweise eher als hinderlich für die Ausbildung der ‚eigenen Studierenden‘ betrachtet werden, und wenn genauso kulturwissenschaftlich forschende Soziolog/innen die Statistikausbildung oft eher als unnötigen Ballast empfinden – wie soll das dann zusammen gehen?
Betrachtet man die Verständigungsschwierigkeiten innerhalb des Faches, die oft größer sind, als die zwischen der Soziologie und benachbarten Disziplinen, könnte man den Eindruck gewinnen, dass man es längst mit getrennt voneinander operierenden Bereichen zu tun hat.
Oder gibt es doch genügend Gemeinsamkeiten, um zusammen unter dieser traditionsreichen Marke zu arbeiten? Ohne die stille Hoffnung, dass die jeweils anderen bald marginalisiert sein werden?
Was müsste sich ändern, damit überhaupt gemeinsame Fachgespräche zustande kommen können? Wie viel Spezialisierung der unterschiedlichen Erkenntnisinteressen müsste dafür in den jeweiligen Bereichen zurückgenommen werden?
Oder geht es sowieso nur noch um eine friedliche Koexistenz im Sinne eines unverbundenen Nebeneinanders unter einem gemeinsamen Label, ohne dass man sich wirklich etwas zu sagen hätte?
Es ist ganz sicher ein lohnenswertes Unterfangen, die Soziologie als einheitliche Disziplin zu bewahren. Dazu gehört dann halt m.E. auch, dass man an einem integrativen und auf kumulativen Erkenntnisfortschritt zielenden Theorieprogramm arbeitet, wobei Theorie als ein generalisierendes System von (in sich widerspruchsfreien und aúfeinander verweisenden) Aussagen über Strukturen und Mechanismen der sozialen Wirklichkeit zu verstehen sein wird, deren Bestandteile in einem möglichst objektiven, d.h. vom forschenden Subjekt unabhängigen, methodisch kontrollierten, sowie identisch reproduzierbaren Prozess der Datengewinnung und -analyse zu überprüfen und ggf. zu verwerfen sind. Dass dabei niemals die Theorie als Ganze überprüft werden kann, weil im Prozess der Überprüfung einzelner Bestandteile der Theorie andere Bestandteile vorläufig als gültig, weil bewährt, unterstellt werden müssen (das ist der gemeinsame Kern des „Protokollsatzproblems“ und der Duhem-Quine´schen Feststellung der Unterbestimmtheit der Theorie durch Beobachtungsdaten) führt keineswegs in die Abgründe eines methodischen „Anything goes“ oder des „Beobachterrelativismus“, sondern ist Ausweis dessen, dass in empirischen Wissenschaften keine Letztbegründung möglich ist, ein Sich-Annähern an die soziale Wirklichkeit aber freilich durchaus. Und wenn ich mich im Erkenntnisprozess an etwas annähern will, dann muss dasjenige, an das ich mich annähere, unabhängig von meinen Annäherungsversuchen bestehen, da es sonst gar nicht möglich wäre, den Grad der Annäherung festzustellen.
Empirisch (für Soziologen immer das „eating“ als „proof“ des „pudding“) zeigt sich in den Feldern, die ich etwas überblicken kann, etwa in der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Familiensoziologie, auch durchaus ein fortschreitendes Sich-Annähern an die soziale Wirklichkeit und damit ein fortschreitendes Wissen darüber, welche Mechanismen und Dynamiken in diesen institutionellen Bereichen am Werke sind. Und dabei greifen Fortschritte in der Theoriebildung und in der Datenerhebung und -auswertung ineinander, so dass auch eine gute Lehre dies Dinge niemals trennt.
Wenn es nun darum geht, die empirische Sozialforschung und die entsprechenden Methoden für Forschung und Lehre weiterzuentwickeln, gibt es ja u.a. in der DGS eine entsprechende Sektion „Methoden der empirischen Sozialforschung“ die „sich als Vertreterin sozialwissenschaftlicher Methoden in ihrer gesamten Bandbreite [versteht], eine institutionelle Heimat sowohl für qualitative als auch quantitative Forschung in Deutschland bieten [will] und einen konstruktiven fachlichen Austausch innerhalb und zwischen den jeweiligen Forschungsparadigmata befördern [will]“.
Lieber Alexander Schlager,
ich mische mich da auch noch mal in die ‚Tübinger Diskussion‘ ein:
Ich habe da ein paar Zweifel und Einwände: Sie sprechen von „einem integrativen und auf kumulativen Erkenntnisforschritt zielenden Theorieprogramm“ und zitieren quasi Lehrbuchdefinitionen eines ganz bestimmten Begriffs von Theorie. Ist das nicht wieder der hegemoniale Diskurs der analytischen Soziologie, die ihren und nur ihren Theoriebegriff gelten lassen will? Und ist bei der Annahme, dass es nicht nur so etwas gibt wie ein „generalisierendes System von in sich widerspruchsfreien und aufeinander verweisenden Aussagen“, sondern dass dieses System auch noch in der Lage ist, die Komplexität der sozialen Welt zu erklären, nicht doch etwas viel Wunschdenken dabei? Ich persönlich halte die Redeweise von „Mechanismen der sozialen Wirklichkeit“ für eine eher leichtfertig vereinfachende bloße Metapher für das Prozessieren von Sozialität. Die Rede von Mechanismen erklärt soziologisch gar nichts, verdeckt dafür aber vieles. Das Problem scheint mir darin zu liegen, dass Sie, wenn Sie den Kritischen Rationalismus kundig referieren, doch immer noch gar nichts über unseren spezifischen Gegenstand und unsere Positionierung ihm gegenüber gesagt haben. Warum muss etwas, dem ich mich (kognitiv, nicht räumlich!) annähern will, eigentlich in diesem absoluten Sinne unabhängig von mir und meinen „Annährungsversuchen“ bestehen? Sie wünschen sich eine Art archimedischen Punkt außerhalb aller Gesellschaftlichkeit, nur leider: Genau wie Archimedes werden auch Sie enttäuscht werden.
Was mich aber vor allem besorgt macht an Ihren Kommentar ist, dass Sie so, wie Sie über das Thema schreiben, im Grunde die Skepsis von Michael Hutzler über die Möglichkeit der Einheit unseres Faches bestätigen. Denn Sie behandeln ja Ihre Auffassung von Theorie, von Wissenschaft von Realität als gesetzt und alternativlos. Das ist, so wie ich es lese, auch das Programm der Akademie: Einheit um den Preis der Anerkennung der dort formulierten (engen) erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ausgangsbedingungen – die sich keinen Deut darum scheren, was ihr spezifischer Gegenstand ist. So kann eine Kirche funktionieren, auch eine Armee, aber keine Wissenschaft. Begriffe wie „Evidenz“, „Theorie“, „Realität“, „soziale Prozesse“ u.a.m. müssen diskursiv offen gehalten werden, nur dann können wir mit ihnen wissenschaftlich umgehen.
Und ein letztes noch: Ihr Optimismus, was die Breite und Offenheit der Sektion „Methoden der empirischen Sozialforschung“ betrifft (deren Mitglied ich bin), in allen Ehren, aber die mittlerweile über 15 Jahre, in denen ich die Arbeit dieser Sektion beobachten konnte, haben mir deutlich gezeigt, dass das ganz sicher nicht die „institutionelle Heimat“ auch für die „qualitative Forschung in Deutschland“ ist. Es ist ja genau dies der Grund, warum die DGS zu Zeiten des Vorsitzenden Karl-Siegbert Rehberg dem Antrag auf Umwandlung der ehemaligen AG für Qualitative Sozialforschung in eine eigene Sektion zugestimmt hat. Nein, dieses Feld ist nun auch institutionell so ausdifferenziert wie die Lehr- und Forschungsprogramme. Das ist auch gar nicht schlimm, zeigt sich darin doch nur, wie unser Fach sich entwickelt hat: Eben vielfältig und mit einem daran gewachsenem Leistungsvermögen. Schlimm ist nur, wenn man eine einheitsmethodische Fiktion um jeden Preis dem ganze Fach aufnötigen will.
Und im übrigen bin ich der Meinung, dass die Sektion „Methoden der empirischen Sozalforschung“ sich endlich ehrlich machen sollte, indem sie sich in „Sektion für standardisierte Sozialforschung“ umbenennt…
Einen schönen Abend noch!
Jörg Strübing
Lieber Alexander,
auf diese Auffassung von Wissenschaft wird man sich in der Soziologie nicht einigen können. Außer ein großer Teil des Faches soll sich selbst abschaffen.
Hier auch mal ein interessanter Vortrag von D. Kriesel über die Verwendung von „Big-Data“-erzeugten Metadaten am Beispiel von SPON-Artikelnj.
LG
https://www.youtube.com/watch?v=-YpwsdRKt8Q&t=3s
Herr Braunert,
das Video ist für mich ein gutes Beispiel dafür, dass Big Data-Korrelationen alleine noch gar nichts aussagen, sondern interpretiert werden müssen und man sich dieser Interpretationsleistung bewusst sein muss (und David Kriesel weist seine interpretative Folgerung nicht als solche aus, sondern tut so, als ob sie sich zwingend aus seiner Datenanaylse ergibt):
Dass man zu bestimmten Themen (etwa Israel, Terror, Flucht) in den SPON-Foren nicht posten kann, hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass sich hier besonders viele beleidigende und geschmacklose (teils auch strafrechtlich relevante; z.B. Holocaustleugung) Kommentare wiederfinden, denen man durch selektives Löschen kaum Herr werden kann. Hier von Zensur zu sprechen und gleichzeitig zu folgern „Russen-Bashing“ sei für die SPON-Redaktion in Ordnung (weil man zu Themen wie Krimannexion Kommentare posten kann), ist doch ein arger und tendenziöser Kurzschluss. Kriesels Interpretation ist eben auch durch seine eigene Brille bestimmt.
Differenziert hierzu:
http://www.ndr.de/nachrichten/netzwelt/Big-Data-Gefahren-fuer-Journalisten,spiegelmining104.html
Mit besten Grüßen
T. Röhl