Über den unverzichtbaren gesellschaftlichen Beitrag von Beschäftigten in der Krankenpflege, in der Altenpflege, in den Kitas wissen seit Corona nicht mehr nur feministische Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler Bescheid, die seit Jahren darüber forschen. Wer in der Pflege und im Gesundheitsbereich arbeitet, gilt inzwischen als ‚heldenhaft‘ und ‚systemrelevant‘. Diese Menschen werden vor den Krankenhäusern beklatscht, und man vermisst sie schmerzlich, wenn sie nicht zur Verfügung stehen.
Dagegen bleibt der gesellschaftliche Blick auf unbezahlte Care-Arbeiten und auf Care im Privatbereich insgesamt auch in Zeiten der Pandemie unscharf: Jenseits der Erwerbsarbeit scheint Care einfach und voraussetzungslos gegeben. Als die Bildungseinrichtungen, die Gastronomie, die Tagespflegeangebote heruntergefahren bzw. ganz geschlossen wurden, wurde angenommen, dass viele der dort erbrachten Leistungen ab sofort und fraglos in den Haushalten und von den Familien übernommen werden können. Irgendwie. Aber wie? Care privat, nicht nur innerhalb der Kernfamilien, sondern auch haushaltsübergreifend – für Großeltern, für alleinlebende alte Menschen, in der Nachbarschaft – schien so selbstverständlich wie frische Luft und sauberes Wasser. Inzwischen dürfte indes bekannt sein, dass die Ressourcen frische Luft und sauberes Wasser nicht ohne weiteres zu haben sind. Für Care zu Hause steht diese Erkenntnis noch aus: Auch 2020 verlässt man sich allgemein auf grenzenlose, weitgehend unsichtbare, private (und das bedeutet nicht nur, aber überwiegend) Leistungen von Frauen.
Geschlechtsspezifische Konsequenzen von COVID 19 für Care
Es geht manchmal zwei Schritte vor, einen Schritt zurück auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter, und seit der Pandemie gibt es offensichtlich wieder Rückschritte. Schon davor haben Frauen weltweit schätzungsweise drei Viertel der täglichen unbezahlten Arbeit verrichtet. Anita Bhatia von der zentralen Frauenorganisation der Vereinigten Nationen, UN Woman, sagte kürzlich in einem Interview: „If it was more than three times as much as men before the pandemic, I assure you that number has at least doubled (…) More alarming is the fact that many women are actually not going back to work. (…) In the month of September alone, in the US, something like 865,000 women dropped out of the labour force compared to 200,000 men, and most of that can be explained by the fact that there was a care burden and there’s nobody else around.” Zu befürchten sei, so Bhatia, dass alles, worauf Frauen viele Jahre hingearbeitet haben, in einem Jahr verloren gehen und es zu einem Comeback der Geschlechterstereotype der 1950er Jahre kommen könnte. Ähnlich schätzte Jutta Allmendinger (WZB) die gegenwärtige Lage ein, die im Mai 2020 eine ‚entsetzliche Retraditionalisierung‘ vorhersagte (siehe auch hier).
Die Ergebnisse neuerer empirischen Untersuchungen hinterfragen diese These einer umfassenden Retraditionalisierung und verweisen auf punktuelle Veränderungen der Rollenausfassungen bei anhaltender grundsätzlicher Ungleichheit im Zusammenhang mit häuslichem Care. Eher scheint es seit der Pandemie mehr Auseinandersetzungen in den Familien um Ressourcen und Zeit zu geben sowie auch einzelne Neuregelungen bei der Aufteilung familialen Arbeit. Eine gleiche Betroffenheit der Geschlechter durch häusliche Care-Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Erwerbsarbeit durch die Pandemie wird aber nirgends festgestellt. Hauptsächlich wird deutlich, dass in den Familien an die bereits davor existierende Mehrbelastung der Frauen angeknüpft wird, die sich aktuell verstärkt. Für eine genauere Einschätzung der gegenwärtigen Entwicklung wären hierzu detaillierte Untersuchungen nötig, die beispielsweise nach veränderten Anforderungen und Arbeitsbedingungen in einzelnen Berufen und ihren Konsequenzen für Care zu Hause differenzieren. Besonders interessant ist m.E. die Frage, wie stabil die gegenwärtigen Arrangements sein werden und welche Bedeutung dem Faktor Zeit beizumessen ist: Kommt es langfristig vielleicht zu einem ‚new normal‘, je länger die Belastungen und Veränderungen des Alltags durch die Pandemie anhalten?
Quelle: ForGenderCare
Care im Hintergrund als Voraussetzung von Berufsarbeit
Häusliche Care-Verpflichtungen können die Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben nicht nur einschränken oder sogar ganz verhindern. Care im Privaten ist eine unabdingbare Basis für die berufliche Arbeit. Wer im Lockdown versucht hat, im home office den Anforderungen von Beruf und Kinderversorgung oder Altenpflege im Alltag parallel gerecht zu werden, kann davon ein Lied singen. Nicht nur für Alleinstehende war und ist die Gleichzeitigkeit von Berufsarbeit zu Hause und häusliche Care-Arbeit eine nahezu unlösbare Aufgabe.
Nicht erst seit der Pandemie wird von Berufstätigen verlangt, dass sie sich während der Arbeitszeit ausschließlich auf ihre dortigen Aufgaben konzentrieren, und unausgesprochen wird vorausgesetzt, sie werden dabei von Care entlastet. Dies gilt umso mehr für Berufe, die zeitlich und örtlich entgrenzt sind und viel Flexibilität erfordern. Bereits 1980 hat Elisabeth Beck-Gernsheim für den Zusammenhang von Berufsarbeit und unsichtbarer Entlastung im Privaten den Begriff der ‚Ein-Einhalb-Berufe‘ geprägt, den man sich wieder in Erinnerung rufen könnte. Sie schrieb damals: „Die Berufsarbeit ist nach Quantität wie Qualität ihrer Anforderungen so organisiert, daß sie auf die Anforderungen der privaten Alltagsarbeit kaum Rücksicht nimmt; sie setzt damit stillschweigend voraus, daß der Berufstätige die Zuarbeiten und Hilfsdienste anderer Personen in Anspruch nehmen kann.“
Vor einer Generation war diese Person im Hintergrund idealtypisch die traditionelle Hausfrau, die es heute eher selten gibt, zumindest in der Reinform der ausschließlich und lebenslang als Haus- und Familienarbeitende. Veränderte Arbeitsteilungsmuster, die inzwischen stattgefunden haben, sind aber ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bilden sie die Voraussetzung für mehr Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben, andererseits hat die stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen auch neue Strukturen von Ungleichheit, von Über- und Unterordnung im Zusammenhang mit Care hervorbracht. Denn zur (keineswegs ganz verschwundenen) Arbeitsteilung nach Geschlecht kommen nun zusätzliche wichtige Dimensionen von Arbeitsteilung hinzu, etwa nach Klasse und Ethnie. Dabei ist wichtig zu betonen, dass dies keine individuell zu verantwortende Entwicklung ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines strukturellen Problems. Der vermehrten Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit und den damit aufgeworfenen Care-Lücken stehen nur notdürftige und partielle politische Reformen und Infrastrukturen gegenüber.
Wer wirkt heute im Hintergrund von Berufstätigen, wer ist für Care für die privaten Haushalte zuständig? Es sind inzwischen unterschiedliche Personen. Mittlerweile gibt es mehr institutionelle Unterstützung in der Kinderbetreuung, die in Deutschland auch in den alten Bundesländern für Kleinkinder ausgebaut und gesetzlich abgesichert wurde, und die dort Beschäftigten sind bekanntlich nahezu ausschließlich Frauen. Seit den 1980 Jahren spielt auch der größere Wohlstand eine Rolle. So hat der Markt einiges übernommen und Haushalte werden entlastet, wenn z.B. Essen fertig geliefert wird oder man öfter zum Essen gehen kann. Ohne Hilfe von Großeltern wird es dennoch für viele Familien mit Kindern mit der Berufstätigkeit schwierig, auch das wurde seit den Restriktionen wegen COVID 19 deutlich. Es ist zudem ein eher unsichtbarer, arbeits- und sozialrechtlich fragwürdiger Arbeitsmarkt in den privaten Haushalten entstanden, nicht nur aber vor allem in den zahlungskräftigen. Zum Beispiel macht eine Haushaltsarbeiterin, in der Regel eine Migrantin oder eine Frau mit Migrationshintergrund, die Wohnung sauber, auch für weniger begüterte alte Menschen, die Hausarbeit nicht selbst verrichten können. Auch reisen inzwischen zahlreiche sog. live-in Haushaltsarbeiterinnen vorwiegend aus Osteuropa an, um sich rund um die Uhr um pflegebedürftige Menschen zu kümmern. Wie unverzichtbar solche Arbeitskräfte sind, die für gewöhnlich gesellschaftlich im Schatten wirken, wurde schlagartig erkennbar, als viele der Frauen aus dem Ausland, die normalerweise als live-in Haushaltsarbeiterinnen arbeiten, wegen der gesetzlichen Beschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie nicht mehr ohne weiteres einreisen durften. Und die Männer von Paket-und Lieferdiensten bringen Lebensmittel, Bestellungen von Amazon und REWE u.a.m., ohne dass viel nach deren Lebens- und Arbeitsbedingungen gefragt wird. Nicht zufällig sind auch diese in der Regel Migranten.
Care-Konstellationen in der privaten Versorgung alter Menschen
Typisch für Care im Privatbereich ist die Kooperation mehrerer Akteurinnen und Akteure. In der Studie: ‚Care aus der Haushaltsperspektive. Das Beispiel der Pflege alter Menschen in der Großstadt‘[1] wurden komplexe Care-Konstellationen für pflegebedürftige betagte Menschen vorgefunden. Hier fanden sich Partner bzw. Partnerinnen und erwachsene Kinder (ob berufstätig oder selbst bereits im Rentenalter), weitere Familienangehörige, Personen aus dem Freundeskreis und aus der Nachbarschaft, Professionelle von Pflegediensten, für Physiotherapie, für Logopädie u.ä., punktuell arbeitende und/oder live-in Haushaltsarbeiterinnen, ehrenamtliche Seniorenhelferinnen und -helfer u.a.m.
Weder ergeben sich komplexe Care-Konstellationen von allein, noch ist die Umverteilung von Care im Privaten ein Nullsummenspiel, im Gegenteil. Kooperative Arbeitsteilungsmuster für Care-Aufgaben brauchen Aufmerksamkeit, Planung, Aushandeln, Organisation, Koordination, Justieren und Nacharbeit. Erforderlich ist Projektmanagement sowie ständiges ‚tinkering‘ in Haushalt und Familie, das bedeutet das ständig stattfindende Anpassen der vielen kleinen und großen Details alltagtäglicher Erledigungen und Zuständigkeiten.
Unverzichtbar ist zudem eine zentrale Person, nach Möglichkeit am Wohnort, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Im Einzelfall kann dies die Partnerin oder der Partner, die Tochter oder die Schwiegertochter, aber auch der Sohn sein. Die traditionelle Arbeitsteilung in Familien hatte immerhin den Vorteil, dass klar war, wer wofür zuständig war: Mit Niklas Luhmann gesprochen reduziert traditionelle Arbeitsteilung Komplexität. Ohne die klaren Zuständigkeiten traditioneller Arrangements ist das, was in den letzten Jahren als ‚cognitive labor‘ oder als ‘mental load‘ diskutiert wird, nicht einfacher geworden. Dies ist ein wichtiger Teil von Care, der weder sichtbar ist, geschweige denn verschwindet, auch wenn einzelne Handgriffe und Tätigkeitsbereiche delegiert werden.[2]
Foto: Gerd Mutz
Um sich das konkret vorstellen zu können, hierzu ein Beispiel für ‚cognitive labor‘ in Form von Fragen, die eine hauptverantwortliche Person für die Betreuung eines alten Menschen im Vorfeld einer typischen Care-Aufgabe zu bedenken hat: ein Arztbesuch der Mutter. Wer denkt an den Termin und wer vereinbart ihn? Ist er dringend oder kann man ihn noch aufschieben? Ist die Mutter für den Arztbesuch derzeit fit genug? Wann würde der Praxistermin mit ihren anderen Terminen und Vorhaben kollidieren, z.B. mit der Physiotherapie oder dem Besuch der Cousine? Braucht sie eine Begleitung zur Praxis, ist das nur ein Routine-Checkup oder geht es um etwas Größeres? Welche Auswirkungen hätte der Arzttermin für die eigenen Verpflichtungen, was ließe sich eventuell verschieben, was könnte delegiert werden? Was ändert sich, wenn zum gewünschten Zeitpunkt kein Termin frei ist? usw. usw.
Die Pandemie hat nicht nur in Care-Berufen, sondern auch bei privatem Care Veränderungen und damit oft auch die Intensivierung der Arbeit mit sich gebracht, wenn eingespielte Arrangements neu justiert werden müssen. Um in diesem Beispiel zu bleiben, können zusätzliche Fragen hinzukommen: Wäre der Gang zum Arzt mit der Ansteckungsgefahr gegenwärtig ratsam? Hat die Mutter die richtigen Masken oder muss man noch welche besorgen? Wo und wann und von wem werden sie besorgt, so dass sie rechtzeitig zur Verfügung stehen? Wie kommt die Mutter zur Praxis ohne den ÖVPN zu benutzen? Wer könnte sie hinfahren und/oder abholen? Wann wäre ein guter Zeitpunkt für den Fahrer/die Fahrerin? Es gibt ungezählte kleine und große Alltagsaufgaben und Fragen im Zusammenhang mit Care, und seit der Pandemie kommt Etliches hinzu.
Care zu Hause – systemrelevant?
Aktuell müssen in Deutschland nach Angaben des Robert Koch-Instituts etwa sechs Prozent der als von COVID 19 infiziert gemeldeten Personen in ein Krankenhaus, sind also so schwer erkrankt, dass sie stationär behandelt werden, in Österreich sind es zehn Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das, die überwiegende Mehrzahl der an Corona Infizierten erhalten bei Bedarf ambulante medizinische Hilfe, alltägliche Sorge und Pflege für sie finden zu Hause statt. In manchen Fällen handelt es sich um asymptomatisch Fälle oder die Krankheitsverläufe gehen glimpflich aus und erfordern wenig Unterstützung und Versorgung, in vielen aber nicht. Wie wird Care dann vom wem und mit welchen persönlichen Konsequenzen für die care giver verrichtet? Und wie gestaltet sich Care privat in der oft langwierigen Nachsorge für schwer erkrankte Patientinnen und Patienten im Anschluss an die Entlassung aus dem Krankenhaus bzw. der Reha? Das sind derzeit offene Fragen. Sicher ist nur, dass viel Care im Zusammenhang mit COVID 19 außerhalb der Kliniken stattfindet und dass die Menschen, die dies im Privatbereich verrichten, bisher unsichtbar bleiben und so gut wie nicht thematisiert werden – und schon gar nicht als heroisch. Offensichtlich gelten pflegende Angehörige, live-in bzw. stundenweise beschäftigte Haushaltsarbeiterinnen, ehrenamtlich Helfende, Unterstützende aus dem Freundeskreis und aus der Nachbarschaft bisher nicht als systemrelevant, selbst wenn sie vermutlich den größeren Anteil von Care im Alltag während der Pandemie übernommen haben und weiterhin übernehmen.
Es wird Zeit, ihren Beitrag zur Bewältigung der aktuellen Krise und für Care in den Haushalten generell in Öffentlichkeit und Politik angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Zunächst würde es darum gehen, die Leistungen der mit Care befassten Personen im Bereich des Privaten wahrzunehmen, anzuerkennen und zu enttrivialisieren. Und damit ist nicht gemeint, auch diese zu beklatschen oder von den Balkonen zu besingen. Anderes und weitaus mehr steht an: Die strukturellen und politischen Rahmenbedingungen müssen in diesem Teilbereich von Care als zentrale gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe in den Blick genommen werden (vgl. Gather 2020). Die vielfachen Erfahrungen während der Pandemie könnten hierfür eine Chance bieten, da viele Menschen die entscheidende Bedeutung von Care zu Hause durch die aktuellen Verwerfungen am eigenen Leib erleben. Die gegenwärtigen Erfahrungen zeigen wie in einem Brennglas: Care-Arbeit im Privaten ist eine unverzichtbare Grundlage von Ökonomie und Gesellschaft.
[1] Das Projekt fand im Rahmen des Bayerischen Forschungsverbunds ForGenderCare von 2015-2019 unter der Leitung von Birgit Erbe (Frauenakademie München e.V.), Gerd Mutz und mir (beide Hochschule München) statt. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen waren Maya Halatcheva-Trapp, Kathrin Roller und Sabrina Schmitt.
[2] Die Definition von Daminger (2019): “(…) cognitive labor entails anticipating needs, identifying options for filling them, making decisions, and monitoring progress “, vgl. Allison Daminger (2019) The Cognitive Dimension of Household Labor. In: American Sociological Review zit. nach https://doi.org/10.1177/0003122419859007 (Zugriff 2020-12-05)
Vielen Dank für diesen tollen Beitrag. Es ist vollkommen richtig, dass über den Tellerrand geschaut werden muss, da die Pflege nicht nur in Kliniken etc. durch Arbeitnehmer in FaBe Jobe oder FaGe Jobs stattfindet. Dies dürfte aber eine weitere Mammutaufgabe sein.